Die Ächtung der Atomwaffen als Beginn nuklearer Abrüstung
Vor 75 Jahren, am 6. August 1945, warfen die USA erstmals eine Atombombe über einer belebten Stadt ab. Im japanischen Hiroshima starben circa 100.000 Menschen sofort und bis Ende 1945 130.000 weitere Menschen an den Folgeschäden. Dies war auch der Beginn eines atomaren Wettrüstens, das gerade eine atemberaubende Renaissance erfährt. – Unter dem Titel „Die Ächtung der Atomwaffen als Beginn nuklearer Abrüstung“ hat, vom Mainstream völlig ignoriert, die Deutsche Kommission „Justitia et Pax“ der katholischen Kirche ein Dossier herausgebracht, das es in sich hat.
von Leo Ensel
„Die bipolare Welt beginnt sich trotz der noch vorhandenen Dominanz der Supermacht USA wirtschaftlich, politisch und militärisch zu einer multipolaren Welt zu entwickeln. Regelverletzungen und Vertragsbrüche nehmen zu, multilaterale Abkommen werden durch bilaterale ‚Deals‘ ersetzt, Desinformation und Fake-News verwirren Öffentlichkeit und Politik. Vertrauen als Basis friedlicher internationaler Beziehungen verliert rapide an Wert. Die Machtverhältnisse in der Welt verschieben sich dramatisch, ohne sich zu einer neuen Weltordnung zusammenzufügen, weil allgemeine Normen und Regeln entweder immer häufiger nationalen Interessen geopfert werden oder ihr universeller Geltungsanspruch bestritten wird. Zu den bedenklichen Entwicklungen gehört die Tendenz, die Vereinten Nationen an den Rand der internationalen Politik zu drängen, ganz zu ignorieren oder gar ihre Bemühungen zu hintertreiben.“
Nein, diese Sätze stammen nicht aus dem Interview, das die Financial Times Ende Juni letzten Jahres mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin führte, sondern – halten Sie sich fest! – aus einem im selben Monat erschienenen Dossier der Deutschen Kommission „Justitia et Pax“ (Gerechtigkeit und Frieden) der katholischen Kirche.
Die Ächtung der Atomwaffen
Ziel des unter dem Titel „Die Ächtung der Atomwaffen als Beginn nuklearer Abrüstung“ veröffentlichten Papiers ist nichts weniger als die ethische Delegitimierung der Atomwaffen und damit der gesamten Politik der atomaren Abschreckung – und zwar ohne jegliches Wenn und Aber. Das Dossier kommt, wir greifen vor, zu dem Schluss, dass „weder der Besitz noch der Einsatz von Atomwaffen ethisch oder politisch zu rechtfertigen ist.“
Man sollte aus der Tatsache, dass das Dossier ausgerechnet im Umfeld der katholischen Kirche erstellt wurde, nicht voreilig falsche Schlüsse ziehen: Hier geht es nicht um akademische Glasperlenspiele weltfremder Moraltheologen oder -philosophen im Elfenbeinturm. Das Papier will eingreifen. Seine erklärte Absicht ist es, „überzeugende Impulse für die internationale Debatte zu leisten und die verschiedenen Friedensbemühungen zu unterstützen.“ Die moralische Ächtung der Atomwaffen soll, wie der Titel der Schrift bereits andeutet, die ethische Fundierung für ein Verbot dieser Massenvernichtungsmittel liefern. Und damit deckt sich das Anliegen von „Justitia et Pax“ exakt mit dem von ICAN (International Campaign to Abolish Nuclear Weapons), der 2007 gegründeten Initiative zur vollständigen Abschaffung der Atomwaffen, die 2017 mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet wurde: im Rahmen der Vereinten Nationen mittel- oder längerfristig einen Vertrag zum völkerrechtlichen Verbot von Atomwaffen durchzusetzen. (In einer ersten Abstimmung im Sommer vor zwei Jahren stimmten bereits 122 Staaten für diesen Vertrag. Die Atomstaaten sowie die meisten NATO-Staaten – inclusive Deutschland – entzogen sich dagegen den Verhandlungen.)
Die Radikalisierung der Position: „Ethisch nicht mehr zu rechtfertigen!“
Natürlich argumentiert das Papier zunächst immanent, das heißt: Es setzt am letzten Stand der – vor allem in den Achtziger Jahren, der Hoch-Zeit der Friedensbewegung, intensiv geführten – innerkatholischen Debatte zur Legitimität der Abschreckungsstrategie und des Atomwaffenbesitzes an und konfrontiert den damaligen Debattenstand mit der aktuellen durch Erosion der Sicherheitspolitik und allseitige erneute atomare Aufrüstung gekennzeichneten militärpolitischen Weltlage. Die Kernargumente aber – das wird sich gleich zeigen und das macht den brisanten, über das katholische Umfeld weit hinausgehenden Stellenwert des Dossiers aus – sind nahezu eins zu eins auch für Protestanten, Orthodoxe, Gläubige anderer Religionen sowie für Agnostiker und Atheisten übernehmbar.
