Russland: Die Rüstungsproduktion boomt, der Einzelhandel zieht kräftig an

A Spending Boom Fuels Russia’s Wartime Economy“. So überschrieb die „New York Times“ Ende Juli einen Artikel zur aktuellen Entwicklung der russischen Wirtschaft („ Ein Ausgaben-Boom treibt Russlands Kriegswirtschaft“). Das „Wall Street Journal“ verweist in einer Anfang August veröffentlichten Analyse auf Experten, die die Widerstandsfähigkeit der russischen Wirtschaft gegenüber den Sanktionen mit einer signifikanten Stimulierung durch Ausgaben der Regierung, dem Wandel zu einer „Kriegswirtschaft“ und einer beispiellosen Umorientierung des russischen Warenhandels auf Länder in Asien (vor allem China und Indien) erklären.

Die am 02. August vom Statistikamt Rosstat veröffentlichten Daten zur Konjunkturentwicklung im Juni zeigen aber, dass nicht nur höhere staatliche Ausgaben Russlands Wirtschaft antreiben. Bei kräftigen Zuwächsen der Reallöhne und der verfügbaren Einkommen hat sich im zweiten Quartal auch der reale Einzelhandelsumsatz kräftig erholt. Im Juni übertraf er sein im Vorjahr tief eingebrochenes Niveau um 10 Prozent.

Russlands gesamtwirtschaftliche Produktion ist nach ersten Schätzungen des russischen Wirtschaftsministeriums im Juni gegenüber Mai allerdings nicht weiter gewachsen. Das russische Statistikamt Rosstat hatte bereits Ende Juli mitgeteilt, dass die Industrieproduktion im Juni nach ersten Berechnungen saison- und kalenderbereinigt auf dem im Mai erreichten Stand stagnierte (siehe Ostexperte.de-Bericht).

Das Bruttoinlandsprodukt war im Juni 5,3 Prozent höher als vor einem Jahr

Die folgende Abbildung von „Trading Economics“ zeigt, dass die Produktion der russischen Wirtschaft im Juni nach ersten Berechnungen des Wirtschaftsministeriums 5,3 Prozent höher war als im Juni 2022. Nach dem Beginn des Ukraine-Krieges war die gesamtwirtschaftliche Produktion im zweiten Quartal 2022 tief eingebrochen.

 

Reales Bruttoinlandsprodukt
Veränderung gegenüber dem Vorjahr in Prozent

Trading Economics: Russian Economy Expands for 3rd Month, 02.08.23

 

Im Vergleich zum Vormonat Mai stagnierte das reale Bruttoinlandsprodukt im Juni 2023 saison- und kalenderbereinigt laut dem Wirtschaftsministerium jedoch fast (+ 0,04 Prozent). Im Mai war es gegenüber April noch um 1,4 Prozent gestiegen, berichtet Finmarket.ru.

Verarbeitendes Gewerbe und Bauwirtschaft wuchsen besonders stark

Im gesamten ersten Halbjahr 2023 wuchs das reale Bruttoinlandsprodukt im Vorjahresvergleich trotz eines Anstiegs im zweiten Quartal um 4,6 Prozent nur um 1,4 Prozent, weil es im ersten Quartal noch 1,8 Prozent niedriger war als vor einem Jahr. Das berichten Finmarket.ru und Kommersant.

Die Produktion vieler wichtiger Branchen stieg im ersten Halbjahr im Vorjahresvergleich. Besonders kräftig waren die Zuwächse in Bereichen des verarbeitenden Gewerbes, die auch Produkte für die Rüstungsindustrie herstellen (Maschinenbau, Metallurgie), und in der staatlich geförderten Bauwirtschaft.

 

Industrie insg.:          + 2,6 Prozent (Juni: + 6,5 Prozent)

darunter:

Bergbau:                    – 1,2 Prozent (Juni: – 1,7 Prozent)

Verarb. Gewerbe:     + 6,2 Prozent (Juni: + 13,1 Prozent)

darunter:

Maschinenbau:       + 14,1 Prozent (Juni: + 40,2 Prozent)

Metallurgie:              + 11,0 Prozent (Juni: + 17,7 Prozent)

Bauwirtschaft:           + 9,2 Prozent (Juni: + 10,0 Prozent)

Landwirtschaft:         + 2,9 Prozent (Juni: + 2,6 Prozent)

