Gemischtes Doppel #38: Wehe, wehe

Kolumne: Gemischtes Doppel #38 – Wehe, wehe


Liebe Leserinnen und Leser, haben sie schon mal von Brillantgrün-Lösung gehört?

In Russland und anderen Ländern der ehemaligen UdSSR gilt die grüne Flüssigkeit als Allheilmittel. Sie wird in kleinen Fläschchen in Apotheken verkauft und desinfiziert Wunden, heilt Kratzer und Ausschläge. Die Nebenwirkungen: Es brennt höllisch und lässt sich eine gefühlte Ewigkeit nicht abwaschen.

Gerade letztere Eigenschaft hat dem Wunderwässerchen neben einer medizinischen auch eine politische Karriere ermöglicht. Ein Schwall grüne „Seljonka“ (seljony=grün), schon ist der politische Gegner mehrere Tage außer Gefecht gesetzt. Schließlich lässt sich mit einem grünen Gesicht schlecht Politik machen.

Schikanen für Regimekritiker

Derartige Angriffe gehören zum Standardrepertoire in der Disziplin „Schikanen für Regimekritiker“. Schon Maria Aljochina von Pussy Riot hatte ihre Ladung Grün abbekommen, ebenso die Oppositionellen Michail Kasjanow und Ilja Jaschin. Alexej Nawalny, der mitten im Wahlkampf ums Präsidentenamt steht, drehte jüngst eine Seljonka-Attake in einen PR-Coup um: Seine Unterstützer färbten sich fortan als Zeichen der Solidarität die Hände mit Seljonka.

Ein Coup, den sich seine Gegner nicht bieten lassen konnten. Vor wenigen Tagen folgte ein neuer Angriff, diesmal jedoch mit ernsthaften Folgen. Weil die Chemikalie Nawalnys Auge getroffen hat, ist das Sehvermögen auf dem betroffenen Auge um 80 Prozent eingeschränkt. Laut Nawalny sind die Ärzte überzeugt, dass die Angreifer andere ätzende Stoffe beigemischt haben. Und während die Polizei nur schleppend ermittelt, haben Blogger dank der Aufzeichnungen der Attacke bereits Aktivisten der kremlfreundlichen SERB-Bewegung als Täter ausfindig gemacht.

SERB gehört wie die „nationale Befreiungsbewegung“ NOD zu jenen Gruppen, die von Politikern des patriotischen Lagers mit Geld versorgt werden. Dafür verfolgen sie Oppositionelle auf Schritt und Tritt, sorgen für Ärger bei Demos oder stürmen Ausstellungen, die nicht dem Verständnis „traditioneller Kunst“ entsprechen. In Russland ist es ein offenes Geheimnis, dass solche Gruppen Verbindungen bis in die Präsidialverwaltung unterhalten.

Unter dem ehemaligen Kreml-Strippenzieher Wladislaw Surkow waren es gewaltbereite Fußballfans, die ungestraft Umweltaktivisten verprügeln durften. Vor zwei Jahren beschuldigte der Gründer der gewaltbereiten Neonaziorganisation BORN, die für mehrere Morde verantwortlich ist, einen früheren Mitstreiter, ebenfalls unter der Schirmherrschaft von Putins Apparat zu stehen.

Konflikte zwischen „Patrioten“ und der Opposition

Mit dem Führungswechsel in der Kreml-Administration wechselten auch die Gruppen. Unter Surkows Nachfolger Wjatscheslaw Wolodin traten aggressive Patrioten, orthodoxe Aktivisten und gewaltbereite Pseudokosaken an die Stelle der Hooligans und Neonazis. Der Zweck blieb der Gleiche.

Doch nun hat die Sache einen Haken. Seit Oktober herrscht der als liberal geltende Sergej Kirijenko in Putins Administration. Als einer der wenigen Mitglieder der jetzigen Elite wohnte er der Trauerfeier zu Ehren des ermordeten Boris Nemzow bei. Seit Kirijenko im Amt ist, kommen von dort immer wieder Signale, die auf eine Mäßigung der Konflikte zwischen den vermeintlichen Patrioten und der Opposition dringen. Die gewöhnlich gut informierte Journalistin Jekaterina Winokurowa schrieb, dass Gouverneure die Anweisung bekommen hätten, die Repressalien einzudämmen. Einer der Gründe: Solche Angriffe steigerten die Popularität der Betroffenen.

Die Mächtigen im Kreml sind daran gewöhnt, alles kontrollieren zu können, das Niveau der Aggression nach Belieben hoch- und herunter zu fahren. Doch die bedingungslose Bereitschaft der Behörden, ihre Handlanger zu decken, hat längst ein Gefühl der völligen Straflosigkeit im Lager der sogenannten Patrioten wachsen lassen. Es scheint, als seien Putin und seine Leute nun in der Rolle von Goethes Zauberlehrling: Die Geister, die sie riefen, werden sie nun nicht mehr los.


Im Gemischten Doppel geben Inga Pylypchuk (Ukraine) und Maxim Kireev (Russland) im wöchentlichen Wechsel persönliche (Ein)-Blicke auf ihre Heimatländer.

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