150 Jahre Lenin: „Als intellektuelles Phänomen ausgedient“

Historikerin zum runden Geburtstag des Revolutionsführers

Am 22. April jährte sich Wladimir Lenins Geburtstag zum 150. Mal. Der Kult um den Revolutionsführer kannte in der Sowjetunion kaum Grenzen. Doch welche Bedeutung hat Lenin in der Erinnerungskultur des heutigen Russlands? Die MDZ im Gespräch mit Ekaterina ­Makhotina, Osteuropahistorikerin an der Universität Bonn.

Frau Makhotina, Lenin wurde zu Sowjetzeiten wie ein Gott verehrt. Erschwert das heute einen sachlichen Blick auf die historische Person?

Dass „große Männer“ der Geschichte mythologisiert werden, ist an sich ein universelles Phänomen, vor allem, wenn es sich um Revolutionsführer mit internationaler Ausstrahlung handelt. Da ist Lenin keine Ausnahme – die „Große Sozialistische Oktoberrevolution“ war ein Gründungsmythos der Sowjetunion. Für die Geschichtsschreibung im postsowjetischen Russland ist eine sachliche Auseinandersetzung mit Lenin und Leninismus möglich und ist weitgehend geschehen.

Es gibt Ansätze, die ihn als historischen Akteur jenseits kanonisierter sozialistischen Fortschrittsgeschichte und neuerer nationalistischen Verschwörungstheorien, etwa Lenin als „Agent des Westens“ zu betrachten. Dazu gehört zum Beispiel die Deutung der Revolution als Exempel globaler Modernität, als Ergebnis der Überwindung der Rückständigkeit oder der gestiegenen gesellschaftlichen Erwartungen im Kontext des Ersten Weltkrieges.

Das Problem des fehlenden sachlichen Blickes liegt eher in der populären Wahrnehmung Lenins und der Revolution 1917: Je nach politischer Ausrichtung steht Lenin entweder im Schatten Stalins, der als Vater des Sieges 1945 verehrt wird, so die national-patriotische Position, oder im Schatten des Gulags und des Großen Terrors, so die liberale Position. Im Gegensatz zu neueren marxistischen Diskursen des Westens hat Lenin als intellektuelles Phänomen in Russland ausgedient.

Wie der Philosoph Michail Ryklin feststellte, entzieht sich der Kommunismus als Idee dem Verständnis der jungen Russen von heute. Die Russische Gesellschaft ist eine Konsumgesellschaft, die kaum wieder in die Zeiten der sozialen Nivellierung zurückgehen oder das Ideal der sozialen Gerechtigkeit mit Leben füllen will.

Lediglich für eine übersichtliche gesellschaftliche Gruppe – die Kommunistische Partei – ist Lenin und seine Ideologie ein Objekt der aktiven Erinnerung. Diese bleibt in ihrer traditionellen sozialistischen Interpretation – die Bolschewiki-Partei als allmächtige Avantgarde, angeführt vom politischen Genius Lenins.

Kremlsprecher Dmitrij Peskow hat kürzlich gesagt, man könne kaum behaupten, dass Lenins Geburtstag in Russland weithin gefeiert werde. Lag er damit richtig?

Es war tatsächlich bemerkenswert, dass das Verfassungsreferendum auf den 22. April, Lenins runden Geburtstag, fiel, was Peskow zu diesem Kommentar veranlasst hatte. Für die Kommunistische Parteo ist Lenin nach wie vor ein „Held“ der Geschichte, die Kommunisten sind auch die Einzigen, die diesen Tag festlich begehen. Zugleich ehren auch sie Josef Stalin viel mehr als Lenin, was paradox ist, da die Stalin’sche Spielart des Kommunismus den „wahren Leninismus“ pervertierte – was schließlich Chruschtschow und Gorbatschow dazu veranlasste, den Kurs „Rückkehr zu Lenin“ aufzurufen.

Doch weder Chruschtschow noch Gorbatschow genießen heute Popularität im national-patriotischen Lager, im Gegensatz zu Stalin. Ihm, und nicht Lenin, stellen Teile russischer Gesellschaft heute Denkmäler auf. Die Verehrung Stalins – und eben nicht Lenins – bringt das gesellschaftliche Bedürfnis nach einer starken Führerfigur zum Ausdruck. Wird Lenin als Vater der Revolution wahrgenommen, gilt Stalin hier als „Vater des Vaterlandes“ – der erstere steht für radikale Umbrüche, der letztere – für vermeintliche „Stabilität“, Aufstieg zur Großmacht, Sieg. Wohlgemerkt: bei den Stalin-Verehrern geht es um einen Teil der Gesellschaft, nicht um Russland als Ganzes.

Die Lenin-Gedenkstätte in seiner Geburtsstadt Uljanowsk wird derzeit saniert. Eigentlich war zum Geburtstag ein großes Festprogramm geplant. Ist seine Heimatstadt eine Ausnahme?