Warentransport

ohne Pipelines:         + 1,8 Prozent (Juni: + 1,8 Prozent)

 Einzelhandel: + 1,1 Prozent (Juni: + 10,0 Prozent)

Großhandel:             + 0,4 Prozent (Juni: + 18,8 Prozent)

Krieg und Wiederaufbau stimulieren auch Bauwirtschaft und Einzelhandel

Michael Rochlitz, Professor für Volkswirtschaftslehre an der Universität Bremen, meinte gegenüber der Tagesschau, dass sich die russische Wirtschaft sehr stark auf den Krieg ausgerichtet habe.  Zum kräftigen Wachstum der Bauwirtschaft (+ 9,2 Prozent im ersten Halbjahr) merkte er an: „In den von Russland besetzten Gebieten wird sehr viel investiert, um Straßen zu reparieren und zerstörte Gebäude wieder aufzubauen.”

Auch die Entwicklung des Einzelhandels werde vom Krieg beeinflusst. Denn sowohl die Soldaten als auch etwa die Arbeiter in den Rüstungsfabriken erhielten verhältnismäßig hohe Löhne. Rochlitz: „Dieses Geld kommt wiederum dem Einzelhandel in den Regionen zugute, in denen sich die Soldaten und Fabriken befinden.“ (Ausführlich äußerte sich Prof. Rochlitz zu den Auswirkungen des Krieges auf die russische Wirtschaft im Podcast „Zaren, Daten, Fakten“ der Deutsch-Russischen Auslandshandelskammer am 28.06.2023).

Gleichzeitig gibt es, so die Tagesschau, in vielen anderen Bereichen aufgrund der Sanktionen starke Einbrüche der Produktion. So sei unter anderem die Automobilproduktion um mehr als 50 Prozent zurückgegangen, die Produktion pharmazeutischer Produkte um mehr als 40 Prozent.

Reuters: Die für 2023 geplanten Rüstungsausgaben wurden verdoppelt

Laut einem Reuters-Bericht hat die russische Regierung die für „Nationale Verteidigung“ im Jahr 2023 vorgesehenen Ausgaben jetzt auf über 100 Milliarden US-Dollar verdoppelt. Gemäß dem neuen Haushaltsplan werden die Rüstungsausgaben mit 9,7 Billionen Rubel in diesem Jahr rund 33 Prozent aller öffentlichen Ausgaben (29,05 Billionen Rubel) beanspruchen.

Die bisher für das gesamte Jahr 2023 vorgesehenen Rüstungsausgaben (rund 54 Milliarden US-Dollar) sind, so Reuters, bereits im ersten Halbjahr 2023 um rund 12 Prozent überschritten worden. Die Rüstungsausgaben machten im ersten Halbjahr mit 5,6 Billionen Rubel rund 37 Prozent aller Ausgaben aus. Für „Nationale Verteidigung“ vorgesehen waren im bisherigen Haushaltsplan nur rund 17 Prozent.

Von den im neuen Haushaltsplan für das Jahr 2023 vorgesehenen Rüstungsausgaben (9,7 Billionen Rubel) wurden im ersten Halbjahr 2023 bereits rund 57 Prozent ausgegeben.

Höhere Rüstungsausgaben treiben das Wachstum im Verarbeitenden Gewerbe

BOFIT, das Forschungsinstitut der finnischen Zentralbank, gibt in seinem am Freitag veröffentlichten Wochenbericht einige Hinweise, wie stark die Rüstungsausgaben zum Wachstum im Verarbeitenden Gewerbe beitragen.

Das Institut schätzt, dass das jährliche Wachstum im Verarbeitenden Gewerbe im ersten Halbjahr von gut 6 Prozent „zu fast drei Vierteln“ aus folgenden vier Branchen stammt, die von höheren Militärausgaben profitieren:

  • Herstellung von Metall-Produkten (Metal Products),
  • Computer, elektronische und optische Geräte (Computers, electronics and optical devices)
  • Elektrische Maschinen und Geräte (Electrical maschinery & equipment)
  • Herstellung anderer Fahrzeuge als Automobile (Vehicles other than automobiles)

Die folgende Abbildung zeigt die Entwicklung der Produktion dieser vier Branchen im Vergleich mit der Gesamtentwicklung der Produktion im Verarbeitenden Gewerbe (Total manufacturing). Dargestellt ist für jeden Monat die Veränderung der realen Produktion in den jeweils letzten 12 Monaten im Vergleich zum jeweiligen Vorjahreszeitraum in Prozent.

