Wächst Russlands Wirtschaft auch 2024 um 3,6 Prozent?

Noch im April dürfte die russische Regierung neue Konjunkturprognosen veröffentlichen. Finanzminister Anton Siluanow teilte am 19. April in einer Rede vorab mit, im Jahr 2024 sei ein Wirtschaftswachstum auf dem im Jahr 2023 erreichten Niveau von 3,6 Prozent zu erwarten (Interfax.com).

Der Erste Stellvertretende Ministerpräsident Andrei Belousov hatte sich wenige Tage zuvor zurückhaltender geäußert. Er meinte laut TASS am Rande eines Wirtschaftsforums zwar, dass die bisher für 2024 in der Haushaltsplanung angesetzte Wachstumsrate von 2,3 Prozent erhöht werden könnte. Derzeit werde aber nur eine Anhebung um „Zehntelprozentpunkte“ beraten.

Der IWF prognostiziert ein Prozent mehr Wachstum als die Weltbank

Viel Aufmerksamkeit fand in der letzten Woche auch, dass der Internationale Währungsfonds seine Ende Januar veröffentlichte Prognose für das Wachstum der russischen Wirtschaft kräftig weiter erhöht hat. Der IWF erwartet in seinem „World Economic Outlook“ jetzt für 2024 in Russland nicht nur einen Anstieg der gesamtwirtschaftlichen Produktion von 2,6 Prozent, sondern von 3,2 Prozent.

Über die ausführliche Analyse der Weltbank zur Entwicklung der russischen Wirtschaft, die  kurz vor der gemeinsamen Frühjahrstagung von IWF und Weltbank erschien, wurde viel weniger berichtet. Auch die Weltbank hob ihre Prognose für das diesjährige Wachstum der russischen Wirtschaft stark an. Anfang Januar hatte sie noch einen Anstieg des russischen Bruttoinlandsprodukts von 1,3 Prozent im Jahr 2024 erwartet. Jetzt rechnet sie mit einem Wachstum von 2,2 Prozent, bleibt also einen Prozentpunkt unter der IWF-Prognose.

Viele russische Analysten erwarten 2024 auch nur rund 2 Prozent Wachstum

Die Weltbank-Prognose für 2024 entspricht weitgehend dem Ergebnis der Analysten-Umfrage, die die russische Zentralbank am 17. April veröffentlichte. Vor ihrem am 26. April vorgesehenen Leitzinsentscheid hat die Zentralbank wieder zahlreiche Banken, Forschungsinstitute und Medien zur konjunkturellen Entwicklung befragt. Die 26 Teilnehmer der neuen Umfrage, darunter nur wenige ausländische Analysten, prognostizieren jetzt im Mittelwert, dass Russlands Wirtschaft 2024 um 2,1 Prozent wachsen dürfte. Bei der vorherigen Umfrage in der ersten Märzhälfte war mit einem Anstieg von 1,8 Prozent gerechnet worden.

Die Zentralbank wird ihre mittelfristige Konjunkturprognose anlässlich des Leitzinsentscheides aktualisieren. Bisher veranschlagt sie das diesjährige Wirtschaftswachstum auf 1,0 bis 2,0 Prozent. Laut Kommersant erwarten Analysten des Telegram-Kanals ‘Tverdye tsifry‘ („Hard Numbers“) eine kräftige Anhebung dieser Prognosespanne auf 2,5 bis 3,5 Prozent. Damit würde das von Finanzminister Siluanow angekündigte Wirtschaftswachstum von 3,6 Prozent fast abgedeckt. Die Mehrheit der Analysten erwartet laut Kommersant jedoch, dass die Zentralbank ihre Prognosespanne nicht so stark nach oben verschiebt.

Flaut Russlands Wachstumstempo 2025 weiter ab?

Sehr geteilt sind auch die Einschätzungen zur weiteren Entwicklung der russischen Konjunktur im Jahr 2025. Etliche westliche Beobachter sehen Russlands Wachstum tief einbrechen. Manche russische Experten erwarten hingegen schon im nächsten Jahr eine leichte Beschleunigung des Produktionsanstiegs.

