Konjunktur: Kontroverse Prognosen für 2023

Russlands Statistikamt wird erst Mitte Februar eine erste Schätzung für den Rückgang des Bruttoinlandsprodukts im letzten Jahr vorlegen. Die Erwartungen der Analysten haben sich in den letzten Monaten jedoch immer mehr der Prognose der Regierung genähert. Sie veranschlagt die Abnahme der gesamtwirtschaftlichen Produktion im Jahr 2022 seit September auf 2,9 Prozent.

Im Durchschnitt des jetzt begonnenen Jahres 2023 erwartet die Regierung ein deutliches Abflauen des Rezessionstempos auf 0,8 Prozent. Die Meinungen der Analysten zur Konjunkturentwicklung im neuen Jahr sind aber sehr geteilt. Während die US-Investmentbank Goldman Sachs weitgehend der Prognose der Regierung folgt, erwartet die Alfa Bank, die größte russische Privatbank, eine drastische Verschärfung der Rezession auf 6,5 Prozent.

Optimistische Prognosen der russischen Regierung für 2023

Russlands Erster Stellvertretender Premierminister Andrej Beloussow gab sich bei einem Interview am 27. Dezember mit dem TV-Sender Rossiya 24 sehr zuversichtlich. Die Lage der russischen Wirtschaft werde 2023 „viel einfacher“ als 2022 sein. Alles sei unter Kontrolle, die Wirtschaftspolitik der Regierung handele vorausschauend. Das berichtet Finmarket.ru.

Laut der Prognose der Regierung werde die Produktion der Wirtschaft, so Beloussow, 2023 um etwas weniger als 1 Prozent sinken. Er glaube, die Veränderungsrate werde wohl zwischen minus ein Prozent und null Prozent liegen. Im Hinblick auf den möglichen leichten Rückgang der gesamtwirtschaftlichen Produktion im Vorjahresvergleich wies Beloussow darauf hin, dass sie im ersten Quartal 2022 noch ein hohes Niveau erreicht habe.

Goldman Sachs erwartet ähnlich schwache Rezession wie die Regierung

Auch die US-Investmentbank Goldman Sachs sieht Russlands Konjunktur im Vergleich mit anderen Beobachtern sehr optimistisch. In ihrem „Jahresausblick 2023“ geht die Bank davon aus, dass Russlands reales Bruttoinlandsprodukt 2022 um 3,3 Prozent gesunken ist (also etwas stärker als die Regierung prognostiziert: – 2,9 Prozent). Für 2023 erwartet Goldman Sachs ein Abflauen der Rezession auf nur noch 1,3 Prozent.

Als „Consensus“ der Analysten bei der Veröffentlichung des Goldman Sachs-Ausblicks im November ergab sich hingegen, dass die russische Wirtschaft 2022 um 4,0 Prozent schrumpft. Vor allem für 2023 erwartet Goldman Sachs in Russland eine deutlich schwächere weitere Rezession (- 1,3 Prozent) als der Durchschnitt der Prognosen (- 3,2 Prozent).

Prognosen von Goldman Sachs und Consensus;
Veränderungsraten des realen BIP im internationalen Vergleich

Goldman Sachs: Macro Outlook 2023: This Cycle Is Different, 16.11.2022

Nicht allein das sanktionierte Russland verzeichnet 2023 eine Rezession

Die Goldman Sachs-Tabelle zeigt, dass die Wirtschaftsleistung in Russland nach Einschätzung der Bank 2023 kaum stärker sinken dürfte (- 1,3 Prozent) als in Großbritannien (- 1,2 Prozent). Auch in Deutschland erwartet Goldman Sachs 2023 eine leichte Rezession (- 0,6 Prozent). Sogar im Euro-Raum insgesamt werde die gesamtwirtschaftliche Produktion etwas abnehmen (- 0,1 Prozent).

Rückblick auf 2022: BIP sank viel weniger als erwartet wurde

Das russische Internet-Finanzmagazin „Investment-Foresight“ fragte zum Jahreswechsel bekannte Ökonomen und Bank-Analysten nach Erfolgen und Schwächen der Entwicklung der russischen Wirtschaft im Jahr 2022 und ihren Prognosen für 2023.

Als Erfolg im Jahr 2022 wurde von den Befragten besonders hervorgehoben, dass die Produktion der russischen Wirtschaft bei weitem nicht so stark gesunken ist wie nach Kriegsbeginn im Frühjahr erwartet wurde.

Mit einem drastischen Rückgang des russischen Bruttoinlandsprodukts um rund 10 Prozent rechneten im März zum Beispiel auch der deutsche „Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung“ und BOFIT, das Forschungsinstitut der finnischen Zentralbank. Bei der Anfang März durchgeführten Analysten-Umfrage der russischen Zentralbank wurde im Mittelwert für 2022 eine Rezession um 8 Prozent erwartet.