Am stärksten stieg zuletzt die Herstellung von Metall-Produkten (rote Linie). Sie war im Zeitraum Juni 2022 bis Juni 2023 rund 20 Prozent höher als im Zeitraum Juni 2021 bis Juni 2022 (siehe linke Skala).

The increase in manufacturing output in Russia has been led by metal products and certain branches of the machinery & equipment industry

 

BOFIT: Russian production and imports recovered, government still posts large deficit,  04.08.23

 

Das Wachstum des Einzelhandels beschleunigte sich im Juni auf 10 Prozent

Wie die folgende Abbildung zeigt, übertrifft der reale Einzelhandelsumsatz in Russland sein Vorjahresniveau seit April. Im Juni war er 10 Prozent höher als vor einem Jahr.

 

Realer Einzelhandelsumsatz

Veränderung gegenüber Vorjahresmonat in Prozent

Trading Economics: Russia Retail Sales Growth Above Forecasts, 02.08.23

 

Das Forschungsinstitut der Wneschekonombank vergleicht in der folgenden Abbildung die Entwicklung der Reallöhne (graue Linie) mit der Entwicklung des realen Einzelhandelsumsatzes (schwarze Linie) und der Entwicklung des realen Umsatzes mit Dienstleistungen für die privaten Haushalte (dunkelgrüne Linie).

Der reale Einzelhandelsumsatz erholte sich im Juni gegenüber dem Vormonat Mai saison- und kalenderbereinigt nach ersten Berechnungen des VEB-Instituts kräftig weiter um 0,8 Prozent. Im Mai 2023 (+ 1,1 Prozent gegenüber April) und April 2023 (+ 1,2 Prozent gegenüber März) war er noch etwas stärker gestiegen. Trotz der raschen Erholung im Verlauf des ersten Halbjahres 2023 ist der reale Einzelhandelsumsatz aber noch deutlich niedriger als am Jahresanfang 2022 vor dem Beginn des Ukraine-Krieges.

 

Der reale Umsatz mit Dienstleistungen für private Haushalte sank im Juni gegenüber Mai hingegen um 0,7 Prozent. Er war im Mai gegenüber dem Vormonat noch um 1,0 Prozent gestiegen. Anders als der Einzelhandel hat der Dienstleistungsbereich aber schon im Verlauf des zweiten Halbjahres 2022 seinen Rückgang nach dem Beginn des Ukraine-Krieges aufgeholt.

 

Reallöhne und realer Umsatz im Einzelhandel und mit Dienstleistungen
(Januar 2014 = 100)

VEB-Institut: World Economy and Markets Review, 04.08.23

 

Die Reallöhne waren im Mai 13,3 Prozent höher als vor einem Jahr

Hintergrund für den Anstieg des realen Einzelhandelsumsatzes (schwarze Linie) ist der Anstieg der Reallöhne (graue Linie) und des real verfügbaren Einkommens der Bevölkerung.

Die Reallöhne stiegen im Mai (Juni noch nicht verfügbar) um 2,3 Prozent gegenüber dem Vormonat. Sie waren 13,3 Prozent höher als vor einem Jahr.

Die real verfügbaren Einkommen waren im zweiten Quartal 5,3 Prozent höher

Die Entwicklung der real verfügbaren Einkommen ermittelt Rosstat vierteljährlich. Im ersten Quartal 2023 stiegen sie nach revidierten Rosstat-Angaben im Vorjahresvergleich um 4,4 Prozent und im zweiten Quartal 2023 um 5,3 Prozent. RBC.ru veröffentlichte dazu folgende Abbildung:

 

Real verfügbares Einkommen

Veränderung ggü. Vorjahr in Prozent

RBC.ru; Ivan Tkachev: Rosstat announced a jump in incomes of Russians and a record growth in wages for 15 years, 02.08.23

 

Gegenüber dem Vorquartal sind die real verfügbaren Einkommen nach Schätzung des VEB-Instituts im ersten Quartal saison- und kalenderbereinigt um 3,5 Prozent gestiegen und im zweiten Quartal 2023 um 1,2 Prozent.

