Nach ersten Schätzungen des russischen Wirtschaftsministeriums ist Russlands gesamtwirtschaftliche Produktion im September 5,2 Prozent höher gewesen als vor einem Jahr. Auch im gesamten dritten Quartal wuchs sie im Vorjahresvergleich um 5,2 Prozent.
In den ersten neun Monaten des Jahres 2023 war Russlands reales Bruttoinlandsprodukt nach Schätzung des Ministeriums 2,8 Prozent höher als vor einem Jahr. Dieses Wirtschaftswachstum erwartet die Regierung in ihrer Haushaltsplanung auch für das gesamte Jahr 2023.
Immer mehr Analysten nähern sich dieser Prognose weitgehend an. Bei einer Reuters-Umfrage Anfang November rechneten die 12 Teilnehmer im Durchschnitt für 2023 mit einem Wirtschaftswachstum von 2,5 Prozent. Anfang Oktober hatten sie noch ein etwas schwächeres Wachstum von 2,3 Prozent erwartet. Das Ergebnis der Reuters-Umfrage deckt sich mit dem Ergebnis der Mitte Oktober veröffentlichten Analysten-Umfrage der russischen Zentralbank.
2024 erwarten viele eine deutliche Abschwächung des Wachstums
Im Jahr 2024 erwarten die Teilnehmer beider Analysten-Umfragen einen deutlichen Rückgang des Wirtschaftswachstums auf nur noch 1,5 Prozent. Die russische Zentralbank schließt in ihrer Ende Oktober veröffentlichten eigenen mittelfristigen Prognose im nächsten Jahr auch eine Abschwächung des Wachstums auf nur noch 0,5 Prozent nicht aus. Demgegenüber rechnet die Regierung in ihrer Haushaltsplanung für 2024 mit einem Wachstum von 2,3 Prozent.
„The Bell“: Regierung und Zentralbank verfolgen gegensätzliche Ziele
Das Internet-Magazin „The Bell“ meint, die russische Zentralbank habe mit ihrer am 27. Oktober vorgenommenen weiteren Erhöhung des Leitzinses von 13 auf 15 Prozent zwar einen Schritt getan, mit dem sie die Inflation einschränken könnte. Mit dieser Leitzinserhöhung drohe aber eine noch stärkere „Militarisierung“ der Wirtschaft. Sie werde den Druck auf die Wirtschaft außerhalb des Militärsektors weiter verstärken.
Vereinfacht gesagt, so „The Bell“, stehen sich in der russischen Wirtschaftspolitik folgende Positionen von Regierung und Zentralbank gegenüber:
Die Regierung treibt das Wachstum der Wirtschaft an und beschleunigt das Inflationstempo, indem sie Geld in rüstungsnahe Industriezweige pumpt und die Sozialausgaben steigert.
Die Zentralbank versucht hingegen, die Inflation zu bremsen, indem sie die Zinsen erhöht und dafür Wachstumsmöglichkeiten opfert.
„The Bell“ erwartet, dass der Rüstungssektor aufgrund der Aufträge der Regierung weiter wachsen wird. Das bedeute, dass der drohende Rückgang der Produktion die „zivilen“ Teile der russischen Wirtschaft am härtesten treffen werde.
„Negativ-Szenario“ von Anton Tabakh: „Stagflation“ in der „Zivil-Wirtschaft“
„The Bell“ verweist auf ein „Negativ-Szenario“, das Anton Tabakh (Chef-Volkwirt der Rating-Agentur Expert RA) angesichts der strafferen Geldpolitik für die Entwicklung der russischen Wirtschaft im nächsten Jahr entwickelt habe.
In diesem „Negativ-Szenario“ bleibe die Inflation hoch. Der Preisanstieg könne im Gefolge der Sanktionen durch hohe Einfuhrpreise, einen schwachen Rubel, staatliche Ausgaben und die Knappheit an Arbeitskräften angetrieben werden. Gleichzeitig könnten die hohen Zinsen in den Teilen der russischen Wirtschaft, die kein prioritäres Ziel für öffentliche Ausgaben seien – also in Sektoren außerhalb des militärischen Bereiches und der Infrastruktur – zu einer Rezession führen. Tabakh warne, das starke Wachstum der militärischen Bereiche Russlands könne letztendlich also eine „Stagflation“ in den „zivilen“ Bereichen der Wirtschaft verdecken (siehe dazu Artikel von Anton Tabakh in Moscow Daily News und Forbes.ru).