IWF und Weltbank rechnen übereinstimmend damit, dass sich das Wachstumstempo 2025 etwa halbiert. Der IWF geht davon aus, dass die Wachstumsrate von 3,2 Prozent auf nur noch 1,8 Prozent im Jahr 2025 sinkt. Die Weltbank erwartet einen Rückgang von 2,2 Prozent auf 1,1 Prozent.  Die „Gemeinschaftsdiagnose“ der deutschen Konjunkturforschungsinstitute prognostizierte Ende März sogar einen noch etwas stärkeren Einbruch der Wachstumsrate von 2,5 auf 1,1 Prozent. Die Frankfurter DekaBank meint in der April-Ausgabe der „Emerging Markets Trends“ gar, dass die russische Wirtschaft 2025 nur noch um 0,9 Prozent wachsen wird.

Die Teilnehmer der Zentralbank-Umfrage rechnen im Mittelwert hingegen damit, dass der BIP-Anstieg im nächsten Jahr mit 1,7 Prozent nur wenig schwächer sein wird als 2024. Das Forschungsinstitut der staatlichen Bank für Außenwirtschaft („Wneschekonombank“) hob seine Wachstumsprognose für 2025 kürzlich sogar auf 2,3 Prozent an. Diesen BIP-Anstieg hat auch die russische Regierung ihrer bisherigen Haushaltsplanung zugrunde gelegt.

BIP-Prognosen 2023 bis 2025

Veränderung des realen Bruttoinlandsprodukts gegenüber dem Vorjahr in Prozent

Weltbank: Russland hat die Sanktionswirkungen erfolgreich abgemildert

Am 05. April bestätigte das russische Statistikamt Rosstat seine „erste Schätzung“ vom Februar, dass Russlands gesamtwirtschaftliche Produktion im letzten Jahr um 3,6 Prozent gestiegen ist (Trading Economics Chart). Auch die Weltbank geht in ihrem „Macro Poverty Outlook“ für Russland von dieser Schätzung aus.

Als Ursachen für die rasche Erholung der russischen Wirtschaft vom Rückgang der gesamtwirtschaftlichen Produktion um 1,2 Prozent im Jahr 2022 nennt die Weltbank zum einen fiskalische Anreize der russischen Regierung. Die Ausgaben für das Militär seien erhöht worden und verstärkt Kredite vergeben worden.

Außerdem habe Russland die Auswirkungen der Sanktionen erfolgreich abmildern können. Die Beschränkungen des russischen Außenhandels durch die G7-Staaten und die EU hätten zu einer Umlenkung des russischen Außenhandels nach China, Indien, der Türkei, Zentralasien und dem Südkaukasus geführt. Russland habe in neue Infrastruktur und Logistik investiert. Parallel zur Umlenkung der Handelsströme sei der Anteil der russischen Außenhandelstransaktionen in Währungen der sanktionierenden Länder von etwa 80 Prozent im Jahr 2021 auf unter 30 Prozent im Jahr 2023 gesunken.

Die mittel- bis langfristigen Konjunkturaussichten bleiben jedoch „düster“

Trotz der raschen Erholung der russischen Wirtschaft sieht die Weltbank die mittel- und langfristigen Wachstumsaussichten Russlands durch die Sanktionen deutlich beeinträchtigt.

Russland sei einerseits von Beschränkungen einer breiten Palette seiner Ausfuhren betroffen. Durch die Sanktionierung seiner Einfuhren gebe es zudem anhaltende Lücken bei der Versorgung mit einigen technischen Geräten. Die Beschränkungen für russische Exporte hätten Russlands Außenhandelsbilanz (Chart) und den Wechselkurs (Chart) unter Druck gebracht.

Die Weltbank verweist auch auf die Auswirkungen der Sanktionen auf den Staatshaushalt (Chart). Die staatlichen Einnahmen aus dem Energiebereich seien wegen der Sanktionen gesunken. Gleichzeitig seien die Ausgaben für Verteidigung und nationale Sicherheit (Chart: Ausgaben laut SIPRI bis 2022) sowie die Sozialtransfers stark gestiegen. Darüber hinaus hebt die Weltbank die Knappheit von Arbeitskräften hervor (Chart: Arbeitslosenquote). In Russland mangele es auch an Arbeitskräften für Tätigkeiten außerhalb des Militärs. Die Lage auf dem Arbeitsmarkt habe sich aufgrund der beschleunigten Abwanderung ins Ausland deutlich verschärft. Dies erhöhe auch den Inflationsdruck (Chart).
Insgesamt erwartet die Weltbank, dass der Verlust qualifizierter Arbeitskräfte, die beschränkten Möglichkeiten zur Einfuhr von Technologie sowie der Verlust produktiver  Direktinvestitionen ausländischer Unternehmen die mittel- bis langfristigen Wachstumsaussichten beeinträchtigen.