Anschlussfähig sind diese Argumente nicht zuletzt deshalb, weil, wie das Papier klarstellt, „das übergreifende Anliegen der von katholischer Seite geforderten Friedenspolitik darin besteht, die Institution des Krieges durch den Auf- und Ausbau internationaler Institutionen und somit durch gewaltfreie und gewaltarme Konfliktlösungswege zu ersetzen. Die internationale Ordnung soll durch die Vereinten Nationen, den Internationalen Gerichtshof und Schiedsgerichte, durch internationales Recht und internationale Abkommen gestützt werden und ein friedliches Zusammenleben der Völker ermöglichen.“
Das Dossier radikalisiert die bisherige Position der katholischen Kirche zur nuklearen Abschreckung und verabschiedet sich damit von den gewundenen Formulierungen der Achtziger Jahre, die diese moralisch – mit viel Ach und Krach oder in den damaligen Worten: „mit schwersten Bedenken“ – als Kriegsverhütungsstrategie gerade noch „befristet hinnehmbar“ bezeichnet hatten, „vorausgesetzt, die durch sie erkaufte Zeit werde politisch genutzt, um das ‚Gleichgewicht des Schreckens‘ zu überwinden.“ Die wichtigste Bedingung für diese vorbehaltliche Zustimmung lag also „in dem erkennbar ernsthaften Willen der Regierungen, diese prekäre und auf Dauer weder erfolgversprechende noch hinnehmbare Konzeption der Friedenssicherung durch weniger riskante Alternativen abzulösen.“ Die gerade veröffentlichte Schrift von „Justitia et Pax“ kommt dagegen zu dem unzweideutigen Schluss, „dass die bedingte Zustimmung zum Besitz von Atomwaffen ethisch nicht mehr zu rechtfertigen ist.“ Der Einsatz für eine friedliche Welt verlange vielmehr „eine uneingeschränkte internationale Ächtung von Atomwaffen, die ihren völkerrechtlichen Ausdruck in einem vollständigen Verbot von Atomwaffen findet, sowie gemeinsame Abrüstung.“
Die Erosion des Abschreckungssystems
Es ist nicht nur die – trotz zeitweiliger atomarer Abrüstungsschritte infolge von Gorbatschows Politik des ‚Neuen Denkens‘ Ende der Achtziger Jahre – nicht genutzte Chance, die Strategie der Abschreckung grundsätzlich zu überwinden, die „Justitia et Pax“ zu einer Revision der bisherigen Bewertung genötigt hat. Es ist vielmehr ein Bündel der diesem System inhärenten Widersprüche auf dem Hintergrund dramatischer globaler Umbrüche, die in ihrer Zusammenschau diesen Schluss für die Autoren als zwingend erscheinen lassen.
Das System der atomaren Abschreckung erweist sich nämlich bei genauerer Analyse als unüberwindbar instabil und als unaufhebbar widersprüchlich. Unüberwindbar instabil ist das System, weil es in seiner tiefsten Wurzel von einem abgründigen Misstrauen genährt wird, das sich in den Worten der Autoren „fortwährend bestätigt sieht und hartnäckig auf Abhilfe durch mehr, bessere und überlegene Waffen drängt. Den fortgesetzten Anstrengungen der USA, einen zuverlässigen Abwehrschirm durch Raketen oder Laser aufzubauen, entspricht folgerichtig das Streben Russlands, superschnelle Raketen zu entwickeln, die durch kein Abwehrsystem abgefangen werden können.“ – Unaufhebbar widersprüchlich ist die Abschreckungsstrategie, weil sie erstens als Strategie der „massiven Vergeltung“, um glaubwürdig zu sein, genau das minutiös planen und vorbereiten muss, was sie angeblich verhindern will: Die alles vernichtende atomare Apokalypse. Sie ist es zweitens, wenn sie als Strategie der „flexible response“ auf der Illusion basiert, den Ablauf eines atomaren Konflikts steuern, gar begrenzen und gewinnen zu können. „Damit aber“, so die Autoren, „hebt sich die Strategie der atomaren Abschreckung selber auf. Denn womit ließe sich eine Atommacht, die einen atomaren Schlagabtausch siegreich beenden könnte, von einem Atomwaffenangriff abschrecken?“
Dem System der Abschreckung liegen zudem, laut „Justitia et Pax“, zwei verhängnisvolle Illusionen zugrunde: die Illusion der Wirkungskontrolle und die Illusion der Eskalationskontrolle. Zur angeblichen Wirkungskontrolle: Es liegt bereits im Begriff der Massenvernichtungsmittel, dass sie den ethisch und völkerrechtlich hochbedeutsamen Grundsatz, die Zivilbevölkerung zu schonen, ignorieren. Dies gilt auch für die gegenwärtig geplanten sogenannten ‚kleinen‘ Atombomben, deren Sprengkraft kaum der Hiroshimabombe nachsteht. „Wenn in der neuen Nuklearplanung der USA ins Auge gefasst wird, auch gegnerische Zentren der Cyber-War-Kriegsführung nuklear zu attackieren, dann fällt es schwer, sich vorzustellen, wie das ohne die Tötung von Zivilisten durchgeführt werden könnte.“ Von den lokal gar nicht zu begrenzenden Strahlenschäden ganz zu schweigen. – Bezogen auf die Illusion der Wirkungskontrolle zitieren die Autoren trocken das bekannte Clausewitz‘sche Dictum, nach dem keine menschliche Tätigkeit so eng mit dem Zufall verbunden ist, wie der Krieg. „Die Strategie der atomaren Abschreckung ist kein rationales Kalkül, sondern verleitet zu einem riskanten Spiel mit Höchsteinsatz. Dessen Gefährlichkeit wächst in tendenziell unbeherrschbarem Maß, je mehr in einer multipolaren Welt mit noch mehr Atommächten schon rein rechnerisch die Zahl der möglichen Konflikte steigt.“
Das Verbot der Atomwaffen und ihre vollständige Abrüstung
Nach dieser schonungslosen Analyse liegen die Konsequenzen auf der Hand, auch wenn sie vorerst utopisch scheinen mögen: Das gesamte Konzept der atomaren Abschreckung ist ethisch nicht länger verantwortbar, die Atomwaffen müssen als uneingeschränkt verwerflich völkerrechtlich geächtet, abgerüstet und vollständig aus der Welt geschafft werden! Den Segen dafür von Papst Franziskus – der letztes Jahr während seines Aufenthaltes in Hiroshima und Nagasaki, im Gegensatz zu Außenminister Maas, Klartext sprach – gibt es bereits.
