Russland-Experte Roland Götz über Nord Stream 2
Roland Götz arbeitete von 1986 bis 2000 am Bundesinstitut für ostwissenschaftliche und internationale Studien (BIOst) sowie von 2001 bis 2007 bei der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP). Im Ostexperte.de-Interview spricht der Russland-Experte über die umstrittene Ostseepipeline Nord Stream 2. Wird die kritisierte Gasverbindung trotz aller Widerstände gebaut?
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Herr Götz, Deutschland hat grünes Licht für den Bau der Pipeline Nord Stream 2 gegeben. Warum hat es so lange gedauert?
Die EU und Maroš Šefčovič, der EU-Kommissar für Energie, hatten schon lange eine andere Ansicht in Bezug auf Nord Stream, als zum Beispiel die deutsche Bundesregierung und selbstverständlich Gazprom. Das hängt zusammen mit den Gaskrisen der letzten Jahre zwischen Russland und der Ukraine bzw. Gazprom und Naftogaz. In der EU hatte dies die Frage aufgeworfen, ob der Gastransit auch in Zukunft problemlos verlaufen kann. Das Problem ist durch die Annexion der Krim und den Konflikt in der Ostukraine verschärft worden. Das hat das Gesprächsklima enorm verschlechtert. So ist bei der EU, vor allem im EU-Parlament, aber auch in der EU-Kommission, eine gewisse Abneigung gegenüber den Plänen Gazproms gewachsen, weitere Gaspipelines zu bauen, die russisches Gas nach Europa bringen sollen.
Es haben sich vor allem baltische Staaten und die Ukraine gegen das Projekt ausgesprochen. Warum standen diese Länder im Weg?
Die baltischen Staaten, genauso wie die USA und Polen, nehmen eine unterstützende Position zur Ukraine ein. Sie möchten die Ukraine in ihrem Konflikt mit der russischen Regierung stärken. Sie möchten den Einfluss Russlands, insbesondere die Energieexporte des Landes nach Europa, zurückdrängen. Generell gibt es die Angst vor einer zu großen Annäherung oder Abhängigkeit. Hinzu kommt ein kommerzielles Motiv. Die USA wollen die einheimische Gasindustrie fördern, indem sie mehr Flüssiggas nach Europa liefern kann. Außerdem gibt es die Befürchtung, dass die Ukraine durch die Einstellung des Gastransits in größere Gefahr geriete und eine russische Aggression leichter möglich wäre. Das halte ich aber für Propagandaargumente.
Wenn Nord Stream 2 fertig gestellt werden sollte, bräuchte dann noch jemand die ukrainische Gaspipeline?
Ja, auf jeden Fall. Es gibt mehrere Gründe, warum der Transit durch die Ukraine zum Jahresanfang 2020 nicht abrupt beendet werden kann. Zum einen werden Nord Stream und Turkish Stream möglicherweise nicht pünktlich fertig. Dafür gibt es verschiedene Gründe. Bei Nord Stream gibt es Probleme mit der dänischen Regierung. Kopenhagen könnte unter anderem erzwingen, dass die Route von Nord Stream 2 um einige Kilometer verlagert wird, weil sie bisher durch sein Territorialgewässer führt. Zweitens gibt es die Möglichkeit, US-Sanktionen gegen europäische Firmen zu verhängen, die an Nord Stream 2 mitarbeiten. Darüber hinaus kann man eine Pipeline nicht sofort mit 100-prozentiger Kapazität betreiben. Man benötigt eine Anlaufzeit, die ein bis zwei Jahre dauern kann. Das hat sich auch bei anderen Pipelines gezeigt, zum Beispiel bei der Nord Stream 1. Sie ging auch nicht mit sofort 100 Prozent Kapazität in Betrieb. Wenn man eine bestimmte Anzahl an Kubikmetern pro Jahr liefern will, braucht man eine Reservekapazität von mindestens 20 Prozent, denn die Durchleitung schwankt im Jahresverlauf. Im Sommer wird weniger benötigt, im Winter mehr. Daher bräuchte man den Ukraine-Transit, so wie es aussieht, unter den jetzigen Pipelinekapazitäten auch noch für viele Jahre. Oder es müssten neue Pipelines gebaut werden, wenn das Exportvolumen Gazproms erhalten bleiben soll, so wie es jetzt ist.
Für die Realisierung von Nord Stream 2 braucht man die Zustimmung von Anrainerstaaten wie Finnland, Dänemark und Schweden. Sind hier Schwierigkeiten zu erwarten?
Die Zustimmung der Anrainerstaaten, Deutschland hat sie schon erteilt, kann nur in einem gewissen Rechtsrahmen erfolgen – und zwar durch entsprechende Übereinkommen, die Verlegung und Betrieb von Pipelines in der Ostsee regeln. Das sind internationale Verträge, die alle Anrainerstaaten unterzeichnet haben. Sie können nur auf ihrem eigenem Territorium, dazu gehören die Küstengewässer, also die 12-Meilen-Zone, zusätzliche Bedingungen einführen. Bisher sind diese aber gleichartig oder entsprechen denen für die offene See. Nur Dänemark wagt den Versuch, etwas anderes zu machen, indem es Sicherheitsbedenken geltend macht. Das ist aber total unüblich. Noch ist gar nicht sicher, ob Dänemark das überhaupt so durchsetzen will. Das ist übrigens ein großes Missverständnis in der europäischen Diskussion, dass man glaubt, irgendwelche Staaten könnten Bau und Betrieb von Nord Stream einfach so verbieten. Das stimmt gar nicht. Es müssen sich alle an Regeln halten, die international festgelegt sind. Es gibt ein neues Gutachten des Ministerrats der EU. Dort steht ganz klar drin, dass Nord Stream 2 von keinem Anrainerstaat, auch nicht von der EU, behindert oder verhindert werden kann.
Gegner von Nord Stream 2 befürchten eine enorme Abhängigkeit von Russland, falls das Projekt realisiert wird. Ist die Sorge begründet?
Es gibt natürlich eine Abhängigkeit von russischem Gas, weil im Augenblick etwa 35 Prozent der Gasimporte der EU aus Russland kommen. Nur ist das keine einseitige Abhängigkeit, sondern eine gegenseitige Abhängigkeit. Der Versender dieses Gases, nämlich Gazprom, ist genauso von den Einnahmen dieser Gasexporte abhängig. Was sind denn die Alternativen? Die Alternative zum Gas aus Russland wäre Flüssiggas aus den USA, das ist aber unwahrscheinlich, da diese Kapazitäten gar nicht vorhanden sind. Das würde nur funktionieren, wenn die Preise in Europa stark ansteigen würden. Für amerikanische Firmen, die Flüssiggas nach Europa senden, müsste es profitabel sein, es nach Europa zu senden und nicht etwa nach Südostasien, wo etwa die Preise viel höher sind. Also, ich halte diesen Abhängigkeitsdiskurs für sehr künstlich und verfehlt. Ich wundere mich eigentlich, warum dieser noch geführt wird. Auch die Wissenschaft und alle Experten haben schon lange darauf hingewiesen, dass das nicht das Problem ist.
Vielen Dank für das Gespräch, Roland Götz.
Dieses Interview führte Ostexperte.de-Redakteur Alexander Sorkin.