Gaidar-Forum 2022: Hauptthema Inflation

Russische Regierung zuversichtlich bei Wachstumsaussichten

Das Wachstum der Wirtschaft macht Russlands Regierung derzeit deutlich weniger Sorgen als die stark gestiegene Inflation. Diesen Eindruck vermitteln jedenfalls Berichte vom Gaidar-Forum, das am Donnerstag und Freitag in Moskau stattfand.

Wirtschaftsminister Reschetnikow meinte in einem Interview beim Forum, die Fachleute seines Ministeriums erwarteten, dass die gesamtwirtschaftliche Produktion 2021 um 4,4 bis 4,5 Prozent gestiegen ist, also noch stärker als im Herbst bei Haushaltsplanung mit 4,2 Prozent angenommen wurde. In einer Gesprächsrunde zu den „makroökonomischen Prioritäten“ bekräftigten Reschetnikow, Finanzminister Siluanow und Zentralbankpräsidentin Nabiullina beim Forum, dass sie 2022 weiterhin einen Anstieg der gesamtwirtschaftlichen Produktion um 3,0 Prozent erwarten. Intensiv diskutiert wurde in dieser Runde aber vor allem die Inflationsentwicklung.

Rasche Produktionserholung, aber auch starker Preisanstieg

Ministerpräsident Mischustin rückte in seiner Grußadresse zum Gaidar-Forum in den Vordergrund, dass sich Russlands Wirtschaft schneller als erwartet von ihrem Rückgang im Jahr 2020 erholt habe. Schon im zweiten Quartal 2021 habe das Bruttoinlandsprodukt wieder sein Vorkrisenniveau erreicht.

Das „Inflationsproblem“ sprach der Ministerpräsident zwar gleich am Beginn seiner Video-Botschaft an, bezog sich aber lediglich auf die internationale Entwicklung. In einer Reihe von Staaten habe die Inflationsrate langjährige Höchststände erreicht. Die überreichliche Erhöhung der Geldmenge und niedrige Zinssätze hätten zu dieser Beschleunigung des Preisanstiegs geführt.

In Russland ist die jährliche Inflationsrate bei den Verbraucherpreisen im Dezember 2021 trotz der Leitzinserhöhungen der Zentralbank auf 8,4 Prozent gestiegen. Diese Schätzung vom Jahresende bestätigte das Statistikamt Rosstat am 12. Januar. In den ersten 10 Januar-Tagen beschleunigte sich der Anstieg der Verbraucherpreise im Vorjahresvergleich auf 8,6 Prozent.

Auch die Unternehmen klagen über die starken Preissteigerungen

Der Anstieg der Erzeugerpreise ist noch weitaus stärker (Nov. 21/Nov. 20: + 29,2 Prozent). Nichts belastete die russischen Unternehmen laut einer Umfrage der „Union der Industriellen und Unternehmer“ im letzten Jahr so sehr wie die stark beschleunigte Inflation. Kommersant berichtet zu der Umfrage, dass 60 Prozent der Unternehmen angaben, dass der starke Anstieg der Preise ihre Geschäftstätigkeit behindere.

Wie sich die Lage der russischen Unternehmen in den 30 Jahren seit dem Ende der Sowjetunion entwickelte, welche Fortschritte auf dem Weg zu mehr Marktwirtschaft gemacht wurden und wo Defizite bestehen, war am ersten Tag des Gaidar-Forums Thema eines Gesprächs von Alexander Schokhin, Präsident der „Union der Industriellen und Unternehmer“, mit Rechnungshofpräsident Alexej Kudrin und Alexej Repik (Vorsitzender des Unternehmerverbandes, Delovaya Rossiya, „Business Russia“).

Rechnungshof-Präsident Kudrin: „Es muss viel mehr Unternehmer geben“

Kudrin stellte laut Economy Times zunächst fest, dass sich die russische Wirtschaft in der kürzest möglichen Zeit von einer vollkommen regulierten staatlichen Planwirtschaft in Richtung einer Marktwirtschaft bewegt habe. Alle grundlegenden Institutionen für eine Marktwirtschaft seien geschaffen worden.

Der Rechnungshof-Präsident kritisierte aber gleichzeitig den immer noch außerordentlich hohen Anteil des staatlichen Sektors an der Gesamtwirtschaft. In der derzeitigen Krise bremse der Staat die Entwicklung des Marktes. Künftig müsse die Rolle des Staates in der Wirtschaft verringert werden. Es müsse viel mehr private Unternehmen geben.

Als ein „ernstes Defizit“ bei der Ausfüllung der Reformen in Russland bezeichnete Kudrin die niedrigen Wachstumsraten der Arbeitsproduktivität. In den letzten Jahren seien sie nicht höher als rund 1 Prozent gewesen. Um mit den fortgeschrittenen Volkswirtschaften Schritt zu halten, müßte der jährliche Anstieg der Arbeitsproduktivität mindestens 5 Prozent erreichen.

