Gesamtwirtschaftliche Produktion schon bald auf Vorkrisenniveau
Die Perspektiven für einen raschen Erholungskurs der russischen Wirtschaft haben sich auch nach Einschätzung der Weltbank verbessert. Sie hob ihre Prognose für den diesjährigen Anstieg des russischen Bruttoinlandsprodukts im „Basisszenario“ ihres „Russia Economic Report“ von 2,9 auf 3,2 Prozent an. Damit kann die russische Wirtschaft schon 2021 den letztjährigen Rückgang um 3,0 Prozent aufholen. Diese Erwartung bekräftigte auch Elwira Nabiullina, die Präsidentin der russischen Zentralbank, in einer Rede vor der Duma. Sie hält es sogar für möglich, dass die gesamtwirtschaftliche Produktion schon Mitte 2021 ihren Vorkrisenstand wieder erreichen könnte.
Die Industrie hat sich im Trend seit Mitte 2020 stetig erholt
„Vorreiter“ der gesamtwirtschaftlichen Erholung ist die Industrieproduktion. Sie ist saison- und kalenderbereinigt bereits seit März 2021 etwas höher als vor ihrem Einbruch, der im April 2020 begann. Das zeigt die blaue Linie in der folgenden Abbildung, die die Statistikbehörde Rosstat in der letzten Woche veröffentlichte.
Index der Industrieproduktion; 2018=100
Die stetige Erholung der Industrieproduktion seit Mitte 2020 zeigt auch die rote Linie, die den von Rosstat berechneten Trend abbildet.
Im April 2021 übertraf die Industrieproduktion das zwei Jahre zuvor im April 2019 erreichte Niveau um 2,2 Prozent. Saison- und kalenderbereinigt stagnierte sie dabei laut den ersten Berechnungen von Rosstat auf dem im März erreichten Niveau von rund 105 Indexpunkten (2018 = 100 Indexpunkte).
„Wachstumstreiber“ in der Industrie ist das „Verarbeitende Gewerbe“
Innerhalb der Industrie ist die Produktion des „Verarbeitenden Gewerbes“ inzwischen deutlich höher als vor dem „Lockdown“ vor einem Jahr. Das macht die folgende Abbildung des Forschungsinstituts der Vnesheconombank deutlich. Die blaue Linie zeigt die saison- und kalenderbereinigte Entwicklung der Produktion im „Verarbeitenden Gewerbe“. Demgegenüber unterschreitet die Produktion im Bereich „Bergbau, Förderung von Rohstoffen“ (hellgrüne Linie) ihr Vorkrisenniveau noch erheblich. Insgesamt ist die Industrieproduktion (schwarze Linie) aber auch nach den Berechnungen des VEB-Instituts inzwischen etwas höher als vor ihrem Einbruch im Frühjahr 2020.
Entwicklung der Industrieproduktion insgesamt sowie der Bereiche „Bergbau, Förderung von Rohstoffen“ und „Verarbeitendes Gewerbe“
Januar 2014=100
„Nachzügler“ bei der Erholung sind verbrauchsnahe Branchen
Die April-Daten für den Einzelhandel wird Rosstat erst am Freitag veröffentlichen. Im ersten Quartal 2021 war der reale Einzelhandelsumsatz (Lebensmittel und Nicht-Lebensmittel) noch 1,6 Prozent niedriger als ein Jahr zuvor. Wie die folgende Twitter-Meldung von Tatiana Evdokimova (frühere Chef-Volkswirtin für Russland der Nordea Bank) zeigt, unterschritt der reale Umsatz im Dienstleistungsbereich sein Vorjahresniveau sogar noch um 4,3 Prozent. Der Handel im PKW-Bereich wies noch einen Rückgang um 2,8 Prozent aus.
Veränderungen von Indikatoren der inländischen Nachfrage in Prozent gegenüber dem Vorjahr
Erhöhte Prognose-Risiken in der Pandemie
Die Ungewissheit über den Verlauf der Corona-Pandemie stellt die Weltbank in ihrem „Russia Economic Report“ als „Hauptrisiko“ ihrer bis 2023 reichenden Prognosen heraus. Zudem könnten sich Russlands Wachstumsaussichten durch Verhängung neuer Sanktionen verschlechtern.Von den im April verfügten US-Sanktionen, die sich gegen den Kauf russischer Staatsanleihen richten, erwartet die Weltbank jedoch nur „marginale Wirkungen“ auf die russische Wirtschaft und die staatlichen Finanzierungsmöglichkeiten. Sie verweist auf Russlands niedrige Staatsverschuldung und die hohen Finanzreserven. Außerdem sei der Anteil ausländischer Käufer russischer Staatsanleihen relativ gering (23,3 Prozent).
