Russlands Regierung erwartet noch mehr Wachstum als der IWF

Am Freitag präzisierte Russlands Wirtschaftsminister Maxim Reschetnikow die Erwartungen seines Ministeriums zur Erholung der russischen Wirtschaft.

Bisher hatte Reschetnikow nur erkennen lassen, dass im laufenden Jahr mit einem realen Wachstum der gesamtwirtschaftlichen Produktion und der Anlageinvestitionen gerechnet werde. Jetzt teilte er mit, dass 2023 ein Anstieg des Bruttoinlandsprodukts von 1,2 Prozent erwartet werde. Im nächsten Jahr soll sich das Wirtschaftswachstum auf 2,0 Prozent beschleunigen. Damit wäre der Rückgang der gesamtwirtschaftlichen Produktion im letzten Jahr um 2,1 Prozent nach rund eineinhalb Jahren aufgeholt.

Ähnlich positive Prognosen veröffentlichte am Freitag auch das Forschungsinstitut der staatlichen Wneschekonombank (Bank für Außenwirtschaft). Es rechnet jetzt für 2023 mit 0,8 Prozent Wirtschaftswachstum und erwartet für 2024 einen weiteren Anstieg des Bruttoinlandsprodukts von 2,2 Prozent. Vor knapp einem Monat hatte das VEB-Institut noch prognostiziert, die gesamtwirtschaftliche Produktion werde 2023 um 0,5 Prozent sinken.

Folgt der „Konsens“ der Analysten den Wachstumsprognosen?

Die russische Zentralbank führt im Vorfeld ihrer für den 28.April geplanten Leitzinsentscheidung derzeit wieder eine Konjunktur-Umfrage bei Banken und Forschungsinstituten durch. Ihre Ergebnisse sollen am 20. April veröffentlicht werden. Bei der letzten Umfrage Anfang März ergab sich noch, dass die Analysten im Mittelwert für 2023 einen weiteren Rückgang des Bruttoinlandsprodukts von 1,1 Prozent erwarteten.

Die Prognosen bei der aktuellen Umfrage dürften wohl eher auf eine Stagnation der Produktion im laufenden Jahr hindeuten. Schließlich erwartet jetzt auch die Weltbank in diesem Jahr nur noch einen BIP-Rückgang um 0,2 Prozent und der Internationale Währungsfonds rechnet inzwischen sogar mit einem Wachstum von 0,7 Prozent (siehe Ostexperte-Bericht).

BIP-Prognosen 2022 bis 2024

Veränderung des realen Bruttoinlandsprodukts gegenüber dem Vorjahr in Prozent

Was Russlands Wirtschaftsministerium erwartet

Über die neuen Prognosen des russischen Wirtschaftsministeriums, die nach Abstimmung innerhalb der Regierung der Haushaltsplanung dienen sollen, berichtete Vedomosti ausführlich. Nachstehend eine Zusammenfassung:

„Die Wirtschaft erholt sich weiter. Wir schätzen die BIP-Wachstumsrate in diesem Jahr auf 1,2 Prozent. Bis 2026 wird sie sich auf fast 3 Prozent beschleunigen“ sagte Minister Reschetnikow bei der Vorstellung der Prognosen. 2024 erwartet das Wirtschaftsministerium ein Anziehen der Wachstumsrate auf 2,0 Prozent, 2025 auf 2,6 Prozent und 2026 auf 2,8 Prozent.

Zu Beginn des Jahres 2023 sei das Bruttoinlandsprodukt saisonbereinigt weiter gewachsen, teilte das Wirtschaftsministerium mit. Auch die Verbrauchernachfrage habe angezogen.

Die Erholung der Verbrauchernachfrage wird zum Wachstumsmotor

Den Hauptbeitrag zum diesjährigen Wirtschaftswachstum erwartet der Minister bei steigenden Einkommen von der Erholung der Verbrauchernachfrage. Die real verfügbaren Einkommen der Bevölkerung sollen 2023 um 3,4 Prozent steigen. Zum Anstieg des privaten Verbrauchs werde auch die „Normalisierung“ der Sparneigung der Bevölkerung und eine verstärkte Aufnahme von Verbraucherkrediten beitragen.

Der reale Einzelhandelsumsatz wird in diesem Jahr laut dem Ministerium um 5,3 Prozent steigen. Das reale Umsatzwachstum bei Dienstleistungen wird auf 3,5 Prozent veranschlagt.