Das Finanz-Unternehmen Finam erwartet 2024 eine Halbierung des Wachstums
Olga Belenkaya, Chef-Volkswirtin des Finanzunternehmens Finam, das auch an den Konjunktur-Umfragen der Zentralbank teilnimmt, meint zu den Auswirkungen der Verdoppelung der Leitzinsen seit Juli, die Kreditvergabe und die inländische Nachfrage dürften sich deutlich abkühlen. Letztlich werde sich das Wachstum der Produktion verlangsamen. Dieser Effekt werde aber erst gegen Ende des Jahres 2023 und im nächsten Jahr eintreten. Davon geht Belenkaya in einer ausführlichen Analyse der von Rosstat veröffentlichten Konjunkturdaten für die ersten neun Monate des Jahres 2023.
Belenkaya erwartet, dass Russlands gesamtwirtschaftliche Produktion im Jahr 2023 gegenüber 2022 um 2,5 bis 2,7 Prozent wachsen dürfte. 2024 werde sich das Wirtschaftswachstum aber voraussichtlich etwa halbieren und nur noch 1,2 bis 1,3 Prozent erreichen.
BIP-Prognosen für Russland 2023 und 2024
Veränderung des realen Bruttoinlandsprodukts gegenüber dem Vorjahr in Prozent
VEB-Institut: Russlands Wirtschaft wuchs im September beschleunigt
Laut ersten Schätzungen des Wirtschaftsministeriums stieg die gesamtwirtschaftliche Produktion im September gegenüber dem Vormonat saison- und kalenderbereinigt um 0,3 Prozent. Im August ist sie laut dem Ministerium gegenüber Juli um 0,4 Prozent gestiegen.
Die ersten Schätzungen des Wirtschaftsministeriums und einiger Institute zur saison- und kalenderbereinigten monatlichen Entwicklung des Bruttoinlandsprodukts unterscheiden sich allerdings teilweise beträchtlich. So veranschlagt das Forschungsinstitut der staatlichen Wneschekonombank (Bank für Außenwirtschaft) das Wachstum im September gegenüber August nicht auf 0,3 Prozent, sondern auf 0,5 Prozent. Den Anstieg im August gegenüber Juli schätzt es hingegen nur auf 0,1 Prozent (Wirtschaftsministerium: + 0,4 Prozent).
Die folgende Abbildung des VEB-Instituts zeigt, dass sich die gesamtwirtschaftliche Produktion in Russland ziemlich stetig von ihrem tiefen Einbruch im Frühjahr 2022 erholt hat und inzwischen das vor dem Ukraine-Krieg Ende 2021 erreichte Niveau übertrifft.
Index des realen Bruttoinlandsprodukts (Januar 2014 = 100)
saison- und kalenderbereinigt
VEB Institute: World Economy and Markets Review, 03.11.23
Laut VEB-Institut war die Landwirtschaft im September wichtigster Wachstumsmotor.
Beiträge zum Wachstum im September kamen auch vom „Verarbeitenden Gewerbe“, vom Bereich „Bergbau, Förderung von Rohstoffen“, vom Einzelhandel und der Gastronomie.
Gebremst wurde das Wachstum im September von der Produktionsentwicklung der Bauwirtschaft, vom Personen- und Warentransport, vom Dienstleistungsbereich und von der Versorgung mit Strom, Gas und Wasser.
Der Einzelhandel hat noch viel Aufholbedarf
Zu seinen Schätzungen der konjunkturellen Entwicklung im Verbrauchsbereich veröffentlichte das VEB-Institut folgende Abbildung. Die schwarze Linie zeigt, dass der reale Einzelhandelsumsatz im September gegenüber August zwar saison- und kalenderbereinigt weiter gestiegen ist (+ 0,3 Prozent). Der reale Einzelhandelsumsatz ist aber immer noch deutlich niedriger als Anfang 2022 vor dem Ukraine-Krieg.
Der reale Umsatz im Dienstleistungsbereich (obere grüne Linie) hat sich hingegen längst von seinem moderaten Rückgang nach Beginn des Krieges erholt. Im September fiel er laut Schätzung des VEB-Instituts gegenüber August um 0,8 Prozent zurück.
Reale Umsätze im Einzelhandel und im Dienstleistungsbereich
und Reallöhne (Januar 2014 = 100)
VEB Institute: World Economy and Markets Review, 03.11.23
Im Vergleich zum September 2022 ist der Einzelhandelsumsatz real um 12,2 Prozent gestiegen, der Umsatz mit Dienstleistungen um 4,1 Prozent.
Hintergrund für die Nachfrage nach Dienstleistungen und im Einzelhandel ist die Entwicklung der Reallöhne, für die Daten bis August vorliegen (obere graue Linie). Laut den Schätzungen des VEB-Instituts stiegen sie im August gegenüber Juli um 0,8 Prozent.