Neben dem Basisszenario entwirft die Weltbank auch ein „upside scenario“ sowie ein „downside scenario“, deren Prognosen sehr weit auseinander liegen. Ein Zeichen für die hohe Ungewissheit von Prognosen angesichts der Pandemie.
In ihrem „Basisszenario“ geht die Weltbank davon aus, dass die Zahl neuer Corona-Infektionen im Jahr 2021 allmählich zurückgeht. Impulse für das Wachstum von privatem Verbrauch und Investitionen erwartet sie 2021 im Basiszenario von der Erholung der Weltwirtschaft, höheren Ölpreisen und den trotz der Erhöhung des Leitzinses noch „weichen“ Konditionen für die Aufnahme von Krediten. Dass die Zahl der Urlaubsreisen aus Russland ins Ausland voraussichtlich gering bleiben werde, stärke auch die inländische Nachfrage.
Die Weltbank folgt dem „Analysten-Konsens“ – aber nur für 2021
Die neue Wachstumsprognose im „Basisszenario“ von 3,2 Prozent für das Jahr 2021 deckt sich mit dem Durchschnitt der Erwartungen, der bei der jüngsten Umfrage des Beratungsunternehmens „FocusEconomics“ bei Banken und Forschungsinstituten ermittelt wurde. Bei ihrer Basis-Prognose geht die Weltbank davon aus, dass der Ölpreis im Jahresdurchschnitt 2021 56 Dollar/Barrel erreicht.
Prognosen im Basisszenario der Weltbank Veränderung des realen Bruttoinlandsprodukts gegenüber dem Vorjahr in Prozent, Ölpreis in US-Dollar/Barrel
Auch für 2022 prognostiziert die Weltbank bei einem weiter auf 60 $/Barrel steigenden Ölpreis ein Wachstum des BIP von 3,2 Prozent. Analysten und Forschungsinstitute erwarten hingegen im nächsten Jahr meist bereits eine deutliche Abschwächung des Wachstums. So ermittelte die Umfrage von FocusEconomics Consensus für 2022 nur noch eine Wachstumsprognose von 2,6 Prozent (Umfrage der Moskauer „Higher School of Economics“: + 2,4 Prozent; Interfax-Umfrage: + 2,1 Prozent). Die Weltbank rechnet im Basiszenario hingegen erst für 2023 mit einem Rückgang des Wachstums auf 2,3 Prozent.
Das „upside scenario“ der Weltbank entspricht für 2021der IWF-Prognose
Das „upside scenario“ geht bei weltweit schnellen Impfungen großer Teile der Bevölkerung von einer raschen Aufhebung restriktiver Maßnahmen in vielen Staaten aus. Zusammen mit konjunkturpolitischen Maßnahmen könne dies zu einem stärkeren und längerfristigen Wachstum der Weltwirtschaft als bisher erwartet führen. In diesem Fall werde Russlands Wirtschaft 2021 um 3,8 Prozent wachsen. Dieses Szenario der Weltbank entspricht der Anfang April veröffentlichten Wachstumsprognose im „World Economic Outlook“ des Internationalen Währungsfonds.
2022 wird sich das Wachstum der russischen Wirtschaft im „upside szenario“ der Weltbank weiter auf 4,8 Prozent beschleunigen und im Jahr 2023 noch 3,3 Prozent errreichen.
Das „downside scenario“ rechnet für 2022 mit einer erneuten Rezession
Das „downside scenario“ der Weltbank geht von neuen Ausbrüchen der Pandemie und der Ausbreitung neuer Virusvarianten aus. Damit müßten, so die Weltbank, die restriktiven Maßnahmen in einer größeren Zahl von Ländern längere Zeit aufrechterhalten werden. Dies werde zu einer viel schwächeren Ölnachfrage führen. Eine sinkende Nachfrage und niedrigere Preise könnten das OPEC+-Abkommen gefährden. Ein mögliches Scheitern des Abkommens und eine anschließende Erhöhung der Fördermengen könnten für längere Zeit zu deutlich niedrigeren Ölpreisen führen.
