Wie stark flaut Russlands Wirtschaftswachstum 2022 und 2023 ab?

Viele Risiken auch für niedrige Wachstumsprognosen

Eine erste Schätzung, wie stark die russische Wirtschaft im Jahr 2021 gewachsen ist, wird das Statistikamt Rosstat Mitte Februar veröffentlichen. Für 2022 erwarten fast alle Beobachter, dass die russische Regierung ihr Wachstumsziel von 3 Prozent nicht erreicht – und bleiben auch für 2023 pessimistisch.

Banken und Forschungsinstitute erwarten in jüngsten Umfragen für das letzte Jahr meist einen Anstieg des Wirtschaftswachstums zwischen 4 und 4,5 Prozent. Mit diesem Wachstum wird der Rückgang des Bruttoinlandsprodukts im Corona-Krisenjahr 2020, den Rosstat laut einer neuen Schätzung auf nur noch 2,7 Prozent veranschlagt, mehr als ausgeglichen.

Bereits seit Mitte 2021 hat die gesamtwirtschaftliche Produktion aber voraussichtlich annähernd stagniert. Für 2022 erwarten fast alle Beobachter, dass die russische Regierung ihr Wachstumsziel von 3 Prozent nicht erreicht. Im Durchschnitt wird ein Rückgang der Wachstumsrate auf rund 2,5 Prozent prognostiziert. Die große Mehrheit der Analysten rechnet zudem damit, dass sich das Wachstum 2023 weiter abschwächt. Laut einer Anfang Dezember von der Zentralbank durchgeführten Umfrage wird im nächsten Jahr nur noch ein Produktionsanstieg von 2,0 Prozent erreicht. Die Regierung hat demgegenüber auch für 2023 ein Wachstum von 3,0 Prozent eingeplant.

2022 verlangsamt sich das Wachstum auf rund 2,5 Prozent

BOFIT, das Forschungsinstitut der finnischen Zentralbank, hat die Wachstumsentwicklung seit 2013 in seinem jüngsten Wochenbericht in der folgenden Abbildung dargestellt. Sie berücksichtigt die Ergebnisse der Rosstat-Schätzungen vom 30. Dezember für die Jahre 2019 und 2020. Danach ist das reale Bruttoinlandsprodukt 2019 um 2,2 Prozent gestiegen (bisherige Schätzung: + 2,0 Prozent) und 2020 um 2,7 Prozent gesunken (bisherige Schätzung: – 3,0 Prozent).

Den voraussichtlichen Rückgang des russischen Wirtschaftswachstums in den Jahren 2022 und 2023 illustriert BOFIT mit Prognosen der OECD, der Weltbank und den Ergebnissen der Umfragen von „Consensus Economics“.

Reales Bruttoinlandsprodukt,
Veränderungen gegenüber Vorjahr in Prozent

Sources: Consensus Economics, World Bank, OECD, Rosstat and BOFIT.

BOFIT (Bank of Finland): Russian economic growth expected to slow this year; 07.01.2022

Die Weltbank erwartet in ihrem „Russia Economic Report“ vom 01. Dezember, dass sich Russlands Wirtschaftswachstum von 4,3 Prozent im Jahr 2021 auf nur noch 2,4 Prozent im Jahr 2022 abschwächt (schwarze Linie). Zur Begründung verweist die Weltbank u.a. darauf, dass das Wachstum zwar vom Ölsektor Impulse erhalten werde, andererseits aber von Maßnahmen zur Bekämpfung der Pandemie gedrückt werde. Das von „Consensus Economics“ ermittelte Umfrageergebnis zum Wachstum im Jahr 2022 (hellgraue Linie) und die OECD-Prognose für 2022 (rote Linie) weichen laut der BOFIT-Abbildung von der Weltbank-Prognose kaum ab.

2023 rechnet die Weltbank mit einer weiteren Abschwächung des Wachstums auf nur noch 1,8 Prozent. Die OECD geht laut BOFIT sogar von einem noch stärkeren Rückgang des Wachstums aus.

Bei einer Umfrage der russischen Zentralbank bei russischen und ausländischen Banken und Forschungsinstituten wurde Anfang Dezember hingegen für 2023 „nur“ mit einem Rückgang des Wachstums auf 2,0 Prozent gerechnet. Ansonsten entsprachen die Ergebnisse der Zentralbank-Umfrage den Wachstumsprognosen der Weltbank (2021: + 4,3 Prozent; 2022: + 2,4 Prozent).

