Wie widerstandsfähig ist Russlands Wirtschaft?
Die russische Wirtschaft erweist sich angesichts der Verhängung weitreichender Sanktionen bisher als „überraschend resilient“. So beschreiben es das Wirtschaftsmagazin „The Economist“ und auch eine Analyse der staatlichen kanadischen Rundfunkgesellschaft „Canadian Broadcasting Corporation“. Was sind die Gründe für die Widerstandsfähigkeit?
Überrascht hat auch, dass der von „S&P Global“ im April durch Befragung von russischen Unternehmen ermittelte „Einkaufsmanager-Index“ nicht weiter gesunken ist. Sowohl im „Verarbeitenden Gewerbe“ als auch im Dienstleistungsbereich erholten sich die Indizes von ihren tiefen Einbrüchen im März beträchtlich. Sie blieben aber deutlich unter der Schwelle, die ein Wachstum der Geschäftsaktivitäten signalisiert. Ein Zeichen, dass die Konjunktur den „Rückwärtsgang“ eingelegt hat.
Das zeigen auch erste Berechnungen des Forschungsinstituts der Vnesheconombank: Im März ist das Bruttoinlandsprodukt gegenüber Februar gesunken. Das Konjunkturforschungsinstitut der Russischen Akademie der Wissenschaften prognostiziert, dass die Industrieproduktion im April 1,5 Prozent niedriger war als vor einem Jahr. Die Frankfurter DekaBank rechnet jetzt damit, dass Russlands gesamtwirtschaftliche Produktion in diesem Jahr um 10 Prozent und 2023 um weitere 2 Prozent abnehmen wird.
Der Rubel hat sich rasch erholt
John Armstrong, Autor des CBC-Berichts „The surprising resiliency of Russia’s economy (and why it won’t last)”, verweist zur Belastbarkeit der russischen Wirtschaft unter anderem auf die rasche Erholung des Rubels. Nach einem Einbruch um rund 30 Prozent habe sich sein Wert fast verdoppelt. Das sei das Ergebnis einiger schneller, geschickter Maßnahmen gewesen:
- Die Möglichkeiten russischer Bürger, Rubel zu verkaufen und Fremdwährungen zu kaufen, wurden stark eingeschränkt.
- Die Regierung verlangt, dass russische Energieexporte in Rubel bezahlt werden.
- Russische Exporteure müssen 80 Prozent ihrer Deviseneinnahmen in Rubel umtauschen.
Nach Ansicht von Experten ist so allerdings nur eine „künstliche Nachfrage“ nach dem Rubel erzeugt worden, schreibt Armstrong. Laut einer Diagnose des „Wall Street Journals“ befinde sich der Rubel in einem von der Zentralbank eingeleiteten „Koma“. Die DekaBank zeigt die rasche Erholung des Rubels in folgender Abbildung.
DekaBank: “Emerging Markets Trends“; 06.05.2022
Russland erzielt bei stark gestiegenen Energiepreisen hohe Exporterlöse
Die Resilienz der russischen Wirtschaft ergibt sich, so Armstrong, vor allem aus den Einnahmen aus Öl- und Gasexporten. Er verweist auf die stark gestiegenen Öl- und Gaspreise. Die DekaBank veröffentlichte zur Entwicklung der Bloomberg-Indizes für die Preisentwicklung von Energie und anderen Rohstoffen folgende Abbildung.
DekaBank: Volkswirtschaft Rohstoffe Mai 2022, 06.05.2022
Die Energierohstoffe (untere dunkle Linie) verteuerten sich mit Stand 04. Mai 2022 gegenüber dem Vormonat laut DekaBank um 18,3 Prozent. Gegenüber dem Vorjahr haben sich die Preise für Energierohstoffe reichlich verdoppelt (+111,8 Prozent).