Die Autoren sind nicht blauäugig: „Es wäre eine naive Illusion zu meinen, Konventionen oder Verträge brächten per se diese oder andere Waffen zum Verschwinden. Aber sie helfen nachweisbar dabei, Kontrollregime aufzubauen, die es wirksam erschweren, sie in großem Umfang herzustellen und zu lagern. Die beunruhigende Tendenz der Atommächte, sich der wenigen bestehenden Fesseln der nuklearen Rüstung durch Rüstungskontrolle und Abrüstung zu entledigen, darf auf keinen Fall widerspruchslos hingenommen werden.“
Da die Ächtung der Atomwaffen, die Überwindung der Strategie der atomaren Abschreckung und die Beseitigung der Atomwaffen ohne oder gegen die Atommächte nicht möglich sein wird, plädieren die Autoren leidenschaftlich dafür, alles zu unternehmen, um die Atmosphäre in den internationalen Beziehungen zu verbessern. Die Vertrauensbasis zwischen den Atommächten müsse schrittweise durch regelmäßige Kontakte und Gespräche in unterschiedlichen Foren und Formaten wiederhergestellt werden. „Das ist eine der Lehren aus den Jahren der Entspannungspolitik mit ihren Konsequenzen für die Rüstungskontrolle und Rüstungsbegrenzung.“ Der erste Schritt solle dabei vom Westen ausgehen: Die westlichen Staaten, insbesondere die USA sollten erklärtermaßen auf ihre militärische Überlegenheit verzichten. Diese Erklärung sollte „mit einer vorbehaltslosen Einladung an Russland und China verbunden sein, sich an der Wiederbelebung entspannungsorientierter Diplomatie zu beteiligen.“ Absolute Priorität habe zudem die Reformierung, Förderung und Stärkung der Vereinten Nationen, die in einer globalisierten Welt unverzichtbar seien.
Die feine Nase des Mainstream
Die aufmerksame Lektüre des Dossiers von „Justitia et Pax“ lässt nur einen Schluss zu: Hier war ein Team bestens informierter und scharfsinnig argumentierender Fachleute am Werke, das bereit ist, aus seinen Analysen kompromisslos die Konsequenzen zu ziehen und sie unmissverständlich auf den Punkt zu bringen. Das Dossier wurzelt in der katholischen Friedensethik, seine sicherheitspolitischen Analysen und deren radikale Konsequenzen jedoch – und das macht das Papier brisant – sind auch für Anders- oder Nichtgläubige kompatibel.
Und daher wird es diesmal für die atomaren Aufrüstungsapologeten sämtlicher Couleur wirklich gefährlich. Denn diese Schrift – vorausgesetzt, sie wird zur Kenntnis genommen und intensiv diskutiert – hat das Potenzial, die gesellschaftliche Mitte, die hier allein auf Dauer wirkungsvollen Druck entfalten kann, tatsächlich zu erreichen.
Keiner hat das besser verstanden als der Mainstream, der mit
seiner feinen Nase das Papier vollständig ignorierte. Dass niemand Geringeres
als die katholische Kirche in ihrem Bemühen um die Ächtung der Atomwaffen nun
ihrerseits vom Mainstream geächtet wird, das ist eine besonders delikate
Kapriole unserer an paradoxen Salti mortali nicht armen vielfältigen
Medienlandschaft! Kurz: Man kann „Justitia et Pax“ zu diesem Dossier nur beglückwünschen
und ihm weitestmögliche Verbreitung wünschen! (Und man träumt davon, die
katholische Kirche würde sich in anderen Lebensbereichen, wie zum Beispiel im
Missbrauchsskandal, ebenso klar und konsequent verhalten …)
Dieser Text erschien zuerst bei RT Deutsch.
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