Die posthume Renationalisierung der Sowjetgeschichte
Spätestens seit dem Ende der Sowjetunion hat in allen Nachfolgestaaten eine rege Neubewertung der über siebzigjährigen kommunistischen Herrschaft eingesetzt, die selten frei von nationalen Egoismen ist. Dabei gehen alle Seiten nicht gerade zimperlich mit der eigenen Verstrickung in die Verbrechen des kommunistischen Regimes um: Sie wird in der Regel geleugnet oder bagatellisiert!
Eine „Topographie des Terrors“ findet man seit einigen Jahren nicht nur rund um das ehemalige Reichssicherheitshauptamt in Berlin, sondern auch in der georgischen Hauptstadt Tbilisi. Gemeint ist hier der rote, insbesondere der stalinistische Terror. Anhand einer Reihe von Gebäuden und Plätzen wird hier akribisch demonstriert, wie die georgische Bevölkerung unter der kommunistischen Terrorherrschaft zu leiden hatte. In der Ukraine fallen die Lenin-Denkmäler, Straßen siegreicher Generäle der Roten Armee werden zugunsten ukrainischer Nationalisten aus der Zwischenkriegszeit umbenannt und der Tag des Sieges über Hitler-Deutschland wird schon mal westkompatibel vom 9. auf den 8. Mai vorverlegt. Dagegen steht vor dem Michaeliskloster in Kiew das Denkmal für die Opfer des „Holodomor“, der Hungerkatastrophe 1932/33, schon seit Anfang der Neunziger Jahre.
In den Nachfolgestaaten der UdSSR, die auf EU- und NATO-Mitgliedschaft spekulieren, ist die Dekommunisierung in vollem Gange. Parallel dazu werden neue nationale Geschichtsnarrative gebastelt und die laufen in der Regel auf einen simplen Satz hinaus: Schuld am Kommunismus waren immer nur die Russen! Nicht Vertreter einer bestimmten Ideologie waren also die Täter, sondern Vertreter einer bestimmten Nation. Dasselbe gilt für die Opfer: Opfer waren nicht Kulaken, Kleinbauern, Adlige, Priester, Dissidenten, unliebsame Wissenschaftler und Künstler, sondern schlicht alle Völker der ehemaligen Sowjetunion – außer den Russen! Mit einem Wort: Wir sind gerade Zeugen eines bemerkenswerten geschichtsrevisionistischen Prozesses, den man etwas sperrig-akademisch als ‚posthume Renationalisierung der Sowjetgeschichte‘ bezeichnen könnte.
Nur die Russen?
Natürlich stimmen diese voluntaristisch konstruierten schrägen Narrative hinten und vorne nicht: Stalin und Berija zum Beispiel waren Georgier. Auch Vertreter anderer Nationalitäten wie der Schlächter der Kronstädter Matrosen, Trotzki, der Gründer der berüchtigten Tscheka, Dserschinski, die Regisseure der stalinistischen Schauprozesse Wyschinski und Jagoda sowie der Killer von Katyn und Völkerverschieber Anastas Mikoyan waren Verbrecher des Sowjetregimes. In der 60 km westlich von Tiflis gelegenen georgischen Geburtsstadt Stalins, Gori, befindet sich noch heute ein Stalin-Museum, dessen originärer Sowjetmief vermutlich alles übertrifft, was an analogen Bauwerken und Gedenkstätten in Russland noch existiert – in der georgischen „Topographie des Terrors“ allerdings nirgends auftaucht. (Man stelle sich vor, in Braunau gäbe es noch heute ein ‚dem großen Sohne Österreichs‘ exklusiv gewidmetes Museum, inklusive ‚Hitler-Wein‘ als Merchandising-Produkt!) Und gehungert wurde zu Beginn der Dreißiger Jahre auch außerhalb der Ukraine: Nicht zuletzt in den fruchtbaren Kuban- und Schwarzerdegebieten, im Nordkaukasus und in Kasachstan. Auch Russen sind dieser staatlich induzierten Hungerkatastrophe zu Hunderttausenden zum Opfer gefallen.
Aber die neuen Narrative dienen nicht nur der Reinwaschung der eigenen Geschichte. Sie lassen sich auch für die ideologische Auseinandersetzung im Neuen West-Ost-Konflikt trefflich instrumentalisieren. So versuchten die GRÜNEN im Zuge der Krim-Krise und des kriegerischen Konfliktes in der Ostukraine (vergeblich) im Bundestag eine Resolution über die „Historische Verantwortung Deutschlands für die Ukraine“ durchzusetzen. Demnach wurde am 22. Juni 1941 nicht die Sowjetunion, sondern die Ukraine von der Wehrmacht überfallen. Unwillkürlich fragt man sich: Wo bleibt da Belarus, das im II. Weltkrieg bekanntlich ein Viertel seiner Bevölkerung verlor? Aber Belarus hat sich im neuen Kalten Krieg nicht eindeutig auf Seiten des Westens positioniert und kommt daher (noch?) nicht in den Genuss grüner Sonderfürsorge.
Die Wortwahl entscheidet
Wie die postsowjetischen Staaten die Epoche der Sowjetunion verarbeiten, ist deren Angelegenheit. Für die Auseinandersetzung in Deutschland schlage ich folgenden Sprachgebrauch vor: Nicht die Ukraine (wahlweise Belarus, Russland) wurde im II. Weltkrieg Opfer schwerster deutscher Verbrechen, sondern auf dem Gebiet der heutigen Ukraine (wahlweise Belarus, Russland) wurden im II. Weltkrieg schwerste Verbrechen von Deutschen begangen! Diese Wortwahl ist etwas umständlicher, dafür jedoch resistent gegen posthume nationalistische Vereinnahmungen.
Die Konstruktion differenzierter Geschichtserzählungen, die im Diskurs mit anderen betroffenen Nationen eindimensionale Täter-Opfer-Polarisierungen überwinden und die eigene Mittäterschaft Schritt für Schritt integrieren, ist ein äußerst mühsamer, schmerzhafter Prozess. Er wird vermutlich, wie nicht zuletzt das Ringen um die Vergangenheitsbewältigung in Deutschland gezeigt hat, Jahrzehnte dauern.
Einstweilen sollten alle Seiten zumindest auf allzu simple Schuldzuweisungen verzichten.
^*^Dieser Essay erschien zuerst bei RT Deutsch.