Das Washingtoner „Institute of International Finance“ (IIF) prognostizierte im März sogar, die russische Wirtschaft werde 2022 um rund 15 Prozent einbrechen, also noch viel tiefer als in der Weltfinanzkrise im Jahr 2009 (siehe auch Reuters-Bericht vom 8. Juni).

Hart getroffen – Russische Wirtschaft schrumpft in diesem Jahr wegen des Krieges um 15%

Bloomberg News: Putin’s war seen wiping out 15 years of Russian economic growth, 24.03.2022

Die Autoren der IIF-Studie (Elina Ribakova und Benjamin Hilgenstock) revidierten Ende Oktober 2022 in einer gemeinsamen Studie des IIF und des Brüsseler Bruegel-Instituts zu den Wirkungen der Sanktionen ihre Schätzung für den Rückgang des russischen Bruttoinlandsprodukts im Jahr 2022 auf 5 bis 6 Prozent. Wichtigster Grund für die Revision sei, dass es nicht gelungen sei, mit den Sanktionen eine Krise des russischen Finanzsystems auszulösen (Seite 13).

Elina Ribakova, Stellvertretende Chef-Volkswirtin des IIF, nahm Mitte Dezember auch in einem ausführlichen Video-Interview mit der Deutschen Welle zu den Wirkungen der Sanktionen Stellung. Abschließend äußerte sie dabei Zweifel an der Glaubwürdigkeit der russischen Statistiken.

Wedew fordert staatliche Förderung von Investitionen

An der Umfrage des Finanzmagazins „Investment-Foresight“ nahm auch Alexei Wedew, Leiter des „Financial Research Laboratory“ des Gaidar-Instituts, teil. Als Erfolg der russischen Wirtschaftspolitik im Jahr 2022 sieht er, dass es gelungen sei, trotz der Rekordzahl von Sanktionen „die Stabilität“ der Realwirtschaft und der Finanzwirtschaft zu gewährleisten. Er erwartet einen Rückgang der gesamtwirtschaftlichen Produktion um rund 3 Prozent im Jahr 2022. Die Inflation sinke und der Wechselkurs sei relativ stabil.

Die „schlimmste Fehlentwicklung“ sei die Unterbrechung der Lieferketten bei der industriellen Produktion. Probleme gebe es auch im Verkehrsbereich, einschließlich des Tourismus.

Im Ausblick auf das Jahr 2023 sieht Wedew als außenwirtschaftliches Risiko, dass die Produktion in vielen Ländern sehr wahrscheinlich stagnieren werde. Auch die weltweit hohe Inflation könne die Entwicklung in Russland beeinträchtigen.

„Interne Risiken“ der russischen Wirtschaft sind für Wedew ein Rückgang der Unternehmensgewinne und eine Abnahme der real verfügbaren Einkommen der Bürger. Es sei klar, dass die Unternehmen in der aktuellen Wirtschaftslage 2023 nur sehr vorsichtig agieren werden. Deswegen solle die staatliche Wirtschaftspolitik eine führende Rolle im Investitionsprozess einnehmen.

Igor Nikolaew: Die Rezession verschärft sich 2023 auf mindestens 4 Prozent

Igor Nikolaew, Forscher am Institute of Economics der Russischen Akademie der Wissenschaften, hält in der Umfrage von „Investment Foresight“ die Erwartung der Regierung, dass sich der Rückgang der gesamtwirtschaftlichen Produktion 2023 auf 0,8 Prozent abschwächt für unrealistisch. Er sieht die russische Wirtschaft in einer sich vertiefenden Krise. Die schwersten Sanktionen gegen Russland im Energiebereich, das Ölembargo der EU und die Ölpreisbremse, begännen gerade erst zu wirken. Nikolaev nimmt an, dass Russlands Bruttoinlandsprodukt 2023 um 4 Prozent oder noch stärker sinken wird.

Die Rezession 2022 traf vor allem den privaten Verbrauch

Igor Nikolaew meinte in der Umfrage, auch wenn das Bruttoinlandsprodukt im letzten Jahr „nur“ um rund 3 Prozent gesunken sei, sei dies ein großer Fehlschlag gewesen. Schließlich habe man im Haushaltsplan für 2022 mit einem Wachstum um rund 3 Prozent gerechnet.

Anfang November 2022 hob Nikolaew in einem ausführlichen Interview mit „Investment Foresight“ die Auswirkungen der Rezession auf den Einzelhandel hervor. Nicht nur der reale Umsatz im Einzelhandel mit Nicht-Lebensmitteln sei stark gesunken, wozu der Einbruch im PKW-Handel beigetragen habe. Auch der reale Umsatz mit Lebensmitteln habe deutlich abgenommen. Das zeige die Sparzwänge für die russischen Verbraucher.