Die folgende Abbildung des VEB-Instituts zeigt die starke Erholung der real verfügbaren Einkommen seit dem dritten Quartal 2022. Die real verfügbaren Einkommen sind aber noch rund 1 Prozent niedriger als vor 9 Jahren.

Real verfügbare Einkommen (4. Quartal 2013 = 100)

VEB-Institut: World Economy and Markets Review, 04.08.23

 

VEB-Institut: Die Erholung des Bruttoinlandsprodukts flaute im Juni ab

Laut den Schätzungen des VEB-Instituts, die von den ersten Berechnungen des Wirtschaftsministeriums etwas abweichen, kam die Erholung der gesamtwirtschaftlichen Produktion im Juni fast zum Stillstand. Nachdem das reale Bruttoinlandsprodukt im Mai saison- und kalenderbereinigt gegenüber dem Vormonat noch kräftig gestiegen war (+ 1,1 Prozent) nahm es im Juni gegenüber Mai nur noch um 0,1 Prozent zu.

Index des realen Bruttoinlandsprodukts (Jan. 2014 = 100)

VEB-Institut: World Economy and Markets Review, 04.08.23

Beiträge zum Wachstum des Bruttoinlandsprodukts im Juni gegenüber Mai kamen vom Bereich „Bergbau/Förderung von Rohstoffen“, der Landwirtschaft sowie dem Groß-  und Einzelhandel. Gesunken ist die Produktion hingegen in den Bereichen Baugewerbe, Verarbeitendes Gewerbe, Dienstleistungen, Gastronomie, Personenverkehr sowie im Bereich der Produktion und Verteilung von Strom, Gas und Wasser.

Einkaufsmanager-Indizes hielten sich über der „Wachstumsschwelle“

Die Entwicklung der von „S&P Global“ durch Befragung von Unternehmen in Russland im Juli ermittelten „Einkaufsmanager-Indizes“ signalisiert ein weiteres Wachstum der russischen Wirtschaft (siehe folgende Abbildung).

Im „Verarbeitenden Gewerbe“ sank der Index zwar von 52,6 Indexpunkten im Juni auf 52,1 Index-Punkte im Juli (orange Linie). Im Dienstleistungsbereich fiel der Index gleichzeitig von 56,8 auf 54,0 Punkte (blaue Linie). Beide Indizes blieben damit aber über der „Wachstumsschwelle“ von 50 Punkten. Ihr Überschreiten zeigt eine Zunahme der Geschäftsaktivitäten.

 

Entwicklung der Einkaufsmanager-Indizes
Orange Linie: Verarbeitendes Gewerbe; Blaue Linie: Dienstleistungen

VEB-Institut: World Economy and Markets Review, 04.08.23

 

Wachstumsprognosen für Russland weiter gestiegen

Der Internationale Währungsfonds hat seine Prognose für das Wachstum der russischen Wirtschaft im Jahr 2023 im Update seines „World Econoic Outlook“ am 25. Juli auf 1,5 Prozent angehoben. Etliche andere Prognosen wurden auch erhöht.

Der Durchschnitt der Prognosen bei der Umfrage des Moskauer Reuters-Büros stieg von 1,2 Prozent Ende Juni auf 2,0 Prozent Ende Juli. Der Sber-Konzern, zu dem die größte russische Bank gehört, erwartet für 2023 jetzt ein Wachstum der russischen Wirtschaft von 1,8 Prozent (bisher: + 1,0 Prozent).

Demgegenüber stieg die durchschnittliche Prognose, die vom in Barcelona ansässigen Research-Unternehmen FocusEconomics bei fast ausschließlich nicht-russischen Banken und Instituten im Juli erfasst wurde, lediglich um 0,2 Prozentpunkte auf 0,2 Prozent. Das britische Research-Unternehmen „Consensus Economics“ ermittelte im Juli laut „New York Times“ für Russlands Wirtschaft eine durchschnittliche Wachstumsprognose von 0,7 Prozent für das Jahr 2023.

BIP-Prognosen 2023 und 2024

Veränderung des realen Bruttoinlandsprodukts gegenüber dem Vorjahr in Prozent

 

Ostexperte.de-Artikel zu Konjunktur und Wirtschaftspolitik in Russland von Klaus Dormann:

Weitere Lesetipps und Quellen im PDF-Dokument, unter anderem zu:

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