Das renommierte Moskauer „Zentrum für makroökonomische Analysen und kurzfristige Prognosen (CMASF)“ erwartet allerdings in seiner „Prognose für die sozio-ökonomische Entwicklung 2021 bis 2024“ schon 2022 nur noch 1,7 bis 2,0 Prozent Wachstum. Die Chef-Volkswirtin der Alfa Bank, Natalia Orlova, senkte ihre Prognose für das diesjährige Wachstum sogar auf lediglich 1,5 Prozent. Sie befürchtet 2022 eine sehr starke Volatilität auf den Finanzmärkten, die das Wachstum drücken dürfte.

Wachstumsprognosen 2021 bis 2023

Veränderung des realen Bruttoinlandsprodukts gegenüber dem Vorjahr in Prozent

 202120222023
VTB Capital30.12.214,32,4
IHS Markit30.12.214,13,4
Promsvyazbank PSB28.12.214,62,23,0
Interfax Consensus Forecast28.12.214,42,4
Reuters-Umfrage23.12.212,5
CMASF Institut, Moskau17.12.214,2 – 4,51,7 – 2,02,0-2,5
Sberbank17.12.214,42,5
Economist Intelligence Unit, London15.12.214,22,42,4
IfW Kiel Institut für Weltwirtschaft15.12.213,73,12,5
Ifo Institut München14.12.214,02,62,3
IWH Halle14.12.214,32,41,8
OPEC, Wien13.12.214,02,7
Unicredit, Mailand10.12.214,22,22,2
DekaBank, Frankfurt10.12.214,22,51,9
Expert RA Rating, Frankfurt10.12.214,72,9
Zentralbank-Umfrage09.12.214,32,42,0
Vnesheconombank Institute08.12.214,2

Urals 69 $/b

2,3

Urals 66 $/b

2,2

Urals 58 $/b

ING Bank, Amsterdam07.12.214,32,23,0
Fitch Ratings03.12.214,42,62,0
Alfa Bank, Moskau03.12.214,31,5
FocusEconomics Consensus02.12.214,22,62,2
Weltbank01.12.214,32,41,8
Russische Zentralbank22.10.214,0 bis 4,5

Urals 70 $/b

2,0 bis 3,0

Urals 65 $/b

2,0 bis 3,0

Urals 55 $/b

wiiw Wien20.10.214,03,02,8
Gemeinschaftsdiagnose dt. Institute14.10.214,53,22,1
Internationaler Währungsfonds12.10.214,72,92,0
Russisches Wirtschaftsministerium30.09.214,2

Urals 66,0 $/b

3,0

Urals 62,2 $/b

3,0

Urals 58,4 $/b

BOFIT: Zahlreiche Risiken für die Produktionsentwicklung in Russland

Das Forschungsinstitut der finnischen Zentralbank verweist in seinem Wochenbericht vom Freitag darauf, dass die Entwicklung der russischen Wirtschaft in den kommenden Jahren durch zahlreiche Risiken belastet werde:

  • Obwohl die Corona-Infektionen in Russland in den letzten Wochen zurückgegangen seien, bleibe die weitere Entwicklung der Pandemie ungewiss. Die Folgen der Pandemie und die Maßnahmen zu ihrer Bekämpfung könnten das Wirtschaftswachstum sowohl weltweit als auch in Russland schwächen.
  • Durch anhaltend hohe Preissteigerungen könne die Kaufkraft der russischen Verbraucher weiter geschmälert werden.
  • Zunehmende geopolitische Spannungen könnten Investoren weiter verunsichern.

Diese Risiken für das Wachstum nannten am Jahresende auch Analysten russischer Banken bei einer Interfax-Umfrage zu den Wachstumsaussichten der russischen Wirtschaft. Einige von ihnen sehen darüberhinaus die Gefahr, dass durch Zinserhöhungen in den USA das Wachstum der Weltwirtschaft gedämpft werden könne. Auch erneute Finanzkrisen in den USA, Asien oder Europa werden von manchen nicht ausgeschlossen.

Welche Risiken die Weltbank hervorhebt

Der neue Chef-Volkswirt der Weltbank für Russland, David Knight, nahm Mitte Dezember in einem Vedomosti-Interview Stellung zu den Risiken für Russlands Konjunktur. Er hebt unter anderem hervor, in Russland sei es wegen der großen Fläche des Landes besonders schwierig, die Auswirkungen einer Unterbrechung von Lieferketten auf die Preisentwicklung abzuschätzen. Die Weltbank halte das Risiko eines unerwarteten Anstiegs der Inflationsrate im Jahr 2022 deswegen für ziemlich hoch. Obwohl die Zentralbank im Allgemeinen rechtzeitig Maßnahmen zur Bekämpfung der Inflation ergreife, sei es „ziemlich schwierig“ von einer „Kontrolle“ des Preisanstiegs zu sprechen. Es bleibe eine offene Frage, wie lange die hohe Inflation anhalten werde.