Laut den jüngsten Rosstat-Daten war der reale Einzelhandelsumsatz im November 2022 insgesamt 7,9 Prozent niedriger als im Vorjahreszeitraum. Der Umsatz mit Lebensmitteln sank gegenüber November 2021 real um 3,4 Prozent, der Umsatz mit Nicht-Lebensmitteln um 11,7 Prozent (Interfax).

BOFIT, das Forschungsinstitut der finnischen Zentralbank, machte in seinem am Donnerstag veröffentlichten Bericht zur Konjunkturentwicklung im November den tiefen Einbruch im Einzelhandel im Jahr 2022 mit folgender Abbildung deutlich. Die rote Linie zeigt: Der Index der realen Produktion im Einzelhandel war saisonbereinigt auch im November noch gut ein Zehntel niedriger als im Februar.

Indizes der Produktion in den Bereichen Bauwirtschaft, Einzelhandel, Bergbau/Förderung von Rohstoffen und Verarbeitendes Gewerbe
 (saisonbereinigt; 2018=100)

BOFIT, Bank of Finland: BOFIT Weekly, 05.01.2023

Die Indizes der saisonbereinigten realen Produktionsentwicklung in den Bereichen „Verarbeitendes Gewerbe“ (graue Linie) und „Bergbau/Förderung von Rohstoffen“ (schwarze Linie) haben sich im November ihrem Vorkrisenniveau viel stärker genähert als der Einzelhandel.

Der Index der saisonbereinigten Produktion der Bauwirtschaft (hellblaue Linie) ist im Verlauf des Jahres 2022 im Trend sogar ständig weiter gestiegen.

Natalia Orlova, Alfa Bank: Die Rezession verschärft sich 2023 auf 6,5 Prozent

In den jüngsten Analysten-Umfragen wurde für das Jahr 2023 ein weiterer Rückgang des russischen Bruttoinlandsprodukts um rund 2 Prozent erwartet (Reuters-Umfrage: – 1,9 Prozent, Interfax-Umfrage: – 2,2 Prozent).

Die Chef-Volkswirtin der Alfa Bank, Natalia Orlova, rechnet in einer Ende 2022 veröffentlichten Analyse hingegen mit einer Beschleunigung der Rezession auf 6,5 Prozent. Dabei geht sie von einem realen Rückgang des privaten Verbrauchs um 2 Prozent und der Investitionen um 10 Prozent aus. Auch von der außenwirtschaftlichen Entwicklung erwartet sie produktionsdämpfende Effekte. Sie nimmt an, dass die realen Ausfuhren sinken werden, die realen Importe sich aber erholen.

Orlova erwartet zwar, dass die verfügbaren Einkommen 2023, dem Jahr vor den nächsten Präsidentenwahlen, dank der Gewährung zusätzlicher staatlicher Leistungen steigen. Ein Wachstum der Einkommen bedeute jedoch nicht automatisch einen Anstieg des privaten Verbrauchs. Die russischen Verbraucher konzentrierten sich derzeit darauf, durch Einsparungen bei Nicht-Lebensmitteln ihre Ausgaben für Lebensmittel zu stützen.

Mit der Auswanderung russischer Bürger seien zudem private Bankguthaben ins Ausland abgeflossen, wobei es sich vor allem um Guthaben der “Mittelklasse” handele. Der Effekt auf den Konsum höherwertiger Produkte werde entsprechend stark sein.

Ihre Schätzung, dass die Anlageinvestitionen 2023 um rund 10 Prozent sinken dürften, begründet Natalia Orlova so:

  • 37 Prozent der gesamten Investitionen entfallen auf Maschinen und Ausrüstungen. Sie werden von Unterbrechungen der internationalen Lieferketten betroffen sein.
  • 13 Prozent der gesamten Investitionen in Russland stellten bisher ausländische Unternehmen oder Unternehmen mit ausländischer Beteiligung. Sie dürften 2023 ihre Investitionen stark verringern.
  • Rund 25 Prozent der Anlageinvestitionen entfielen im ersten Halbjahr 2022 auf die Förderung von Öl- und Gas sowie die Herstellung von Mineralölprodukten. Sie dürften wegen der Einschränkung der Exportmöglichkeiten durch die Sanktionen auch gesenkt werden.

BIP-Prognosen 2022 bis 2023

Veränderung des realen Bruttoinlandsprodukts gegenüber dem Vorjahr in Prozent

Ostexperte.de-Artikel zu Konjunktur und Wirtschaftspolitik in Russland von Klaus Dormann:

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