Kontrolliert der Kreml noch die Geister, die er rief? Vor wenigen Tagen wurde der Korruptionsjäger und Oppositionsführer Alexej Nawalny Opfer eines Angriffs mit einer giftgrünen, antiseptischen Flüssigkeit; es war bereits das zweite Mal binnen weniger Wochen. Seither bangt Nawalny um sein rechtes Auge. Offensichtlich war der Flüssigkeit, die in jeder Apotheke frei verkäuflich ist, Säure beigemischt.
Der Angriff war zudem gefilmt worden; ein Mitschnitt wurde im staatlichen TV gezeigt. Die Gesichter des Angreifers und eines Begleiters waren verpixelt, doch kurz darauf entdeckte jemand das unverpixelte Video in den Katakomben der TV-Webseite. Seither weiß ganz Russland, dass es sich um Aktivisten der rechtsnationalen Gruppe SERB gehandelt hat. Ihre Namen sind bekannt. Der Staat bleibt untätig.
Dass der Kreml die patriotischen Kräfte bewusst instrumentalisiert, ist spätestens seit den zentral gesteuerten und finanzierten Bewegungen “Naschi” und “Anti-Maidan” bekannt. Als Zauberlehrling bleibt der Politstratege Wladislaw Surkow in Erinnerung, der seither zum Präsidentenberater in Sachen Abchasien und Südossetien zurückgestuft wurde.
Umstritten ist, inwieweit auch gewalttätige Attacken bis hin zu Mordanschlägen vom Kreml gelenkt und initiiert sind. Putingegner gerade im Ausland, Russen wie Nichtrussen, sind mit dem Vorwurf rasch zur Hand, und die liberale westliche Presse greift ihn nur allzu gern auf. Die Wahrheit dürfte wesentlich komplexer sein; in dem riesigen russischen Staatsgebilde, das auch de facto halbsouveräne Republiken wie Tschetschenien umfasst, verschwimmen die ausfransenden Ränder mit allerlei politischem Extremismus und der organisierten Kriminalität.
Für den Kreml ist die Entwicklung eher eine Gefahr. Die allermeisten Russen können sich mit einem autoritären Staat einrichten, solange der für Stabilität und Ordnung sorgt. Außerstaatliche Gewalt, die vom Staat nicht unterbunden wird, erodiert diesen Nexus jedoch. Es beginnt mit Vigilanten und endet mit Todesschwadronen. Und mit dem Ende des Staats.