Die Pandemie setzt die Wirtschaft in Russland nach Einschätzung von David Knight mehr als in einer Reihe anderer Staaten unter Druck. Vor allem wegen der relativ niedrigen Impfquote werde die Aktivität der Wirtschaft „auf die eine oder andere Weise“ gedämpft. Für die Unternehmen bedeute die niedrige Impfquote das Risiko künftiger weiterer Beschränkungen ihrer Aktivitäten.

Als weiteres Risiko für Russlands wirtschaftliche Entwicklung nennt der Weltbank-Volkswirt die Möglichkeit neuer Wirtschaftssanktionen gegenüber Russland. Die Weltbank äußere sich aber nicht zur Wahrscheinlichkeit neuer Sanktionen oder der Lockerung bestehender Sanktionen.

Was Analysten zur Steigerung des Wachstums fordern

Interfax befragte die Analysten zur Jahreswende auch, welche Maßnahmen für eine Steigerung des Wachstumspotenzials der russischen Wirtschaft erforderlich sind.

Im „Wunschkatalog“ der Analysten finden sich zum einen grundsätzliche ordnungspolitische Forderungen. Es müsse möglichst große Planungssicherheit für die Unternehmen geben. Die „Spielregeln“ müßten klar sein.

Russlands Regierung müsse für günstige Investitionsbedingungen sorgen, auch für ausländische Unternehmen. Dafür sei es vor allem erforderlich, die Qualität der öffentlichen Verwaltung zu verbessern, insbesonders der Justizbehörden. Hilfreich für mehr ausländische Investitionen wäre natürlich auch eine Verringerung der außenpolitischen Spannungen.

Angesichts des Arbeitskräftemangels und der demografischen Entwicklung in Russland fordern einige Analysten stärkere Anreize für die Bevölkerung zur Übernahme einer Erwerbstätigkeit. Das Arbeitskräftepotenzial müsse besser entwickelt werden, die Mobilität der Arbeitskräfte müsse gefördert und die Einwanderung erleichtert werden.

Auf längere Sicht halten es viele Analysten vor allem für nötig, dass sich die russische Regierung angesichts des Klimawandels darauf einstellt, dass höhere Zölle auf die Ausfuhr von Kohle, Öl und Gas aus Russland erhoben werden und die Nachfrage nach fossilen Energieträgern weltweit sinken wird.

BOFIT: Das Wachstumspotenzial beträgt nur 1 bis 2 Prozent pro Jahr

Laut dem BOFIT-Wochenbericht wird geschätzt, dass die russische Wirtschaft auf längere Sicht jährlich nur um 1 bis 2 Prozent pro Jahr wachsen kann. Als Gründe für das niedrige Wachstumspotenzial nennt das Forschungsinstitut:

  • Die schwache demografische Entwicklung
  • Es wird zu wenig investiert, weil die Bedingungen für die Unternehmen nicht ausreichend attraktiv sind
  • Die Produktivität der russischen Wirtschaft ist im internationalen Vergleich gering.

BOFIT meint, in Russland seien zwar viele Programme zur Lösung dieser seit langem bekannten Probleme entwickelt worden. Ihre wachstumsfördernde Wirkung sei bisher jedoch „bescheiden“ geblieben.

Die Wachstumsstrategie der russischen Regierung setze vor allem auf Entwicklungsprojekte unter staatlicher Leitung. Die Aussichten, auf diesem Wege das langfristige Wachstumspotenzial der russischen Wirtschaft deutlich zu erhöhen, seien nach Einschätzung von Beobachtern aber „begrenzt“.

Mehr Wachstum durch strukturelle Reformen ist kein Ziel der Regierung

Das Forschungsinstitut der finnischen Zentralbank hat zu den langfristigen Herausforderungen der russischen Wirtschaftspolitik auch eine ausführliche Studie seiner Mitarbeiterin Heli Simola (Senior Economist) veröffentlicht („Long-term challenges to Russian economic policy“; BOFIT Policy Brief 11/2021, 30.11.2021).