Die Erholung der Realeinkommen stockte im dritten Quartal
Das VEB-Institut veröffentlichte in seinem Wochenbericht auch die folgende Abbildung zur Entwicklung des real verfügbaren Einkommens der Bevölkerung seit Ende 2013.
Der Index der Einkommen hat sich vom dritten Quartal 2022 bis zum zweiten Quartal 2023 kräftig erholt. Im dritten Quartal 2023 ist er jedoch laut dem VEB-Institut um 0,9 Prozent gegenüber dem Vorquartal gesunken.
Die real verfügbaren Einkommen übertrafen im dritten Quartal ihr Vorjahresniveau laut Rosstat zwar um 5,1 Prozent. Sie waren zuletzt aber noch gut 2 Prozent niedriger als Ende 2013.
Index der real verfügbaren Einkommen
(4. Quartal 2013 = 100)
VEB Institute: World Economy and Markets Review, 03.11.23
Der Preisanstieg zehrt an den Einkommen
Laut dem VEB-Institut betrug der jährliche Anstieg der Verbraucherpreise in der Woche bis zum 30. Oktober wie in der Vorwoche 6,6 Prozent. Im September (siehe letzte Säule in der folgenden Abbildung) hatte sich der Preisanstieg gegenüber dem Vorjahresmonat auf 6,0 Prozent beschleunigt.
Anstieg der Verbraucherpreise gegenüber dem Vorjahr in Prozent
Beiträge von Lebensmitteln, Nicht-Lebensmitteln und Dienstleistungen zur Inflationsrate in Prozentpunkten; Schätzung des VEB-Instituts
VEB Institute: World Economy and Markets Review, 03.11.23
Das VEB-Institut berichtet, bei einer breiten Palette von Nahrungsmitteln und Dienstleistungen sei in der letzten Oktober-Woche eine Verlangsamung des Preisanstiegs zu beobachten gewesen. Der Preisanstieg habe sich auf das niedrigste Niveau der letzten vier Wochen verlangsamt.
Im Dezember wird der jährliche Anstieg der Verbraucherpreise laut der Prognose des Wirtschaftsministeriums 7,5 Prozent betragen. Die Zentralbank erwartet eine Inflationsrate von 7 bis 7,5 Prozent. Die Stellvertretende Ministerpräsidentin Victoria Abramchenko geht davon aus, dass auch die Lebensmittelpreise im Dezember im Jahresvergleich nicht stärker als 7,5 Prozent steigen.
Wo steht die russische Wirtschaft im Vorjahresvergleich und im Vergleich zu 2021?
Olga Belenkaya hat in ihrer Konjunktur-Analyse für September 2023 in einer Tabelle zusammengestellt, wie sich die Konjunkturindikatoren zum einen im Vergleich mit dem September 2022 entwickelt haben. Sie berechnete aber auch die Veränderungen gegenüber dem „Vorkriegsjahr“ 2021.
Der reale Umsatz im Einzelhandel war in den ersten neun Monaten des Jahres 2023 zwar 4,7 Prozent höher als im Vorjahr. Das im „Vorkriegsjahr“ 2021 von Januar bis September erreichte Niveau unterschritt er aber noch um 0,8 Prozent, weil der reale Umsatz im Bereich der Nicht-Lebensmittel noch 2,6 Prozent niedriger war als vor zwei Jahren.
Im Großhandel war der reale Umsatz in den ersten neun Monaten des Jahres 2023 sogar 8,3 Prozent niedriger als von Januar bis September 2021.
Besonders kräftig gestiegen sind die realen Umsätze im Vergleich zum Vorkriegsjahr 2021 in den Bereichen „Gastgewerbe“ und „private Dienstleistungen“. In den ersten neun Monaten hat sich der Umsatz von Hotels und Gaststätten in Russland im Vergleich zum Jahr 2021 real um rund 21 Prozent erhöht. Der Umsatz im Bereich der privaten Dienstleistungen stieg real um rund 11 Prozent.
Insgesamt hat sich nach Angaben des Wirtschaftsministeriums der jährliche Umsatzanstieg in den Bereichen Einzelhandel, Gastgewerbe und private Dienstleistungen im September 2023 auf real 10,0 Prozent beschleunigt. Im Vergleich zum September vor zwei Jahren stieg der Umsatz um real 2,1 Prozent.