Das Wachstum des realen Bruttoinlandsprodukts der russischen Wirtschaft wird laut der neuen Weltbank-Prognose 2024 auf 2,2 Prozent sinken und 2025 und 2026 nur noch 1,1 Prozent erreichen.

Entwicklung der realen Bruttoinlandsprodukts und seiner Verwendung

Veränderungen gegenüber Vorjahr in Prozent

World Bank: Russian Federation, Macro Poverty Outlook; in: Europe and Central Asia Economic Update, 11.04.24

Rückblick: Investitionen und Verbrauch trieben Russlands Wachstum 2023

Russlands Wirtschaftswachstum von 3,6 Prozent im Jahr 2023 wurde laut der Weltbank von den erhöhten Militärausgaben und Subventionen für die Aufnahme von Hypotheken unterstützt. Nach Angaben der obigen Tabelle der Weltbank wuchsen die Brutto-Anlageinvestitionen um 10,5 Prozent.

Der Verbrauch der privaten Haushalte stieg 2023 um 6,0 Prozent, der Staatsverbrauch um 3,7 Prozent. Insgesamt trug der Verbrauch knapp 4 Prozentpunkte zum Wachstum des BIP bei (siehe folgende Abbildung; hellblauer Säulenteil).

Die Brutto-Anlageinvestitionen (violetter Säulenteil) und der Lageraufbau (grauer Säulenteil) steuerten insgesamt auch rund 4 Prozentpunkte zum Wachstum bei.

Reales Bruttoinlandsprodukt
Veränderung gegenüber Vorjahr in Prozent (blaue Linie), Beiträge der Verwendungsbereiche in Prozentpunkten

World Bank: Russian Federation, Macro Poverty Outlook; in: Europe and Central Asia Economic Update, 11.04.24

Wie die obige Abbildung zeigt, wurde das Wachstum 2023 durch die außenwirtschaftliche Entwicklung gebremst. Den weiteren realen Rückgang der Exporte im Jahr 2023 schätzt die Weltbank auf 8,2 Prozent. Die realen Importe sind, so die Weltbank, gleichzeitig um 16,9 Prozent gestiegen (nach einem Rückgang um 11,0 Prozent im Jahr 2022). Die wachstumsdämpfende Wirkung des Rückgangs der Exporte und des Anstieg der Importe betrug laut der Abbildung insgesamt rund 5 Prozentpunkte.

Der Anstieg der Produktion wurde durch eine expansive Finanzpolitik vorangetrieben. Das gesamtstaatliche Defizit erhöhte sich von 1,4 Prozent des BIP im Jahr 2022 auf 2,3 Prozent des BIP im Jahr 2023.

Welche Branchen 2023 wuchsen

Auf der Erstellungsseite des Bruttoinlandsprodukts verzeichneten nach Angaben der Weltbank u.a. folgende Wirtschaftsbereiche einen Anstieg der Produktion:

Das Verarbeitende Gewerbe wuchs um rund 7 Prozent. Die Rüstungsproduktion stieg stark. Außerdem wurden bisherige Einfuhren durch inländische Produkte ersetzt.

Die Dienstleistungsbereich erholte sich um 7,3 Prozent, der Finanzsektor wuchs um 8,6 Prozent und die Produktion des Baugewerbes stieg um rund 7 Prozent.

Trotz der Sanktionen gegen Ölexporte ging die Produktion im Rohstoffbereich nur um rund 2 Prozent zurück.

Außenwirtschaft: Der Leistungsbilanzüberschuss ist stark gesunken

Die Leistungsbilanz blieb im Jahr 2023 im Überschuss, schrumpfte jedoch im Vergleich zu 2022 um das Fünffache, da die Exporteinnahmen einbrachen und die Importe wieder anzogen (Chart).

Die Kapitalabflüsse ins Ausland hielten an und verstärkten den Druck auf den Wechselkurs. Der Rubel wertete im Jahr 2023 gegenüber dem US-Dollar um rund 20 Prozent ab. Er stabilisierte sich jedoch, unterstützt durch Devisenverkäufe der Zentralbank (Chart).

