Russlands Wirtschaft: Erholung dauert mindestens bis Ende 2025

Szenarien der Regierung und Prognosen der Zentralbank

Eine „sehr schwierige Zeit“ wird Russlands Wirtschaft in den nächsten anderthalb bis zwei Jahren durchlaufen, warnte letzte Woche Alexej Kudrin, Präsident des russischen Rechnungshofes. Ein Ausblick auf die baldige Rezessionsprognose“ der russichen Regierung.

Der langjährige frühere Finanzminister bezog sich auf Szenarien des Ministeriums für wirtschaftliche Entwicklung zur erwarteten tiefen Rezession. Schon im „Basis-Szenario“ der Regierung wird das Bruttoinlandsprodukt 2022 um 8,8 Prozent schrumpfen. Und es dürfte mindestens 4 Jahre dauern, bis die gesamtwirtschaftliche Produktion wieder das Niveau des Jahres 2021 erreicht.

Erste Anzeichen für den Abschwung kann man aus den für März ermittelten Konjunkturdaten ablesen. Nach Schätzung des Wirtschaftsministeriums war das Bruttoinlandsprodukt im März nur noch 1,6 Prozent höher als vor einem Jahr. Im Februar war es im Vorjahresvergleich noch um 4,3 Prozent gestiegen.

Szenarien der Regierung für den Rezessionsverlauf

Die Wirtschaftszeitung Vedomosti berichtete am 26. April über Beratungen der Regierung zu Entwürfen des Wirtschaftsministeriums zur Planung der sozio-ökonomischen Entwicklung. Zwei Szenarien sollen jetzt innerhalb von 2 Wochen fertiggestellt werden.

Im Entwurf des „Basis-Szenarios“ wird davon ausgegangen, dass das Bruttoinlandsprodukt im Jahr 2022 um 8,8 Prozent sinkt. Der Einbruch der russischen Wirtschaft wäre damit in diesem Jahr noch stärker als in der Weltfinanzkrise 2009 (- 7,8 Prozent). Zuletzt war Russlands BIP in der Pandemiekrise 2020 um 2,7 Prozent gesunken, hatte sich 2021 aber sehr rasch erholt (+ 4,7 Prozent).

Schon 2023 wird laut Basis-Szenario eine Erholung der Produktion einsetzen. Sie bleibt mit einem BIP-Wachstum von 1,3 Prozent im Jahresdurchschnitt zunächst aber schwach. 2023 dürfte das Bruttoinlandsprodukt bei diesem Konjunkturverlauf also noch rund 7 1/2 Prozent niedriger sein als zwei Jahre zuvor im Jahr 2021. Im Jahr 2024 geht das Basis-Szenario zwar von einer beschleunigten Erholung aus (+ 4,6 Prozent). Mit einem Wachstum um 2,8 Prozent im Jahr 2025 dürfte Russland aber erst nach rund 4 Jahren wieder das Produktionsniveau des Jahres 2021 erreichen.

In einem „konservativen“ Szenario erwartet das Ministerium, dass die Rezession noch erheblich tiefer wird als im „Basis-Szenario“ und die Produktion im Jahresdurchschnitt 2023 weiter sinkt (2022/2021: – 12,4 Prozent; 2023/2022: -1,1 Prozent). 2023 wäre die gesamtwirtschaftliche Produktion in diesem Szenario also rund 13 bis 14 Prozent niedriger als 2021. Der Produktionsrückgang gegenüber 2021 wäre damit fast doppelt so stark wie im Basis-Szenario.

Russlands BIP-Entwicklung im weltweiten Vergleich

Ähnlich negativ wie das „konservative“ Szenario des Ministeriums fielen die jüngsten Prognosen von S&P Global Markets Intellingence für Russlands BIP aus (2022: – 11,1 Prozent; 2023: – 1,9 Prozent). S&P meint, die Erholung der Produktion der russischen Wirtschaft könnte ein ganzes Jahrzehnt in Anspruch nehmen, weil die scharfen Sanktionen die Wirtschaft stark belasten.