CREA-Studie: Aus der EU kommen aktuell 71 Prozent der Exporterlöse
Armstrong zitiert zur Entwicklung der russischen Energieausfuhren auch Ergebnisse einer Studie des finnischen „Centre for Research on Energy and Clean Air“, CREA. Das Institut versuchte zu ermitteln, wie hoch die russischen Erlöse aus dem Export von Öl, Gas und Kohle in den beiden Monaten nach dem 24. Februar waren. Es kommt u.a. zu folgenden Schätzungen:
- Insgesamt exportierte Russland in den zwei Monaten fossile Brennstoffe im Wert von 63 Mrd. EUR.
- Die EU importierte davon rund 71 Prozent (rund 44 Mrd. EUR).
- In der EU waren die größten Importeure: Deutschland (9,1 Mrd. EUR), Italien (6,9 Mrd. EUR), die Niederlande (5,6 Mrd. EUR) und Frankreich (3,8 Mrd. EUR).
- Außerhalb der EU waren die größten Importeure: China (6,7 Mrd. EUR) und die Türkei (4,1 Mrd. EUR)
Armstrong rechnete aus, dass Russland aus dem Export von fossilen Brennstoffen damit pro Tag umgerechnet 955 Millionen US-Dollar erlöste.
Von den deutschen Zahlungen entfallen aktuell rund 70 Prozent auf Erdgas
Die Wochenzeitung „Die Zeit“ wertete die CREA-Studie für einen Bericht zur Abhängigkeit Deutschlands von russischen Energielieferungen aus (mit informativen Abbildungen aus dem „Energiemonitor“ von Zeit-Online). Von den gesamten Ausgaben Deutschlands für Energieeinfuhren aus Russland in Höhe von 9,1 Milliarden Euro in den zwei Monaten nach dem 24. Februar entfielen demnach laut CREA rund 70 Prozent auf Erdgas (6,4 Mrd. Euro), rund 29 Prozent auf Erdöl und Mineralölprodukte (2,6 Mrd. Euro) und rund 1 Prozent auf Kohle (93 Mio. Euro).
The Economist: „Russia is back on its feet“
Auch für das britische Wirtschaftsmagazin „The Economist“ erweist sich die russische Wirtschaft bisher als erstaunlich „resilient“ (siehe auch Hinweise in der internationalen Presseschau von Inosmi.ru und RT.com).
„The Economist“ meint unter anderem, die Panik auf den Finanzmärkten, die im Februar einsetzte, habe sich allmählich gelegt. Klar erkennbar sei zwar, dass die russische Wirtschaft schrumpfe. Prognosen, dass es in diesem Jahr einen Rückgang des Bruttoinlandsprodukts um rund 15 Prozent geben werde, begännen aber zu pessimistisch zu erscheinen.
Hauptgrund für die Belastbarkeit der russischen Wirtschaft ist nach Ansicht des Wirtschaftsmagazins die Entwicklung der Erlöse aus dem Energieexport. Im ersten Quartal 2022 seien die Einnahmen des russischen Staates aus dem Verkauf von Kohlenwasserstoffen im Vorjahresvergleich um über 80 Prozent gestiegen. Außerdem verweist auch „The Economist“ auf die CREA-Studie.
Bis zum Ende des Jahres 2022 wird die russische Wirtschaft nach Einschätzung von „The Economist“ noch „ziemlich gut funktionieren“. Danach werde allerdings der von EU-Kommission vorgeschlagene Stopp der Ölimporte aus Russland vollständig umgesetzt werden.
Die Einkaufsmanager-Indizes erholten sich im April zum Teil
Der durch Befragung von Unternehmen von S&P Global ermittelte Einkaufsmanager-Index im Verarbeitenden Gewerbe war im März von 48,6 Punkten auf 44,1 Punkte gesunken. In der jüngsten Umfrage vom 11. bis zum 25. April machte er den Rückgang im März fast wett und stieg auf 48,2 Punkte.
Angesichts der erwarteten tiefen Rezession in Russland dürften viele Beobachter nicht mit der raschen Erholung des Einkaufsmanager-Indexes im April gerechnet haben. Während der Corona-Rezession im Jahr 2020 (BIP-Rückgang im Gesamtjahr: – 2,7 Prozent) war der Einkaufsmanager-Index im Frühjahr 2020 deutlich stärker eingebrochen als jetzt im März 2022.