Weitere Motoren der Erholung der Wirtschaft werden nach Einschätzung des Ministeriums neben der Bauwirtschaft vor allem Wirtschaftszweige sein, die auf die Deckung der Binnennachfrage ausgerichtet sind und mit ihren Produkten sanktionierte Einfuhren nach Russland ersetzen können.

Die landwirtschaftliche Produktion werde in diesem Jahr im Vergleich mit der Rekordernte im vergangenen Jahr zwar um 3,4 Prozent zurückgehen. Ab 2024 rechnet das Ministerium aber mit einem jährlichen Wachstum der Agrarproduktion von rund 2 Prozent.

Kräftig steigende Reallöhne bei deutlich sinkender Inflation

Wirtschaftsminister Reschetnikow meinte bei der Vorstellung der Prognosen, dass die Reallöhne in diesem Jahr um 5,4 Prozent steigen werden. Das liege auch an der sinkenden Inflation.

Im März 2023 ist der Anstieg der Verbraucherpreise im Vergleich zum Vorjahresmonat auf 3,5 Prozent gesunken. Bis zum Jahresende ist laut dem Ministerium zwar mit einem erneuten Anziehen der Inflationsrate zu rechnen. Der jährliche Anstieg der Verbraucherpreise werde im Dezember 2023 mit 5,3 Prozent aber nur knapp halb so hoch sein wie ein Jahr zuvor (Dez. 2022: 11,9 Prozent). Bis Ende 2024 erwartet das Ministerium dann einen Rückgang der Inflationsrate auf das von der Zentralbank angestrebte Ziel von 4 Prozent.

Sehr niedrige Arbeitslosigkeit

Die Arbeitslosenquote wird nach Schätzungen des Ministeriums bis 2026 auf einem Rekordtief von 3,5 Prozent bleiben. Das berichtet Reuters. Zur Einschätzung der Entwicklung des russischen Arbeitsmarktes durch das Ministerium heißt es im Handelsblatt:

„Die Zahl der Erwerbslosen bleibt demnach auf sehr niedrigem Niveau.Tatsächlich ist die Arbeitslosigkeit in Russland derzeit offiziell auf niedrigem Stand. Das hat allerdings damit zu tun, dass es einerseits kaum soziale Unterstützung gibt und sich so generell weniger Russen arbeitslos melden als in westeuropäischen Ländern. Zum anderen haben nach dem Beginn des Angriffskriegs gegen die Ukraine geschätzt mehr als eine Million Russen den Arbeitsmarkt verlassen, weil sie an die Front versetzt wurden oder außer Landes gingen.“

Das Wachstum der Anlageinvestitionen verlangsamt sich 2023 vorübergehend

Das Wachstum der Anlageinvestitionen hat im Jahr 2022 trotz der Rezession 4,6 Prozent erreicht. Nach Angaben des Ministers war dieses Wachstum vor allem erhöhten öffentlichen Ausgaben zu verdanken. 2023 werde sich das Wachstum der Anlageinvestitionen auf 0,5 Prozent verlangsamen. In diesem Jahr solle es von privaten Unternehmen getragen werden.

Das Wachstum der Anlageinvestitionen wird sich in den nächsten Jahren laut dem Ministerium aber wieder beschleunigen:  2024 auf 3,2 Prozent, 2025 auf 3,7 Prozent, 2026 auf 4,5 Prozent. Der Hauptbeitrag zum Wachstum der Investitionen werde vom Bereich „Transport- und Logistik“ kommen. Die Umstrukturierung der Infrastruktur in Richtung „befreundeter Länder“ werde hohe Investitionen erfordern.

Außenhandel: Langsame Erholung der Exporterlöse bei sinkenden Brent-Preisen

2022 sind Russlands Exporterlöse bei stark gestiegenen Rohstoffpreisen nach Angaben der Zollbehörde um rund 20 Prozent auf 592 Milliarden US-Dollar gewachsen. Russlands Wirtschaftsministerium erwartet 2023 einen Einbruch der Exporterlöse um rund 21 Prozent auf rund 466 Milliarden US-Dollar. Dabei sei ein mengenmäßiger Rückgang der Öl- und Gasexporte möglich. Russland habe eine freiwillige Reduzierung der Ölförderung angekündigt.

Bis 2026 rechnet das Ministerium mit einer Erholung der Exporterlöse auf rund 505 Milliarden US-Dollar. Dabei erwartet es einen Rückgang des Brent-Ölpreises von 80,7 Dollar/Barrel im Jahr 2023 auf 70,6 Dollar/Barrel im Jahr 2026.