Reales Bruttoinlandsprodukt (Veränderung zum Vorjahr in %)  

S&P Global Markets Intellingence: Supply resilience is key to avoiding a global recession; 26.04.2022

Die Zentralbank erwartet 2022 einen BIP-Rückgang um 8 bis 10 Prozent

Die russische Zentralbank veröffentlichte am 29. April anlässlich ihrer Leitzinsentscheidung neue mittelfristige Konjunkturprognosen. Sie rechnet 2022 mit einem Rückgang des Bruttoinlandsprodukts um 8,0 bis 10,0 Prozent, was weitgehend der Prognose des Basis-Szenarios der Regierung entspricht (- 8,8 Prozent).

2023 erwartet die Zentralbank einen Rückgang des BIP im Jahresvergleich um bis zu – 3,0 Prozent oder bestenfalls eine Stagnation.

Wachstumsprognosen 2022 bis 2023

Veränderung des realen Bruttoinlandsprodukts gegenüber dem Vorjahr in Prozent

Die Inflationsrate steigt noch, aber die Zentralbank senkt den Leitzins

Die Zentralbank senkte ihren Leitzins am 29. April um 300 Basispunkte auf 14 Prozent. Analysten hatten zumeist eine geringere Senkung um 200 Basispunkte erwartet. Schon vor drei Wochen hatte die Zentralbank mit einer Senkung des Leitzinses von 20 auf 17 Prozent überrascht.

Zentralbankpräsidentin Nabiullina erinnerte in ihrem Statement zum Leitzinsentscheid daran, dass die Zentralbank den Leitzins Ende Februar als „Anti-Krisen-Maßnahme“ auf 20 Prozent erhöht habe, um die Stabilität des russischen Finanzsystems zu sichern. Inzwischen sei dies gelungen. Auch die Entwicklung der Inflation habe es der Zentralbank ermöglicht, ihre Geldpolitik zu lockern. Die Senkung des Leitzinses werde dazu beitragen, eine „strukturelle Transformation“ der Wirtschaft zu fördern, ohne gleichzeitig Risiken für eine Beschleunigung des Preisanstiegs zu schaffen.

In der Pressemitteilung der Zentralbank zur Senkung des Leitzinses heißt es auch, die Risiken für die Entwicklung der Preise hätten sich nicht weiter verschärft. Damit seien die Bedingungen für eine Senkung des Leitzinses gegeben. Die Zentralbank verweist darauf, dass jüngste wöchentliche Daten eine Verlangsamung des Anstiegs der Verbraucherpreise zeigen. Hintergrund dafür seien eine Stärkung des Rubels und eine Abkühlung der Verbrauchernachfrage.

Im März 2022 hatte sich der Anstieg der jährlichen Inflationsrate auf 16,7 Prozent beschleunigt. In der Woche bis zum 22. April erreichte der Preisanstieg im Vorjahresvergleich 17,7 Prozent, in der Vorwoche waren es 17,6 Prozent.

Am Jahresende 2022 wird der Anstieg der Verbraucherpreise laut der Prognose der Zentralbank 18 bis 23 Prozent betragen. Etwa in der Mitte dieser Spanne liegt die Inflationsprognose der Regierung. Sie rechnet in ihrem Basis-Szenario laut Kudrin mit einem Anstieg der Inflationsrate auf 20,7 Prozent am Jahresende 2022.

Das Inflationsziel von 4 Prozent soll Ende 2024 erreicht sein

Die Zentralbank sieht Raum für weitere Leitzinssenkungen im Jahr 2022, wenn sich die Konjunktur im Einklang mit ihrer Prognose entwickelt. Im Jahresdurchschnitt 2022 erwartet sie einen Leitzins von 12,5 bis 14,0 Prozent (siehe dritte Zeile des folgenden Ausschnitts aus der mittelfristigen Prognose).