Der aktuelle April-Messwert blieb aber weiterhin unter der „Wachstumsschwelle“ von 50 Punkten. Das deutet den dritten Monat in Folge auf eine Verringerung der Geschäftsaktivitäten der Unternehmen hin.
Einkaufsmanager-Index im Verarbeitenden Gewerbe
S&P Global Russia Manufacturing PMI: Operating conditions deteriorate further amid sanctions, shortages and weaker demand; 04.05.2022
Laut der Umfrage sank im April nicht nur die Produktion im Verarbeitenden Gewerbe. Auch der Auftragseingang, die Zahl der Beschäftigten und die Lagerbestände gingen zurück.
Die Auswirkungen der Sanktionen machten sich bemerkbar. Die Kaufkraft der Kunden wurde durch steigende Verbraucherpreise geschwächt. Die Produktion sank mit der zweitschnellsten Rate seit Mai 2020. Das Beschäftigungsniveau wurde verringert. Der Absatz ging mit der zweitschnellsten Rate seit August 2020 zurück,
Gleichzeitig stiegen die Einkaufspreise aufgrund der Wechselkursentwicklung und weil Material knapp war. Die Unternehmen gaben die Kostensteigerungen weiter. Sie hoben ihre Verkaufspreise so stark an wie seit Januar 2015 nicht mehr.
Der tief eingebrochene Dienstleistungs-Index erholte sich auch teilweise
Auch der Index im Dienstleistungsbereich, der im März 2022 noch deutlich stärker gesunken war als der Index im Verarbeitenden Gewerbe, erholte sich im April teilweise. Er stieg von 38,1 Punkten auf 44,5 Punkte.
Einkaufsmanager-Index im Dienstleistungsbereich
S&P Global Russia Services PMI: Business activity falls sharply as demand weakens further in April, 06.05.2022
Kombinierter Einkaufsmanager-Index und BIP-Entwicklung
Der kombinierte Index (Verarbeitendes Gewerbe + Dienstleistungen) erholte sich im April von 37,7 Punkten auf 44,4 Punkte. In einer Analysten-Umfrage war hingegen mit einem weiteren Rückgang auf 36 Punkte gerechnet worden, berichtet Alexander Harutyunyan, Chef-Volkswirt von IC „RUSS-INVEST“ in einem Kommentar in Finam.ru.
Die folgende Abbildung zeigt die Index-Entwicklung (blaue Linie) zusammen mit der Entwicklung der jährlichen Veränderungsrate der Quartalswerte des Bruttoinlandsprodukts (orange Linie). Der letzte Wert der BIP-Linie markiert den Anstieg des BIP im 4.Quartal 2021 um 5,0 Prozent gegenüber dem Vorjahresquartal.
Kombinierter Einkaufsmanager-Index und Veränderungen der Quartalswerte des Bruttoinlandsprodukts gegenüber dem Vorjahr in Prozent
S&P Global Russia Composite PMI: Private sector output contracts sharply in April; 06.05.2022
VEB Institut: Im März begann das BIP zu sinken
Zur Entwicklung des Bruttoinlandsprodukts im ersten Quartal 2022 veröffentlichte das Forschungsinstitut der Vnesheconmbank in der letzten Woche erste Berechnungen
Die folgende Abbildung zeigt, dass die gesamtwirtschaftliche Produktion im Februar saisonbereinigt noch auf dem im Januar erreichten Niveau stagnierte. Im März begann sie zu sinken (- 1,2 Prozent gegenüber Februar 2022).
Im gesamten ersten Quartal lag das Bruttoinlandsprodukt auf dem Niveau des vierten Quartals 2021. Es war 3,6 Prozent höher als im ersten Quartal 2021.
Im Vergleich zum Vorjahresmonat stieg das BIP im März nur noch um 1,7 Prozent (Februar: + 4.0 Prozent).