Die Ausgaben für Importe werden nach den Erwartungen des Ministeriums von rund 314 Milliarden US-Dollar im Jahr 2023 auf rund 363 Milliarden US-Dollar im Jahr 2026 steigen.

2023 halbiert sich Leistungsbilanzüberschuss, der Rubel wertet ab

Reuters berichtet zur diesjährigen Entwicklung von Leistungsbilanz und Wechselkurs laut den Prognosen des Wirtschaftsministeriums:

„Russlands Leistungsbilanzüberschuss schrumpft stark und ist im ersten Quartal 2023 um rund 73 % gesunken. Stark steigende Öl- und Gasexporterlöse hatten zusammen mit einbrechenden Importen den Überschuss im Jahr 2022 auf ein Rekordhoch getrieben.

Das Ministerium halbierte seine Prognose für den Leistungsbilanzüberschuss im Jahr 2023 von zuvor 157,6 Milliarden US-Dollar auf 86,6 Milliarden US-Dollar fast und senkte seine Handelsbilanzprognose um rund ein Drittel auf 152,1 Milliarden US-Dollar. …

Der Rubel ist seit Jahresbeginn um etwa 10 % gefallen, die drittschlechteste Performance unter den globalen Währungen in diesem Jahr. Er steht unter dem Druck der vom Westen verhängten Ölpreisobergrenze und der schrumpfenden Exporteinnahmen. Das Wirtschaftsministerium senkte seine Prognose für den Rubelkurs im Jahr 2023 von 68,3 Rubel je Dollar in der bisherigen Prognose auf 76,5 Rubel je Dollar. “

VEB-Institut: Im Jahresvergleich 2023/2022 wächst das BIP um 0,8 Prozent

Wie das Wirtschaftsministerium veröffentlichte auch das Forschungsinstitut der staatlichen „Wneschekonombank“ am 14. April neue Prognosen zur Entwicklung der russischen Wirtschaft. Es aktualisierte damit seine Prognosen vom 27. März. Andrei Klepach, Chefvolkswirt der Wneschekonombank seit Juli 2014, war zuvor Stellvertretender Wirtschaftsminister und Leiter der Prognoseabteilung des Wirtschaftsministeriums.

Die folgende Abbildung aus der reich illustrierten Prognose des VEB-Instituts zeigt, dass sich Russlands Bruttoinlandsprodukt von seinem tiefen Einbruch im Frühjahr 2022 bis Ende 2022 saisonbereinigt merklich erholt hat.

Index des realen Bruttoinlandsprodukts, saisonbereinigt (2010=100)

VEB Institute: Forecast for the development of the Russian economy for 2023 and prospects for 2024-2026, 14.04.2023

Im Verlauf des Jahres 2023 rechnet das Institut aber mit einer annähernden Stagnation des saisonbereinigten realen Bruttoinlandsprodukts. Laut einer Tabelle erwartet es, dass das BIP im ersten und zweiten Quartal im Vergleich zum Vorquartal nur um 0,1 Prozent steigt und im dritten Quartal auf dem Niveau des zweiten Quartals stagniert. Erst im vierten Quartal 2023 erwartet das Institut ein etwas stärkeres Wachstum von 0,2 Prozent gegenüber dem Vorquartal.

Im Jahresvergleich 2023/2022 wird sich bei dieser Entwicklung aber ein Anstieg des realen Bruttoinlandsprodukts um 0,8 Prozent ergeben. Das VEB-Institut verweist jedoch auf hohe Risiken für diese Prognose. Die Exporte könnten stärker als erwartet sinken. Die Sparneigung der Bevölkerung könnte hoch bleiben. Ende März hatte das VEB-Institut für 2023 noch einen Rückgang des Bruttoinlandsprodukts um 0,5 Prozent erwartet.

Prognosen des VEB-Instituts bis 2026

Das VEB-Institut erweiterte den Zeitraum seiner Prognosen für die Entwicklung wichtiger volkswirtschaftlicher Indikatoren jetzt auf das Jahr 2026 (siehe folgende Tabelle).

Prognosen volkswirtschaftlicher Indikatoren bis 2026

VEB Institute: Forecast for the development of the Russian economy for 2023 and prospects for 2024-2026, 14.04.2023

Für das Jahr 2023 erwartet das VEB-Institut unter anderem:

Das reale BruttoinIandsprodukt wird 2023 um 0,8 Prozent steigen (zweite Zeile). Dabei geht das Institut jetzt von einem Anstieg der Anlageinvestitionen um 2,2 Prozent aus (dritte Zeile). Im März hatte es noch einen Rückgang um 2,7 Prozent erwartet.