Was Nabiullina, Siluanow und Reschetnikow zur Inflation meinen

Die im Verlauf des Jahres 2021 unerwartet stark gestiegene Inflation war neben den Wachstumsaussichten Schwerpunkt einer Gesprächsrunde von Zentralbankpräsidentin Nabiullina, Finanzminister Siluanow und Wirtschaftsminister Reschetnikow am zweiten Tag des Gaidar-Forums.

Nabiullina verteidigte die Erhöhung des Leitzinses. Mit inzwischen 8,5 Prozent wurde er seit dem Frühjahr 2021 verdoppelt. Ohne diese Anhebung, so die Währungshüterin, wäre der Anstieg der Verbraucherpreise noch um rund 4 Prozentpunkte höher ausgefallen. Eine Verzögerung von geldpolitischen Maßnahmen könnte dazu führen, dass die Leitzinsen noch stärker erhöht werden müssten, als bei frühzeitigem Handeln.

Nabiullina: Die „Energiewende“ ist ein inflationstreibender „Trendbruch“

Die Zentralbankpräsidentin betonte, dass sich die Inflation weltweit beschleunigt habe. Bis vor kurzem sei es die Welt noch gewohnt gewesen, mit einer niedrigen Inflation zu leben. Sie meint, dass es sich bei der Beschleunigung der Inflation nicht um einen durch die Pandemie verursachten kurzfristigen Preisschub handelt, sondern um einen „Trendbruch“.

Die „Energiewende“ mit der Abkehr von fossilen Energieträgern betrachtet Nabiullina als einen mächtigen, langfristigen Faktor der strukturell inflationstreibend wirke. Umweltschonendere Technologien verursachten höhere Kosten. Wegen der gestiegenen Unsicherheit werde auch weniger in herkömmliche Energieträger investiert. So verteuerten auch sie sich. Nabiullina meint, so berichtet rbc.ru, die „Energiewende“ bedeute einen ähnlichen „Angebotsschock“ wie die Ölpreiskrise in den 70er Jahren (vgl. Henrik Müller; Manager-Magazin: Von der Ölkrise bis zum Corona-Schock; 08.03.2020).

Siluanow: Das Inflationsproblem kann bis Jahresende gelöst werden

Auch Finanzminister Siluanow unterstrich, so die Economy Times, die enge Verbindung der Entwicklung in Russland mit der internationalen Entwicklung. Im weltweiten Anstieg der Inflation und der Staatsschulden zeigten sich jetzt die Folgen der Politik vieler Staaten in den letzten Jahren. Als Ausweg aus dieser Lage nennt er die Erhöhung der Zinsen und eine Senkung der Haushaltsdefizite. Das sei ein sehr schmerzvoller Prozess.

Zwar habe auch die russische Regierung die Wirtschaft in der Krise „mit viel Geld aufgepumpt“, sagte der Finanzminister. Aber die Regierung reagiere jetzt auf die aktuellen Herausforderungen angemessener als viele andere Länder. Der kürzlich beschlossene Staatshaushalt sei „verantwortungsvoll und ausgewogen“. (Zur Kritik an der stabilitätsorientierten Wirtschaftspolitik der russischen Regierung siehe: Jake Cordell; The Moscow Times: Russia’s Economy Set to Face Old Problems in New Year; 04.01.202). Siluanow hält es für möglich, das Inflationsproblem bis Ende 2022 zu lösen.

Einen Vorschlag von Wirtschftsminister Reschetnikow, dass man darüber diskutieren solle, ob die Verbraucher für den Anstieg von Preisen staatliche Ausgleichszahlungen erhalten sollten, lehnte der Finanzminister ab. Ein völliger Ausgleich der Geldentwertung würde die Inflation nur weiter beschleunigen.

Reschetnikow: Maßnahmen der Regierung dämpften den Preisanstieg

Bisher von der Regierung ergriffene Maßnahmen haben nach Einschätzung von Wirtschaftsminister Reschetnikow den Preisanstieg um 0,6 Prozentpunkte gedrückt. Ohne diese Maßnahmen hätte die Inflationsrate im Dezember 2021 nicht 8,4 Prozent, sondern 9 Prozent erreicht.

Präsident Putin beauftragte am 12. Januar die Regierung, dafür zu sorgen, dass die Renten um 8,6 Prozent erhöht werden, also etwas stärker als die Preise im Dezember 2021 im Vorjahresvergleich gestiegen sind. Geplant war bisher eine Erhöhung der Renten um 5,9 Prozent.

Im Jahresdurchschnitt 2021 waren die Verbraucherpreise 6,7 Prozent höher als 2020. Im Jahr 2020 hatten sie sich gegenüber dem Vorjahr nur halb so stark um 3,4 Prozent erhöht.

Analysten erwarten eine weitere Leitzinserhöhung auf 9 Prozent

Die DekaBank veröffentlichte am Freitag in ihren monatlich erscheinenden „Emerging Markets Trends“ zur Entwicklung von Inflation und Leitzins in Russland die folgende Abbildung.