Index des Bruttoinlandsprodukts,
Januar 2008=100; saisonbereinigt
Vnesheconombank Institute: Monatlicher BIP-Index: März 2022
Zu den Trends der Verwendung des Bruttoinlnlandsprodukts im ersten Quartal meint das VEB Institut:
- Der Konsum wuchs schnell. Die privaten Haushalte verwendeten wegen ihrer hohen Inflationserwartungen und der Knappheit einer Reihe von Waren einen Teil ihrer Ersparnisse für den Konsum.
- Die Investititonen der Unternehmen sanken gleichzeitig. Dafür sprechen der Rückgang der Produktion im Maschinenbau und die Abnahme des Imports von Investitionsgütern im ersten Quartal.
- Der Einbruch der Importe am Ende des ersten Quartals könnte auch auf einen Rückgang der Lagerbestände hindeuten.
DekaBank erhöht ihre Rezesssionsprognose für Russland
Wohl vor allem aufgrund der ständigen Ausweitung der Sanktionen gegenüber Russland erwartet die Frankfurter DekaBank für das gesamte Jahr 2022 jetzt einen Rückgang des russischen Bruttoinlandsprodukts um 10 Prozent. Bisher rechnete sie mit einem Rückgang um 8,5 Prozent. Ihre neue Prognose liegt auf dem Rand der Spanne, die die russische Zentralbank für die diesjährige Rezession nennt (- 8 Prozent bis – 10 Prozent).
DekaBank: „Emerging Markets Trends“; 06.05.2022
Daria Orlova schreibt in den monatlich erscheinenden „Emerging Markets Trends“ der DekaBank zur Ausweitung der Sanktionen:
„Auch die Sberbank soll nun mit zwei weiteren Banken aus dem Nachrichtensystem SWIFT ausgeschlossen werden.
Die EU plant nach der Kohle nun auch in Bezug auf Erdöl und Erdölprodukte ein Exportverbot (ab 2023 mit Ausnahmeregelungen für einige Länder). Verboten werden könnten zudem auch Transport-, Finanz- und Versicherungsdienstleistungen im Zusammenhang mit den russischen Ölexporten, was Russland den Export in die Drittländer deutlich erschweren wird.
Im April musste Russland auf seine Ölexporte der Sorte Urals bereits einen Abschlag von über 30% gegenüber Brent gewähren. Die EU-Beschränkungen würden den Abwärtsdruck auf den Preis für russisches Öl noch erhöhen.“
Orlova meint, dass Russland für eine längere Zeit de facto von der globalen Wirtschaft ausgeschlossen bleiben wird, selbst wenn der Handel Richtung Schwellenländer aufrechterhalten werde. Insbesondere das Technologieembargo werde sich mittelfristig deutlich bemerkbar machen: Eine schnelle Konjunkturerholung könne in Russland deshalb nicht erwartet werden. Die DekaBank rechnet in Russland im Jahr 2023 jetzt mit einem weiteren Rückgang des BIP um 2 Prozent.
Ostexperte.de-Artikel zu Konjunktur und Wirtschaftspolitik in Russland von Klaus Dormann:
- Erholung dauert mindestens bis Ende 2025 – Szenarien der Regierung; 03.05.2022
- Ist Russlands Rezession schon 2023 vorbei? Der IWF ist skeptisch; 23.04.2022
- Wie lange dauert die Rezession? „Gemeinschaftsdiagnose“ deutscher Institute; 18.04.2022
- Unicredit rechnet mit noch stärkerem Einbruch als die DekaBank; 11.04.2022
Weitere Lesetipps und Quellen im PDF-Dokument, unter anderem zu:
- Was den Ost-Ausschuss betrifft: Oliver Hermes legt Vorsitz nieder; Klaus Mangold im HB-Interview: „Ich habe mich in Putin geirrt“
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- Wie die Sanktionen Russland schaden: Podcasts mit Bernd Ziesemer und Folker Hellmeyer