Bis zum Dezember 2023 wird sich der Anstieg der Verbraucherpreise nach Einschätzung der Zentralbank auf 5,0 bis 7,0 Prozent verlangsamen. Für Ende 2024 erwartet die Zentralbank, dass sie ihr Inflationsziel von 4 Prozent erreicht (erste Zeile).

Das BIP sinkt voraussichtlich bis Ende 2022 um 12,5 bis 16,5 Prozent

Der tiefste Punkt der gesamtwirtschaftlichen Produktion wird nach Einschätzung der Zentralbank im vierten Quartal 2022 erreicht sein. Das erklärte Präsidentin Nabiullina in ihrem Statement zur Leitzinssenkung. Wie der folgende Ausschnitt aus der mittelfristigen Prognose der Zentralbank in der fünften Zeile zeigt, erwartet die Zentralbank, dass das BIP im vierten Quartal 2022 um 12,5 bis 16,5 Prozent niedriger sein wird als im vierten Quartal 2021.

Anfang 2023 wird laut Zentralbank die Erholung beginnen. Im vierten Quartal 2023 werde das Bruttoinlandsprodukt um 4 bis 5,5 Prozent höher sein als ein Jahr zuvor. Im Vergleich des gesamten Jahres 2023 mit dem gesamten Jahr 2022 wird sich nach Einschätzung der Zentralbank aber ein Rückgang des BIP um bis zu 3 Prozent bzw. eine Stagnation ergeben(vierte Zeile).

Zentralbank: Mid-term forecast,; 29.04.2022

Verbrauch und Investitionen sinken 2022 noch viel stärker als das BIP

Die obige Tabelle der Zentralbank macht deutlich, wie hart die privaten Haushalte und die Investoren in den Jahren 2022 und 2023 von der Rezession betroffen sein dürften.

Die privaten Haushalte haben 2022 mit einem Rückgang ihres Verbrauchs um 8,5 bis 10,5 Prozent zu rechnen, der sich 2023 noch fortsetzen dürfte (- 2,0 bis – 5,0 Prozent).

Die Brutto-Anlageinvestitionen dürften 2022 um 16 bis 20 Prozent sinken und sich 2023 nur schwach erholen (+ 0,5 bis + 4,5 Prozent).

Die Zentralbank geht dabei davon aus, dass die Einfuhren 2022 um rund ein Drittel zurückgehen, während die Ausfuhren deutlich weniger um rund ein Fünftel sinken.

Aktuelle Konjunkturentwicklung bis Ende März

In der letzten Woche veröffentlichte das russische Statistikamt Rosstat unter anderem Daten für die Entwicklung des Einzelhandels, der Industrieproduktion und des Dienstleistungsbereichs im März. Das Forschungsinstitut der finnischen Zentralbank, BOFIT, stellt in seinem Wochenbericht heraus, dass sich die aktuelle Krise in Russland zunächst auf den Finanzmärkten auswirkte. Inzwischen zeigten sich jedoch auch in der Realwirtschaft erste Spuren.

Der Einzelhandelsumsatz ist im Vorjahresvergleich insgesamt weiter gestiegen

Zunächst hat sich Verbrauchernachfrage noch erhöht. Die Haushalte deckten sich im Hinblich auf zu erwartende Lieferstörungen und Preiserhöhungen mit Vorräten ein. Bei Waren im Nicht-Lebensmittel-Bereich gab es den stärksten Käuferansturm bereits im Februar.

Insgesamt  stiegen die Einzelhandelsumsätze im März im Vorjahresvergleich weiter um 2,2 Prozent, hauptsächlich aufgrund von Lebensmittelkäufen, die um 5,1 Prozent höher waren als vor einem Jahr (blaue Linie in der folgenden Abbildung). Der reale Umsatz im Online-Handel (rund 8 Prozent des gesamten Einzelhandels) war im März sogar 1,5-mal höher als ein Jahr zuvor.

