Russische Konjunktur: Zentralbank skeptischer als Regierung

Die russische Zentralbank beließ am Freitag wie von vielen erwartet ihren Leitzins bei 7,5 Prozent. Anlässlich der Leitzinsentscheidung aktualisierte sie ihre Ende Juli veröffentlichte mittelfristige Konjunkturprognose. Sie bietet neben Prognosen zur Entwicklung der Verbraucherpreise, des Leitzinses und der gesamtwirtschaftlichen Produktion unter anderem auch eine Einschätzung der Entwicklung der russischen Zahlungsbilanz bis 2025.

Zentralbankpräsidentin Nabiullina meinte in ihrem Statement zur Leitzinsentscheidung, die russische Wirtschaftsentwicklung habe sich zwar im Sommer „stabilisiert“. Jüngste Daten signalisierten jedoch eine erneute Abschwächung der Wirtschaftsaktivitäten im September.

Ein Ende des Rückgangs der gesamtwirtschaftlichen Produktion erwartet sie erst Mitte 2023. Der im September verzeichnete weitere leichte Rückgang der saison- und kalenderbereinigten Industrieproduktion um 0,4 Prozent gegenüber August lässt jedenfalls keinen baldigen Aufschwung vermuten.

2022 erwartet auch die Zentralbank eine deutlich „mildere“ Rezession

Die neue Prognose der Zentralbank für den diesjährigen Rückgang des Bruttoinlandsprodukts (- 3 bis -3,5 Prozent) entspricht jetzt weitgehend der Einschätzung des Wirtschaftsministeriums (- 2,9 Prozent), die die Regierung ihrer Haushaltsplanung zugrunde legte. Die BIP-Prognosen von Zentralbank und Regierung für das nächste Jahr unterscheiden sich aber noch beträchtlich.

BIP-Prognosen 2022 bis 2023

Veränderung des realen Bruttoinlandsprodukts gegenüber dem Vorjahr in Prozent

Eine weitere Verschärfung der Rezession schließt die Zentralbank nicht aus

Das Wirtschaftsministerium hatte seine Rezessionsprognose für 2022 im September auf 2,9 Prozent zurückgenommen (Vedomosti). Obwohl sich die Industrieproduktion im September schlechter als erwartet entwickelte (siehe Ende dieses Berichts), gab sich   Wirtschaftsminister Reschetnikow bei einem Wirtschaftsforum in Baku zuversichtlich. Er meinte laut Interfax, dass die gesamtwirtschaftliche Produktion im vierten Quartal 2022 im Vergleich zum Vorquartal wachsen werde.

Ende Juli hatte die Zentralbank den diesjährigen Rückgang des Bruttoinlandsprodukts noch auf 4 bis 6 Prozent veranschlagt. Es war zu erwarten, dass sie ihre Rezessionsprognose für 2022 jetzt auch verringert, zumal Vertreter der Zentralbank das mehrfach als wahrscheinlich bezeichneten. Die Zentralbank nähert sich in ihrer neuen Prognose jetzt zwar weitgehend der Prognose der Regierung zur Produktionsentwicklung. Die neue Prognosespanne der Zentralbank für die diesjährige Rezession (- 3 bis – 3,5 Prozent) deckt den von der Regierung erwarteten Rückgang (- 2,9 Prozent) aber noch nicht ab.

Den Beginn des Wachstums des Bruttoinlandsprodukts erwartet die Zentralbank laut Präsidentin Nabiullina erst in der zweiten Hälfte des Jahres 2023. Im Jahresvergleich 2023 gegenüber 2022 kann das BIP nach Einschätzung der Zentralbank noch um 1 bis 4 Prozent sinken. Eine Verschärfung der Rezession auf 4 Prozent im nächsten Jahr schließt die Zentralbank also nicht aus. Die Regierung rechnet hingegen im nächsten Jahr nur noch mit einem BIP-Rückgang um 0,8 Prozent.

Russische Zentralbank: Mittelfristige Prognose vom 28.10.2022 (Auszug)

Russische Zentralbank: Mittelfristige Prognose, 28.10.2022

Nabiullina:  Der Tiefpunkt der Produktion wird erst Mitte 2023 erreicht

Zur Senkung ihrer diesjährigen Rezessionsprognose auf 3 bis 3,5 Prozent meinte Präsidentin Elwira Nabiullina in ihrem Statement zur Leitzinsentscheidung, die russische Wirtschaft passe sich an die „externen Restriktionen“ schneller an als bisher erwartet wurde. Im dritten Quartal habe sich die Situation in der Wirtschaft verbessert. Es werde eine Rekord-Ernte erwartet.

Gleichzeitig verwies die Präsidentin jedoch auf Anzeichen für einen Abschwung. Er könnte unter anderem durch eine schwächere Nachfrage der Verbraucher und ungünstigere Bedingungen für die Ausfuhren Russlands verursacht worden sein. Die Entwicklung in den einzelnen Wirtschaftszweigen und Regionen bleibe sehr heterogen.