In ihren abschließenden Bemerkungen zu ihrer Studie stellt Simola unter anderem fest, dass sich die ohnehin „bescheidenen“ Wachstumsaussichten der russischen Wirtschaft durch die Pandemie wahrscheinlich weiter verschlechtern werden.

Eine Beschleunigung des Wachstums scheine für die Regierung aber auch weniger wichtig geworden zu sein. Stattdessen habe die Stärkung der Rolle des Staates in der russischen Wirtschaft in den letzten zwei Jahrzehnten für die Regierung an Bedeutung gewonnen. Der Schwerpunkt ihrer Wirtschaftspolitik habe sich auf die Gewährleistung der wirtschaftlichen Sicherheit und Unabhängigkeit Russlands verlagert.

Im gegenwärtigen institutionellen politischen System Russlands sind grundlegende Reformen zur Verbesserung des Geschäftsklimas und zur Steigerung der Produktivität nach Einschätzung von Heli Simola schwer durchsetzbar. Viele gesellschaftliche Gruppen lehnten Reformen ab, weil eine Änderung des Status quo auch eine Neuverteilung von Einkommen bedeuten würde. Größere institutionelle Reformen seien nur möglich, wenn weite Kreise der russischen Gesellschaft dazu bereit seien. Einen solchen Konsens sieht die Autorin in Russland derzeit aber nicht. Sie meint, wenn andere Länder ihre Wirtschaft dekarbonisieren und Russlands Einnahmen aus Kohlenwasserstoffen deutlich sinken, könnte dies den erforderlichen Anstoß für strukturelle Reformen geben. Bis zu diesem Punkt zu kommen, sei aber wahrscheinlich noch ein schwieriger Prozess.

Auch Sergej Guriew erwartet keine Reformen für mehr Wachstum

Ahnlich wie Heli Simola beurteilt Sergei Guriew, Professor an der Pariser Universität „Sciences Po“, die wirtschaftspolitische Entwicklung in Russland. Guriew, früher Rektor der „New Economic School“ in Moskau, der aus Russland emigrierte und Chef-Volkswirt der „Europäischen Bank für Wiederaufbau und Entwicklung“ in London war, glaubt nicht an die Reformfähigkeit der Wirtschaftspolitik unter Staatspräsident Putin. Er zieht im österreichischen Magazin „Der Pragmaticus“ in einem Rückblick auf Putins Wirtschaftspolitik unter dem Titel „Im Zickzack durch die Krisen“ folgendes Fazit:

„Wirtschaftliche Reformen würden darauf hinauslaufen, Korruption zu bekämpfen, Rechtsstaatlichkeit wiederherzustellen und den staatlichen Einfluss zurückzudrängen.

Indem Putin das vermeidet, verhindert er auch eine Deregulierung des Marktes und die Privatisierung von Unternehmen. Gerade das wäre für ausländische Investoren attraktiv. Im Zuge solcher Reformen würde allerdings auch eine Schicht von gut ausgebildeten Unternehmern entstehen, deren mögliche Forderungen nach einem unabhängigen Staat mit gewählten politischen Vertretern Putins persönlichen Interessen strikt zuwiderlaufen würden.

Da hält Putin lieber am Status Quo fest: also kein Wachstum. Die Einnahmen aus dem Ölgeschäft reichen aus, um sich die Loyalität seiner Eliten zu sichern und die Unterdrückung der Opposition und der Presse zu finanzieren. Diese Art der Politik ist ausgesprochen kostspielig für Russlands langfristige Zukunft. Doch in Putins Russland sticht Politik die wirtschaftlichen Interessen. Nicht Wohlstand für alle ist sein Ziel, sondern der Erhalt seines eigenen Machtsystems. Bislang scheint er sich bei dieser Wette nicht zu verzetteln.“

„Der Pragmaticus“ veröffentlichte im Dezember in seinem Russland-Dossier „Der ewige Putin“ neben der Analyse von Sergej Guriew zahlreiche weitere Artikel zur Entwicklung von Politik, Wirtschaft und Medien in Russland. Im „Pragmaticus-Talk“ im Fernsehsender „Servus TV“ diskutierte Moderator Roger Köppel (Chefredakteur der Weltwoche) u.a. mit Professor Gerhard Mangott (Universität Innsbruck), der auch in einem Podcast interviewt wurde.

Ostexperte.de-Artikel zu Konjunktur und Wirtschaftspolitik in Russland von Klaus Dormann:

Weitere Lesetipps und Quellen im PDF-Dokument, unter anderem zu:

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