Das für das Jahr 2022 geplante Museum der UdSSR in Uljanowsk, der Geburtsstadt Lenins, soll zu einem landesweiten „Markenzeichen“ der Stadt werden und Touristen anziehen. Mit diesem neuen Museum soll die Region als „Ecke der Sowjetunion“ popularisiert werden. Die Sowjetgeschichte soll den gleichen Rang unter den Sehenswürdigkeiten bekommen wie die religiösen Pilgerorte und altrussische Städte. Die Überführung der sowjetischen Epoche in den Rang des Kulturerbes ist in Uljanowsk ein föderales Projekt, das in Zusammenarbeit mit der lokalen Verwaltung realisiert wird. Hier geht es nicht so sehr um Lenin und den Marxismus-Leninismus, sondern um Kommerzialisierung der Sowjet-Nostalgie.

Präsident Wladimir Putin soll bei einem Besuch in Uljanowsk einmal gesagt haben, die Stadt habe zu viele Revolutionäre hervorgebracht. Tut er sich schwer mit dem Erbe Lenins?

Nicht zufällig ist in diesem Kontext das Motto des Uljanovsker Museums: die Versöhnung. Gemeint ist die Versöhnung zwischen den Kommunisten und ihren Gegnern, ähnlich zur Versöhnung zwischen den Nachfahren der „Roten“ und der „Weißen“, die sich gegenseitig im Bürgerkrieg 1919 bis 1922 bekämpften. Mit dieser Botschaft will die aktuelle Geschichtspolitik bei einem möglichst breiten Spektrum der Bevölkerung anschlussfähig wirken, sowohl bei den Sowjet-Nostalgikern als auch bei den Sowjet-Kritikern.

Die heutige russische Führung verfährt mit der Figur Lenins ähnlich wie mit der Russischen Revolution 1917 – sie hält sich mit den eindeutigen Bewertungen zurück und setzt auf die Kraft der Verdrängung und Vergessens. „Revolution“ ist im aktuellen politischen Diskurs ein eindeutig negativ besetzter Begriff. Putin selbst deutete im „Jubiläumsjahr 2017“ die Zeit der revolutionären Erschütterungen 1917 bis 1922 als eine einzigartige Zeitspanne in der russischen Geschichte, als Zeit des Nicht-Imperiums. Die Nationalitätenpolitik Lenins bezeichnete er als Entwicklung des bolschewistischen „anti-russischen Imperiums“.

Auch die Russisch-Orthodoxe Kirche, ein wichtiger erinnerungspolitischer Akteur heute, deutet Lenin und die Revolution negativ, als zielgerichtete Diversion zur Zerstörung der Staatlichkeit.

Viele fordern, Lenin aus dem Mausoleum am Roten Platz zu entfernen und zu bestatten. Präsident Putin jedoch will ihn dort belassen. Würde er sich unbeliebt machen, wenn er die Bestattung befürworten würde?

Die Antworten Putins auf die häufigen Fragen nach der Umbestattung Lenins spiegeln ebenfalls diese Einstellung wider – es darf kein geschichtspolitischer Schritt unternommen werden, der die russische Gesellschaft spalten würde. Die aktuelle russische Geschichtspolitik, wie sie auf der höchsten Ebene vermittelt wird, ist grundsätzlich populistisch und konjunkturabhängig.

Man kann es daran sehen, dass die Kreml-Partei „Einiges Russland“ so lange gegen die Lenin-Denkmale in den russischen Städten war, bis die Ukraine 2014 mit dem Denkmalsturz angefangen hat. Ab nun galt es für die russischen National-Konservativen die Lenin-Denkmäler als „unser nationales Erbe“ zu schützen. Auch dem russischen Staatschef geht es bei der Verteidigung der sowjetischen Epoche nicht um Kommunismus als sozio-ökonomisches Modell, sondern um das historische Erbe und einen wichtigen Teil russischer Geschichte, die bei der letzten sowjetischen Generation noch ein Teil der biografischen Erinnerung ist.

Populismus par excellence ist Putins Aussage: „Jene, die der Sowjetunion nicht nachtrauern, haben kein Herz; jene, die die Sowjetunion zurückwollen, haben keinen Verstand.“

Die Fragen stellte Jiří Hönes.

Zur Person
Ekaterina Makhotina, geboren 1982 in St. Petersburg, studierte Neuere und Neuesten sowie Osteuropäische Geschichte und Bohemistik in St. Petersburg, Karlsruhe, Regensburg und München. Sie lehrt Osteuropäische Geschichte am Institut für Geschichtswissenschaften der Universität Bonn. Sie beschäftigt sich unter anderem mit der Erinnerungs- und Geschichtskultur in Ostmitteleuropa sowie mit der Geschichtspolitik in Russland.  

Dieser Artikel erschien zuerst in der Moskauer Deutschen Zeitung.

Titelbild
Titelbild: Wand-Mosaik in der russischen Stadt Kurtschatow. Quelle: Soviet Artefacts / Unsplash.com
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