In der Pressemeldung der Zentralbank zum Leitzinsentscheid wird darauf hingewiesen, dass Unternehmensbefragungen zeigen, dass ein signifikanter Anteil der Unternehmen noch mit Problemen bei der Produktion und der Warenbeschaffung konfrontiert sei.

Im September habe sich die Stimmung der Unternehmen und der Verbraucher leicht verschlechtert, weil die Unsicherheit insgesamt gestiegen sei. Die Erholung der weiterhin gedrückten Verbrauchernachfrage lasse unter diesen Bedingungen nach.

Die gesamtwirtschaftliche Erholung der russischen Wirtschaft wird laut Nabiullina im nächsten Jahr etwas später einsetzen als im Juli von der Zentralbank erwartet wurde. Der Tiefpunkt der Produktionsentwicklung werde Mitte 2023 erreicht sein. Die Nachfrage des öffentlichen Sektors werde die Wirtschaftsaktivität weiterhin stützen.

Die Teil-Mobilisierung kann die Preise treiben

Ihre Prognosespanne für den jährlichen Anstieg der Verbraucherpreise im Dezember 2022 engte die Zentralbank jetzt auf 12 bis 13 Prozent ein.

In der Woche bis zum 24. Oktober verringerte sich der jährliche Anstieg der Verbraucherpreise bereits auf 12,8 Prozent. Im Durchschnitt des Septembers war die jährliche Inflationsrate auf 13,7 Prozent gesunken. Ihren Höchststand hatte sie im April mit 17,8 Prozent erreicht.

Anstieg der Verbraucherpreise gegenüber dem Vorjahr in Prozent

Forschungsinstitut der Vnesheconombank: „World Economy and Markets Review“, 28.10.2022

Ihre Inflationsprognose für Dezember 2023 ließ die Zentralbank unverändert. Dann sollen die Verbraucherpreise im Vorjahresvergleich nur noch um 5 bis 7 Prozent höher sein.

Nabiullina warnte in ihrem Statement vor neuen Faktoren die mittelfristig eine inflationstreibende Wirkung haben könnten. Dazu gehörten vor allem die eskalierenden geopolitischen Spannungen, die in Russland angeordnete Teil-Mobilisierung von Soldaten und eine sich verschlechternde Lage der Weltwirtschaft.

Die Teil-Mobilisierung könne zwar in den nächsten Monaten zunächst einen preisdämpfenden Effekt haben, weil sie die Nachfrage der Verbraucher schwächt. Später könnte sie jedoch preistreibend wirken. Die Teil-Mobilisierung verändere die Struktur des Arbeitsmarktes. Das Angebot an einigen Spezialisten könnte sich verknappen.

Der Leistungsbilanz-Überschuss verdoppelt sich 2022: Reicher Devisen-Zufluss

Die Prognosen der Zentralbank umfassen auch die wertmäßige Entwicklung der Aus- und Einfuhren in der Leistungsbilanz. Dabei geht sie davon aus, dass der Urals-Ölpreis von 69 US-Dollar im Jahr 2021 auf 78 US-Dollar im Jahr 2022 steigt.

Im Gesamtjahr 2022 erwartet die Zentralbank einen Rückgang des Wertes der russischen Einfuhren von Waren und Dienstleistungen von 380 auf 326 Milliarden US-Dollar (- 14,2 Prozent gegenüber 2021). Der Wert der Ausfuhren dürfte gleichzeitig von 550 auf 631 Milliarden US-Dollar steigen (+ 14,7 Prozent).

Der diesjährige Überschuss in der Handels- und Dienstleistungsbilanz wird damit von der Zentralbank auf 305 Milliarden US-Dollar geschätzt (+ 79,4 Prozent gegenüber 2021).

Der Überschuss in der Leistungsbilanz („Current account“) dürfte sich mit 253 Milliarden US-Dollar gut verdoppeln (+ rund 107 Prozent).

Indikatoren der Zahlungsbilanz im Basis-Szenario der russischen Zentralbank
(Mrd. US-Dollar, Ausschnitt)

Russian Central Bank: Mid-term forecast; 28.10.2022

Von 2023 bis 2025 wird der Leistungsbilanzüberschuss aber fast abgebaut

Der 2022 in der Leistungsbilanz zu verzeichnende reiche Devisenzufluss wird sich in den nächsten Jahren laut der Zentralbank-Prognose jedoch rasch verringern. Bis 2025 erwartet die Zentralbank einen fast völligen Abbau des Überschusses in der Leistungsbilanz auf nur noch 15 Milliarden US-Dollar.

Die Zentralbank geht bei einem Rückgang des Urals-Ölpreises auf 70, 60 und 55 US-Dollar in den Jahren 2023, 2024 und 2025 von stetig sinkenden Exporterlösen aus. 2025 dürften sie fast ein Drittel niedriger sein als 2022.