Daria Orlova; DekaBank: Russland: Keine geopolitische Entspannung nach NATO-Gesprächen; : Emerging Markets Trends; 14.01.2022

Analystin Daria Orlova schreibt zur weiteren Leitzinsentwicklung:

„Der russische Rubel hat in den turbulenten ersten Wochen des Jahres eine leichte Schwäche gezeigt, ist allerdings weit von Krisenniveaus der Vergangenheit entfernt. Aus der geopolitischen Lage ergibt sich damit bisher keine unmittelbare Notwendigkeit für die russische Zentralbank, im unverminderten Tempo ihren Leitzinsanhebungszyklus fortzusetzen. Im Dezember haben die Währungshüter den Leitzins um 100 Bp auf 8,50% angehoben; für die kommende Sitzung im Februar erwarten wir mit 50 Bp einen deutlich kleineren Schritt und die Ankündigung eines baldigen Endes des Straffungszyklus.“

Auch bei einer Reuters-Umfrage im Dezember gingen die Befragten im Durchschnitt davon aus, dass die Zentralbank ihren Leitzins im ersten Quartal 2022 um einen halben Prozentpunkt auf 9 Prozent anhebt. Bis zum Jahresende 2022 wird im Durchschnitt mit einer allmählichen Senkung des Leitzinses auf 8 Prozent gerechnet.

Daria Orlova prognostiziert, dass sich der Anstieg der Verbraucherpreise im Jahresdurchschnitt 2022 auf 6,4 Prozent abschwächt, die Inflationsrate also nur wenig niedriger sein wird als 2021 (6,7 Prozent). Erst 2023 werde sie auf 4,1 Prozent sinken.

Dabei geht die DekaBank-Analystin davon aus, dass sich das gesamtwirtschaftliche Wachstum im Jahr 2022 auf 2,5 Prozent abschwächt und 2023 weiter auf 1,9 Prozent sinkt. Die im 2021 erreichte Wachstumsrate schätzt sie auf 4,3 Prozent. Diese Wachstumsprognosen entsprechen weitgehend den Ergebnissen der Analysten-Umfrage der Zentralbank Anfang Dezember.

VEB Institut: Das BIP ist im November weiter gestiegen

Zur Entwicklung des Bruttoinlandsprodukts im November 2021veröffentlichte das Forschungsinstitut der Vnesheconombank am Freitag seine ersten Berechnungen, die von den Schätzungen des Wirtschaftsministerium vom 29. Dezember kaum abweichen. Laut VEB-Institut stieg das Bruttoinlandsprodukt im November gegenüber dem Vormonat saisonbereinigt weiter um 0,4 Prozent. Im Oktober war es gegenüber September um 0,6 Prozent gestiegen und im September gegenüber August um 0,5 Prozent. Wie die folgende Abbildung zeigt, hat die gesamtwirtschaftliche Produktion damit ihren Rückgang in den vorangegangenen Monaten weitgehend wettgemacht und ist jetzt wieder etwa so hoch wie im zweiten Quartal.

Index des realen Bruttoinlandsprodukts
(Jan 2014 = 100)

Vnesheconombank Institute: „World Economy and Markets Review“; 14.01.2022

Im Vergleich zum Vorjahresmonat ergab sich im November laut VEB-Institut ein Anstieg der gesamtwirtschaftlichen Produktion von 5,0 Prozent.

Getragen wurde das Wachstum im November von der Produktion in den Bereichen Landwirtschaft, Bergbau/Förderung von Rohstoffen. Verarbeitendes Gewerbe, Bauwirtschaft und Transport.

Die Produktion in den Bereichen Handel und Dienstleistungen sank

Gebremst wurde der gesamtwirtschaftliche Produktionsanstieg im November von der Entwicklung in den Bereichen „Groß- und Einzelhandel“, Dienstleistungen, Gastronomie sowie der öffentlichen Versorgung mit Strom, Gas und Wasser. Dazu beigetragen hat der „Lockdown“, der für die erste November-Woche angeordnet wurde.

Die folgende Abbildung zeigt den Rückgang der Produktion im November gegenüber Oktober in den Bereichen „Handel“ (schwarze Linie; – 1,2 Prozent) und „Dienstleistungen“ (grüne Linie; – 1,3 Prozent).

Die Reallöhne (graue Linie) waren im Oktober laut VEB-Institut 1,0 Prozent niedriger als im September. Sie stiegen im Vorjahresvergleich aber um 0,6 Prozent,

Reallöhne und privater Verbrauch
(Jan 2014 = 100)

Vnesheconombank Institute: „World Economy and Markets Review“; 14.01.2022

Der Produktionsrückgang im „Lockdown“ im Frühjahr 2020 wurde inzwischen nicht nur im Bereich „Dienstleistungen“ (grüne Linie), sondern auch im Bereich „Handel“ (schwarze Linie) aufgeholt. Die Abbildung zeigt aber, dass es im Handel im Vergleich mit dem Ausgangsniveau im Januar 2014 noch Aufholbedarf gibt.

Ostexperte.de-Artikel zu Konjunktur und Wirtschaftspolitik in Russland von Klaus Dormann:

Weitere Lesetipps und Quellen im PDF-Dokument, unter anderem zu:

Titelbild
Russlands Wirtschaftsminister Maksim Reschetnikow. Quelle: Maksim Konstantinov I Shutterstock.com