In diesem Szenario wird das BIP-Wachstum in Russland 2021 laut Weltbank nur 2,6 Prozent erreichen. Für 2022 rechnet sie sogar mit einer erneuten Rezession. Dem Rückgang des BIP um 0,7 Prozent werde 2023 nur eine schwache Erholung folgen (+ 0,6 Prozent).
Kritik der Weltbank an der Haushalts- und Sozialpolitik der Regierung
Zur russischen Haushaltspolitik meint die Weltbank, dass im Föderalhaushalt 2021 zur Förderung des Wirtschaftswachstums und der verfügbaren Einkommen nur noch Ausgaben in Höhe von rund 1,1 Prozent des Bruttoinlandsprodukts vorgesehen seien. Sie plädiert für eine langsamere Konsolidierung. Auch angesichts der relativ niedrigen öffentlichen Verschuldung habe die russische Regierung genügend Handlungsraum für einen stärkeren Anstieg der Ausgaben für soziale Zwecke und die Unterstützung der Regionen (Seite XII).
In einem speziellen Kapitel des Berichts (S. 49-58) kritisiert die Weltbank die Maßnahmen der russischen Regierung, mit denen sie die „Armutsquote“ bis 2030 auf 6,6 Prozent halbieren will. Das in Russland bestehende System der Sozialen Sicherung spiele zwar eine wichtige Rolle bei der Verringerung der Armut. Seine Kosten seien aber viel zu hoch. Russland gebe über 3 Prozent seines Bruttoinlandsprodukts (oder rund 30 Milliarden US-Dollar) für Sozialhilfe-Programme aus. Im weltweiten Durchschnitt würden die Staaten dafür nur 1,5 Prozent des BIP ausgegeben, also nur halb so viel wie in Russland.
Die Weltbank schlägt die Einführung eines kostengünstigen, zielgerichteten Programms zur finanziellen Unterstützung von Menschen mit einem Einkommen unterhalb der Armutsgrenze vor. Nach Einschätzung der Weltbank würde ein solches Programm 0,33 Prozent des Bruttoinlandsprodukts kosten.Wenn das derzeitige System der Sozialen Sicherung in Russland hingegen ausgeweitet werde, wäre dies rund vier Mal so teuer.
Renaud Seligmann, Weltbank-Repräsentant in Russland, stellte laut rg.ru zu den Vorschlägen der Weltbank fest, es handele sich um Zahlungen an Menschen mit Einkommen unter der Armutsgrenze, nicht um ein „bedingungsloses Grundeinkommen“, das allen Bürgern gezahlt werde. Die Höhe der Zahlungen hänge von der Differenz zwischen dem Einkommen der Familie und der Armutsgrenze ab. Die Empfänger der Zahlungen seien verpflichtet, sich um einen Arbeitsplatz zu bemühen und an Ausbildungsmaßnahmen teilzunehmen. Ausführlich berichtet haben zu den sozialpolitischen Vorschlägen der Weltbank unter anderem
- Ivan Tkachev; RBC.ru: Poor debate – The World Bank invited Russia to transform the program of assistance to the poor; 26.05.2021
- Igor Zubkov, Evgeniya Akulova; rg.ru: The possessor will master the road. The World Bank has proposed to provide the poor in Russia with a guaranteed income; 26.05.2021
- Alexey Shapovalov, Anastasia Manuilova; Kommersant: Minimum income in the Russian way. The World Bank proposes to introduce a new system of social payments; 27.05.2021
Ostexperte.de-Artikel zu Konjunktur und Wirtschaftspolitik in Russland von Klaus Dormann:
- Russlands BIP: erstmals wieder höher als vor einem Jahr; 26.05.2021
- Wachstumsprognosen Russland: EU-Kommission pessimistischer als IWF; 17.05.2021
- Rasche Erholung, aber kein anhaltend kräftiger Aufschwung; 10.05.2021
- Russische Wirtschaft: Steigende Produktion, sinkende Realeinkommen; 03.05.2021
Weitere Lesetipps und Quellen im PDF-Dokument, unter anderem zu:
- Deutsch-russische Beziehungen: Russische Regierung stuft drei deutsche Organisationen als “unerwünscht” ein; Phoenix-Runde zu Belarus mit Michael Harms und Alexander Rahr
- Nord Stream 2: Überblicksartikel von NZZ und DLF; Baerbock-Interview bei Maischberger
- Statistik: GTAI: Russland – Wirtschaftsdaten kompakt; 28.05.2021