Umsatz konsumnaher Wirtschaftsbereiche, Einkommen und Arbeitslosenquote
Quelle: Olga Belenkaya, Finam.ru: Economic activity in Russia continued to grow, but “distortions” in industry dynamics persist, 02.11.23
Aktuell fast 10 Prozent höhere Reallöhne bei sehr niedriger Arbeitslosigkeit
Die Lage auf dem Arbeitsmarkt bezeichnet Olga Belenkaya als weiterhin sehr angespannt. Die Arbeitslosenquote habe im September den dritten Monat in Folge auf einem historischen Tiefstand von 3,0 Prozent verharrt.
Das begünstige den Anstieg der Löhne. Er habe sich im August beschleunigt. Real seien die Löhne 9,5 Prozent höher gewesen als im August 2022. Am stärksten seien die Löhne – wie die Produktion – im Verarbeitenden Gewerbe gestiegen, vor allem in der Rüstungsindustrie und in Betrieben mit Produkten zur Substitution von Einfuhren.
Die Entwicklung in Industrie, Bauwirtschaft, Landwirtschaft und Warentransport
Die Produktion des „Verarbeitenden Gewerbes“ stieg im September 2023 im Vorjahresvergleich um 10,9 Prozent. Bei einem Rückgang der Produktion im Bereich „Bergbau, Förderung von Rohstoffen“ wuchs die Industrieproduktion insgesamt im Vorjahresvergleich zuletzt um 5,6 Prozent.
Die Industrieproduktion stieg in den ersten neun Monaten des Jahres 2023 im Vorjahresvergleich insgesamt um 3,3 Prozent. Bei einer 1,2 Prozent niedrigeren Produktion im Bereich „Bergbau, Förderung von Rohstoffen“ war die Produktion des Verarbeitenden Gewerbes 7,1 Prozent höher als im Vorjahreszeitraum.
Produktion von Industrie, Bauwirtschaft und Landwirtschaft;
realer Umsatz beim Warentransport
Quelle: Olga Belenkaya, Finam.ru: Economic activity in Russia continued to grow, but “distortions” in industry dynamics persist, 02.11.23
Saison- und kalenderbereinigt stagnierte die Industrieproduktion laut ersten Berechnungen des VEB-Instituts im August und September fast (siehe Ostexperte-Artikel vom 31. Oktober mit Abbildung des VEB-Instituts).
Die Bauwirtschaft wuchs viel stärker als die Industrie
Der Anstieg der Produktion der Bauwirtschaft war in den ersten neun Monaten des Jahres 2023 im Vorjahresvergleich mit 8,8 Prozent deutlich höher als der Anstieg der gesamten Industrieproduktion (+ 3,3 Prozent). Im Vergleich mit den ersten neun Monaten des Vorkriegsjahres 2021 stieg die Bauproduktion sogar um 13,6 Prozent, rund dreimal so stark wie die Industrieproduktion (+ 4,7 Prozent).
Die Produktion der Landwirtschaft war im September 2023 zwar 12,7 Prozent höher als vor einem Jahr. Im Zeitraum Januar bis September 2023 übertraf sie ihre Produktion im Vorjahr aber nur um 1,3 Prozent.
Schwache Entwicklung des Warentransports
Der reale Umsatz im Warentransport war im September 2023 nur 1,4 Prozent höher als im Vorjahresmonat. In den ersten neun Monaten unterschritt der Umsatz sein Vorjahresniveau sogar noch um 1,3 Prozent. Im Zwei-Jahres-Vergleich zum Vorkriegsjahr 2021 war er in den ersten neun Monaten sogar 2,5 Prozent niedriger.
Ostexperte.de-Artikel zu Konjunktur und Wirtschaftspolitik in Russland von Klaus Dormann:
- Die Verdoppelung des Leitzinses wird das BIP-Wachstum bremsen, 31.10.23
- Zentralbank-Umfrage: 2024 flaut das Wachstum in Russland ab und die Inflation ist hoher als 2023, 24.10.23
- WIIW: Konjunktur in Russland und der Ukraine im Zeichen des Krieges, 18.10.23
- IWFund Weltbank erwarten in Russland deutlich weniger Wachstum als die Regierung, 11.10.23
Weitere Lesetipps und Quellen im PDF-Dokument, unter anderem zu:
- Wirtschaftswoche: Kostet Winterhall-DEA den deutschen Staat Milliarden?
- Russisches Gas für Österreich: Artikel von „Business-Insider“ und „Der Standard“
- Energie aus Russland für die EU: Die Zeit: „Dreckige Geschäfte“; Der Spiegel: „Löchrige Sanktionen“
- Podcast “Zahlen, Daten, Fakten – Komakt”: Leitzinserhöhung und russischer Staatshaushalt
- Janis Kluge im Dekoder-Interview: „Russlands Resilienz hat Grenzen“