Gleichzeitig wird sich der Wert der Importe stetig erholen. Er dürfte nach Einschätzung der Zentralbank seinen Rückgang im Jahr 2022 um 54 Milliarden US-Dollar in den drei folgenden Jahren zu rund zwei Dritteln aufholen.

Präsidentin Nabiullina meinte in ihrem Statement zur voraussichtlichen Entwicklung der Zahlungsbilanz, der Wert der Importe werde sich erholen, weil die russischen Unternehmen neue Lieferanten finden würden. Der Wert der Ausfuhren dürfte hingegen wegen der „externen Restriktionen“ sinken.

Warenimporte Russlands im August rund 30 Prozent niedriger als im Februar

Wie sich der russische Warenhandel bis August 2022 entwickelt hat, analysierte BOFIT, das Forschungsinstitut der finnischen Zentralbank, auf der Basis der Statistiken der russischen Handelspartner.

Die Warenimporte Russlands sind im Frühjahr 2022 um gut die Hälfte gesunken, erholten sich bis August aber merklich (schwarze Linie).Der Wert der gesamten russischen Einfuhren war im August noch um rund 30 Prozent niedriger als in den Monaten kurz vor dem Krieg.

Die Einfuhr aus China erreichte bis August bereits wieder ihr Vorkriegsniveau (rote Linie). Die Einfuhr aus der EU war im August noch rund 50 Prozent niedriger (blaue Linie).

Russlands monatliche Wareneinfuhr in Mrd. US-Dollar (saisonbereinigt)

Sources: Eurostat, Macrobond, UN Comtrade, BOFIT.

Der Wert der gesamten russischen Ausfuhren entsprach im August dem Durchschnitt der Vorkriegsmonate.

Der Wert der russischen Exporte in die EU-Länder war im August rund 20 Prozent niedriger als in den Monaten vor dem Krieg. Der Wert der Exporte nach China war hingegen im August-September um etwa 50 Prozent und der Wert der Exporte nach Indien sogar 5 bis 6 Mal höher als vor dem Krieg.

Die Industrieproduktion sank im September im Vorjahresvergleich unerwartet stark

Die jüngsten Rosstat-Daten vom 26. Oktober zur Entwicklung der Industrieproduktion zeigen einen unerwartet starken Rückgang beim Vergleich mit dem Vorjahresmonat. Im September war die Industrieproduktion insgesamt 3,1 Prozent niedriger als vor einem Jahr (gelbe Linie in der folgenden Rosstat-Abbildung). Erwartet worden war laut Interfax bei einer Analysten-Umfrage nur eine Abnahme um 1,9 Prozent. Das „Verarbeitende Gewerbe“ verzeichnete im September im Vorjahresvergleich sogar einen Produktionsrückgang um 4,0 Prozent.

Im gesamten dritten Quartal war die Industrieproduktion 1,3 Prozent niedriger als vor einem Jahr. In den ersten neun Monaten 2022 übertraf sie ihr Vorjahresniveau noch um 0,4 Prozent.

Die Statistikbehörde Rosstat veröffentlichte folgende Abbildung zur saison- und kalenderbereinigten Entwicklung der Industrieproduktion. Insgesamt ist die Produktion der Industrie von Januar 2022 bis April 2022 deutlich gesunken (blaue Linie). Seit Mai stagniert sie mit geringen Schwankungen.

Im September fiel die bereinigte Produktion gegenüber dem Vormonat weiter um 0,4 Prozent – nach einem Rückgang um 0,9 Prozent im August und einem Anstieg um 1,2 Prozent im Juli.

Index der Industrieproduktion, 2019=100

gelbe Linie: unbereinigte Entwicklung der Produktion, blaue Linie: saison- und kalenderbereinigte Entwicklung; rote Linie: Trend

Rosstat: Industrieproduktion im September 2022, 26.10.2022

In der folgenden Abbildung des Research-Unternehmens „FocusEconomics“ zur Entwicklung der Industrieproduktion zeigt die rechte blaue Säule den Rückgang der Industrieproduktion im September 2022 gegenüber September 2021 um 3,1 Prozent. Seit April 2022 unterschreitet die Industrieproduktion ihr 12 Monate zuvor erreichtes Niveau.

Russlands Industrieproduktion

Veränderungen gegenüber dem Vorjahresmonat in Prozent (Säulen)

durchschnittliche Veränderungsrate in den letzten 12 Monaten (rote Linie)

FocusEconomics: Industrial output falls at sharpest rate since October 2020 in September, 26.10.2022

Im Durchschnitt der letzten 12 Monate (Oktober 2021 bis September 2022) ist die Industrieproduktion gegenüber dem jeweiligen Vorjahresmonat laut FocusEconomics im September 2022 nur noch um 2,4 Prozent höher gewesen (rote Linie).

Ostexperte.de-Artikel zu Konjunktur und Wirtschaftspolitik in Russland von Klaus Dormann:

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