Russlands IT-Brain-Drain

Russland verliert sein IT-Fachpersonal

Russische IT-Fachleute verlassen seit Kriegsbeginn in Scharen das Land. Und der Trend könnte sich verstärken, schätzt der Russische Verband für Telekommunikation.

Seit Beginn des Krieges in der Ukraine haben etwa 50.000 bis 70.000 russische IT-Fachleute ihr Land verlassen, berichtet der Russische Verband für elektronische Kommunikation (RAEC). Und dies sei nur eine erste Welle, so der Verband, der mit bis zu 100.000 weiteren IT-Fachkräften im April rechnet.

“Das Einzige, was die zweite Welle aufhält, sind die hohen Kosten für Tickets und Unterkunft in den Zielländern und die Tatsache, dass es jetzt fast unmöglich ist, internationale Finanztransaktionen zu tätigen” [oder Geld in harter Währung von russischen Bankkonten abzuheben], sagte RAEC-Chef Sergej Plugotarenko am Dienstag bei einem Treffen in der russischen Staatsduma.

Der Krieg und der wirtschaftliche Zusammenbruch haben einen bereits bestehenden Trend dramatisch beschleunigt. In einem Bericht aus dem Jahr 2020 warnten die IT-Experten Natalja Kasperskaja und Walentin Makarow vor einer drohenden massiven Abwanderung von Fachkräften aufgrund der Verschlechterung des wirtschaftlichen Klimas in Russland.

Die Gesamtzahl der IT-Fachkräfte im Land wird auf rund 1,8 Millionen geschätzt. Obwohl jedes Jahr etwa 80.000 junge Fachleute ihr Studium abschließen, können sie den Bedarf bei weitem nicht decken, denn es fehlen schätzungsweise 500.000 bis 1 Million Fachkräfte.

Laut einer Umfrage von des russischen IT-Blogs Habr sucht ein Drittel der russischen IT-Fachleute inzwischen nach Arbeitsmöglichkeiten im Ausland. Daraus ergibt sich ein theoretisches Potenzial von etwa 600.000 Tech-Emigranten aus Russland.

3.000 russische IT-Fachleute nahmen Ende März 2022 an dieser Umfrage von Habr teil, einer führenden Online-Community in Russland, teil (vollständige Version auf Russisch) (Quelle: East-West Digital News)

“Der Punkt, an dem es kein Zurück mehr gibt, rückt näher”

Der Telegramm-Kanal Kremlewskaja Pratschka ist der Meinung, dass es “ein aufgebautes System gibt, um ausgebildete Fachkräfte im Bereich der Informationstechnologie herauszupumpen, das Russland in einem unanständigen Tempo zu verlieren beginnt. Unsere Unternehmen sind heute einfach nicht mehr in der Lage, bei den Gehältern mit ausländischen Unternehmen zu konkurrieren”.

“Der Punkt, an dem es kein Zurück mehr gibt, rückt näher, und wenn der Dialog [zwischen dem Staat und] der [IT-]Industrie nicht in naher Zukunft zustande kommt, werden die Baikal- und Yotafon-Prozessoren die wichtigsten Errungenschaften der russischen Technologieindustrie im XXI Jahrhundert bleiben”, folgern die Kanal-Betreiber auf Telegramm.

Die russischen Behördern reagierten bereits und gaben Pläne zur Unterstützung der IT-Industrie bekannt. Wie Interfax berichtet, will das Finanzministerium insbesondere IT-Unternehmen drei Jahre lang von der Einkommenssteuer und von Inspektionen befreien. Ihre Mitarbeiter, die in der Softwareentwicklung tätig sind, könnten einen Aufschub der Wehrpflicht erhalten.

Darüber hinaus sollen Entwickler mobiler Anwendungen und Organisationen, die mit der Implementierung, Installation und dem Testen inländischer Lösungen befasst sind, in den Genuss von Steuervergünstigungen kommen. IT-Unternehmen können zinsgünstige Darlehen zu einem Satz von höchstens 3 % erhalten, und ihre Mitarbeiter können eine Vorzugshypothek aufnehmen.

Das Ministerium für digitale Entwicklung, Telekommunikation und Massenmedien hat seinerseits vorgeschlagen, 14 Mrd. Rubel (etwa 1,6 Mrd. $ in der Vorkriegszeit, jetzt 1,3 Mrd. $) für zusätzliche Fördermaßnahmen auszugeben. Dazu gehören Zuschüsse für kleine High-Tech-Unternehmen über den Bortnik-Fonds, die Skolkowo-Stiftung und andere Organisationen.

Quelle: East-West Digital News