Verstärkter Inflationsdruck

Der Anstieg der gesamtwirtschaftlichen Produktion war 2023 nach Einschätzung der Weltbank höher als das Wachstumspotenzial. Zusammen mit der Abwertung des Rubels hat sich damit der Inflationsdruck verstärkt (Chart). Im Jahresdurchschnitt stiegen die Verbraucherpreise um rund 6 Prozent.

Die Zentralbank erhöhte ihren Leitzins bis Dezember um 8,5 Prozentpunkte auf 16 Prozent (Chart). Die Vorschriften zum Tausch von Devisen in Rubel wurden verschärft.

Angespannter Arbeitsmarkt

Die Arbeitslosenquote (Chart) erreichte im Jahr 2023 den historisch niedrigen Wert von 3 Prozent, was größtenteils auf Einberufungen zum Militärdienst und die Abwanderung einer großen Zahl junger russischer Männer ins Ausland zurückzuführen ist.

Im Jahr 2023 kam es außerdem zu einer Umverteilung der Arbeitskräfte hin zu Sektoren, die auf die Rüstungsproduktion und den Ersatz bisheriger Einfuhren ausgerichtet sind.

Ausblick der Weltbank bis 2026

Zu ihrer Prognose, dass Russlands Wirtschaftswachstum auf 2,2 Prozent im Jahr 2024 und auf 1,1 Prozent im Jahr 2025 und im Jahr 2026 sinken wird, meint die Weltbank:

Die Inlandsnachfrage bleibt der wichtigste Wachstumsmotor. Sie wird durch eine expansive Fiskalpolitik gestützt. Die Rüstungsproduktion wird schnell gesteigert..

Dabei wird sich das Wachstum der Investitionen aber voraussichtlich abschwächen, da die Kreditbedingungen verschärft wurden und staatlich subventionierte Programme zur Aufnahme von Hypothekenkrediten eingeschränkt werden. Die Wachstumsrate der Bruttoanlageinvestitionen dürfte von 10,5 Prozent im Jahr 2023 auf 4,5 Prozent im Jahr 2024 sinken. Das Wachstum des privaten Verbrauchs dürfte sich sogar von rund 6 Prozent auf nur noch 1,4 Prozent im Jahr 2024 abschwächen. Das Wachstum des Staatsverbrauchs dürfte hingegen gleichzeitig nur von 3,7 Prozent auf 2,8 Prozent abnehmen.

Die Erhöhung der staatlichen Ausgaben dürfte zur Folge haben, dass der gesamtstaatliche Haushalt 2024 noch ein Defizit von 2,1 Prozent des BIP aufweist. Danach dürfte das Defizit nur langsam sinken (2025: – 1,7 Prozent des BIP; 2026: – 1,3 Prozent des BIP).

Der Anstieg der Verbraucherpreise wird im Jahresdurchschnitt 2024 voraussichtlich auf 6,9 anziehen (2023: + 6,0 Prozent). Bis 2026 wird er sich dann dem von der Zentralbank angestrebten Ziel von 4 Prozent allmählich nähern (2025:  + 4,4 Prozent; 2026: + 4,2 Prozent).

Der Leistungsbilanzüberschuss, der im Jahr 2023 bereits auf 2,5 Prozent des BIP gesunken ist, dürfte 2024 weiter auf 2,1 Prozent des BIP abnehmen, vor allem wegen der steigenden Importe.

Die Weltbank merkt zu ihren Prognosen an, dass die russische Regierung die Veröffentlichung von Wirtschaftsdaten eingeschränkt hat, vor allem von Daten zur außenwirtschaftlichen Entwicklung. Das erschwere die Erstellung von Prognosen. Mögliche weitere Mobilisierungs- und Sanktionsrunden stellten ein „negatives Risiko“ für die Prognosen dar. Auch eine striktere Einhaltung der Sanktionen könnte erhebliche Auswirkungen auf die Wirtschaftsentwicklung haben, vor allem, wenn sich daraus Folgen für die Öl- und Gaseinnahmen ergeben oder der Aufbau neuer Handelsverbindungen im Rohstoffbereich gestört wird.

Ostexperte.de-Artikel zu Konjunktur und Wirtschaftspolitik in Russland von Klaus Dormann:

Weitere Lesetipps und Quellen im PDF-Dokument, unter anderem zu:

Titelbild
Victorgrigas, The World Bank Group, Size changed to 1040x585px., CC BY-SA 3.0