Realer Einzelhandelsumsatz mit Lebensmitteln und Nicht-Lebensmitteln, Verkäufe von neuen Personenkraftwagen; 2017=100, saisonbereinigt

Sales of non-food goods declined in Russia in March
with new passenger cars leading the fall

Sources: CEIC, Rosstat, Association of European Businesses, BOFIT.

BIOFIT: Trends weakened in many branches of the Russian economy in March, 30.04.2022

Der reale Umsatz im Nicht-Lebensmittelbereich (rote Linie) ist im Mörz gegenüber dem Vorjahresmonat jedoch um 0,3 Prozent gesunken, nachdem er im Februar noch 7,9 Prozent höher war als vor einem Jahr.

Die Verkäufe von Neuwagen brachen im März im Jahresvergleich um 63 Prozent ein. Sie sanken auf ein Niveau, das dem Tiefstand während der „Covid-Rezession“ im Frühjahr 2020 nahe kam.

Der Luftverkehr gehört zu den am stärksten von den Sanktionen betroffenen Branchen. Das Luftfrachtvolumen sank im März um über 80 Prozent im Jahresvergleich. Die Produktion im Transportsektor wuchs insgesamt aber noch um 3,5 Prozent.

Die Realeinommen waren gut ein Prozent niedriger als vor einem Jahr

Der jüngste Anstieg der Verbrauchernachfrage war ein Faktor, der die Inflation im März auf rund 16,7 Prozent angeheizt hat. Die hohe Inflation hat dazu beigetragen, dass die real verfügbaren Haushaltseinkommen seit Anfang dieses Jahres sinken. Im ersten Quartal gingen die Realeinkommen im Jahresvergleich um 1,2 Prozent zurück. Die durchschnittliche Rente war im März trotz der Rentenerhöhung Anfang Februar real 8 Prozent niedriger als ein Jahr zuvor.

Die Industrieproduktion stieg im Vorjahresvergleich insgesamt zuletzt noch

Das Wachstum der Industrieproduktion schwächte sich insgesamt im März im Vorjahresvergleich auf 3,0 Prozent ab.

Der Anstieg war der höheren Produktion im Rohstoff-Bereich zu verdanken (+ 7,8 Prozent gegenüber Vorjahr).

Die Produktion des Verarbeitenden Gewerbes war im März insgesamt 0,3 Prozent niedriger als vor einem Jahr. Die Automobilproduktion ging dabei um 45,5 Prozent zurück.

Im Vormonatsvergleich sinkt die Produktion seit Jahresbeginn

Das Produktionsniveau im Verarbeitenden Gewerbe sinkt seit Anfang dieses Jahres von Monat zu Monat. Im März beschleunigte sich der Rückgang gegenüber dem Vormonat. Die Fertigung leidet unter einem Mangel an importierten Komponenten. Auch die gesamte Industrieproduktion sinkt seit Januar im Vormonatsvergleich.

Das Forschungsinstitut der Vnesheconombank veröffentlichte zur Entwicklung der Industrie-Konjunktur folgende Abbildung. Sie zeigt den derzeitigen saisonbereinigten Rückgang der Produktion im Verarbeitenden Gewerbe (dunkelgrüne Linie) und in der gesamten Industrie (schwarze Linie). Im Rohstoffbereich (hellgrüne Linie) stieg die Produktion gegenüber dem Vormonat hingegen zuletzt.

Saisonbereinigte Entwicklung der Industrieproduktion (Jan. 2014=100)

Vnesheconombank Institute: „World Economy and Markets Review“, 29.04.2022

Ostexperte.de-Artikel zu Konjunktur und Wirtschaftspolitik in Russland von Klaus Dormann:

Titelbild
OrangeGroup / Shutterstock