Der Einbruch des realen Einzelhandelsumsatzes im Jahr 2022 um 6,7 Prozent wird 2023 mit einem Anstieg um 4,5 Prozent zu rund zwei Dritteln ausgeglichen (vierte Zeile). Der reale Umsatz im Dienstleistungsbereich setzt das bereits im Jahr 2022 erreichte reale Wachstum (+3,6 Prozent) im Jahr 2023 leicht beschleunigt fort (+3.8 Prozent).

Der Rückgang der real verfügbaren Einkommen der Bevölkerung im Jahr 2022 konnte trotz hoher Inflation auf 1,0 Prozent begrenzt werden. Der für 2023 jetzt erwartete Anstieg der Einkommen um 3,1 Prozent sorgt in diesem Jahr für rund 2 Prozent höhere Einkommen als 2021 (fünfte Zeile).

Der Anstieg der Verbraucherpreise wird am Jahresende 2023 bei 5,7 Prozent liegen und damit nur noch knapp halb so hoch sein wie Ende 2022 (sechste Zeile).

In den Jahren 2024 bis 2026 wird sich das Wirtschaftswachstum nach Einschätzung des Instituts auf rund 2 Prozent pro Jahr beschleunigen.

Das Institut betont am Schluss seiner Prognose aber, dass auch ein höheres Wachstum erreicht werden könne, wenn Regierung und Zentralbank eine „aktivere Makropolitik“ verfolgen würden. Die russische Wirtschaft dürfte bei einer „aggressiveren Geldpolitik“ ein jährliches Wachstum von 3,5 bis 4 Prozent in den Jahren 2024 bis 2026 erreichen. Dazu müsste der Leitzins gesenkt werden, die Kredithilfen für führende Banken und Entwicklungsinstitutionen müssten ausgeweitet werden und es müsste ein effektives Internationales Zahlungssystem außerhalb des Dollar- und Euro-Raumes geschaffen werden. 

Russlands Exporterlöse sinken 2023 um ein Fünftel

Das VEB-Institut wagt auch eine Prognose der voraussichtlichen Entwicklung der Erlöse Russlands aus dem Energieexport. Die folgende Abbildung vergleicht die vierteljährliche Entwicklung der Energieexporterlöse (schwarze Linie) mit der vierteljährlichen Entwicklung der gesamten Exporterlöse (grüne Linie).

Vierteljährliche Ausfuhrerlöse Russlands in Mrd. US-Dollar
grüne Linie: Exporterlöse insgesamt; schwarze Linie: Energieerlöse

VEB Institute: Forecast for the development of the Russian economy for 2023 and prospects for 2024-2026, 14.04.2023

Im Gesamtjahr 2023 werden die gesamten Exporterlöse Russlands um rund 20 Prozent von 588 Milliarden US-Dollar auf 468 Mrd. US-Dollar sinken.

Die Erlöse Russlands aus dem Export von Energieträgern werden laut der Prognose überdurchschnittlich stark um rund 30 Prozent abnehmen. Das Institut erwartet, dass der Erlös aus den Ausfuhren der russischen Energiewirtschaft von 339 Mrd. US-Dollar im Jahr 2022 auf 236 Mrd. US-Dollar im Jahr 2023 sinkt, knapp unter das Niveau des Jahres 2021 (244 Mrd. US-Dollar).

Das VEB-Institut geht dabei von einem Rückgang des durchschnittlichen Exportpreises von russischem Öl um rund 16 Prozent von 79 Dollar/Barrel im Jahr 2022 auf 66 Dollar/Barrel im Jahr 2023 aus.

Der Energieanteil an den Ausfuhrerlösen sinkt auf 50 Prozent

Der Anteil der Ausfuhrerlöse von Energieträgern an den gesamten Ausfuhrerlösen Russlands wird laut VEB-Prognose damit von rund 58 Prozent im Jahr 2022 auf rund 50 Prozent im Jahr 2023 sinken.

Beim folgenden Anstieg der Energieexporterlöse bis zum Jahr 2026 auf rund 264 Mrd. US-Dollar erwartet das Institut eine leichte Erholung des Anteils der Energieexporte auf 51 der gesamten Exporterlöse.

Ostexperte.de-Artikel zu Konjunktur und Wirtschaftspolitik in Russland von Klaus Dormann:

IWF und Weltbank erhöhen ihre BIP-Prognosen für Russland, 14.04.23

Russlands Konjunktur: Rückblick und Ausblick, 07.04.23

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