TOP-Experten in Interviews zur Russlandpolitik

TOP-Experten in Interviews zur Russlandpolitik: Wir haben verglichen, was Angela Stent und Alexander Rahr sagen

Zu den Beziehungen Russlands mit dem Westen sind kürzlich ausführliche Interviews mit zwei führenden Experten aus den USA und Deutschland erschienen.

Anfang Januar veröffentlichte die Zeitschrift „Internationale Politik“ der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP) ein Gespräch mit Professor Angela Stent von Henning Hoff und Sumi Somaskanda („Wollen wir ein zweites Jalta?“). Im Dezember hat Professor Alexander Rahr für den Blog „Global Review“ Ralf Ostner ein Interview gegeben („Neue Ostpolitik: Russland und der Westen brauchen Cohabitation! Gemeinsamer Wirtschaftsraum von Lissabon bis Schanghai“).

Wer sind Angela Stent und Alexander Rahr?

Angela Stent (Jahrgang 1947) lehrt an der Georgetown University in Washington. Sie leitet dort das „Center for Eurasian, Russian, and Eastern European Studies“. Seit den 70er Jahren verfolgt sie die Entwicklung der deutsch-russischen Beziehungen mit besonderem Interesse. 1983 erschien ihr Buch „Wandel durch Handel? Die politisch-wirtschaftlichen Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Sowjetunion“.

In einer Rezension der Wochenzeitung „Die Zeit“ hieß es damals: „Angela Stent weist an Hand mehrerer Beispiele nach, warum Handelssanktionen gegenüber der Sowjetunion im allgemeinen nicht funktionieren, und sie zeigt, daß der Einsatz der „Handelswaffe“ nichts gebracht hat…“. Im IP-Interview erinnert Angela Stent jetzt daran, dass die USA seit 1982 nicht mehr Sanktionen mit extraterritorialer Wirkung verhängt hätten. Die neuen US-Sanktionsgesetze böten jedoch die Möglichkeit dazu. Niemand wisse, was unter diesen Voraussetzungen bei einem Bau der Nord Stream 2-Pipeline geschehen werde.

Von 1991–2001 arbeitete Angela Stent als Osteuropa-Expertin im Planungsstab des US-Außenministeriums, von 2004–2006 im „National Intelligence Council“, einem Analyse-Zentrum der US-Geheimdienste. Zuletzt erschien von ihr „The Limits of Partnership: US-Russian Relations in the Twenty-First Century“ (2014). Zwei Wochen nach der Präsidentenwahl in Russland will der Rowohlt Verlag Ende März ein neues Buch von Angela Stent veröffentlichen: „Putins Russland“.

Alexander Rahr (Jahrgang 1959) ist Politikwissenschaftler, Unternehmensberater, Publizist und Autor zahlreicher Russland-Bücher (u.a. „Russland gibt Gas“; „Der kalte Freund“; Biographien über Michail Gorbatschow, Wladimir Putin und Dmitri Medwedew). Auch in Ostexperte.de hat Rahr Kommentare veröffentlicht. Bis 2012 leitete er das Berthold-Beitz-Zentrum für Russland/Eurasien in der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik. 2004 wurde er Ehrenprofessor des Moskauer Staatsinstituts für Internationale Beziehungen, 2011 auch der Moskauer Higher School of Economics.

Seit 2015 ist Rahr stellvertretender Vorsitzender des Verbandes der Russischen Wirtschaft in Deutschland e.V. und arbeitet als Berater für Gazprom. Zuvor war er drei Jahre lang Senior Advisor der Wintershall Holding GmbH sowie Berater des Präsidenten der Deutsch-Russischen Auslandshandelskammer (AHK).

Für das Deutsch-Russische Forum betreut Rahr als Chefredakteur die Diskussionsplattform „Russland kontrovers“. Er ist auch Mitglied des Petersburger Dialogs. Im Arbeitskreis Lissabon-Wladiwostok, einer Initiative der deutschen Wirtschaft, ist er Co-Vorsitzender (Zur Zusammenarbeit mit der EAWU siehe Ostexperte.de-Interview mit Alexander Rahr).

Im folgenden ein kurzer Beitrag von Alexander Rahr von der Petersburger Rohstoff-Konferenz im November 2017 über die deutsch-russischen Beziehungen.

Was uns in den Interviews besonders interessierte

  • Führt Russland einen „hybriden Krieg“ gegen den Westen?
  • Welchen Stellenwert haben Werte und Interessen in der Außenpolitik?
  • Welche Ziele sollte die EU im Hinblick auf die Ost-Ukraine und in der Sanktionspolitik verfolgen? Hat die EU eine einheitliche Russlandpolitik?
  • Wie hat sich die Nato-Osterweiterung auf die Beziehungen zu Russland ausgewirkt? Soll es dabei bleiben, dass die Ukraine und Georgien der Nato beitreten dürfen?
  • Gibt es Chancen für eine Aufhebung der Wirtschaftssanktionen? Welche Risiken haben die Sanktionen der USA speziell für Deutschland und die Energielieferungen aus Russland?
  • Ein Ziel der deutschen Ostpolitik war „Wandel durch Handel“. Was kann getan werden, um diese Politik wieder aufzunehmen?
  • Ist vorstellbar, dass sich die USA und die EU mit Russland langfristig auf die Schaffung einer gemeinsamen „Sicherheitsarchitektur“ verständigen?
  • Wird sich die russische Politik nach der Präsidenten-Wahl ändern?

Um einen Vergleich der Meinungen der TOP-Experten zu erleichtern, haben wir zusammengestellt, was Angela Stent und Alexander Rahr in ihren Interviews mit „Internationale Politik“ und „Global Review“ zu diesen Fragen sagten.

Immer häufiger ist davon die Rede, Russland führe einen „hybriden Krieg“ gegen den Westen. Will Russland die EU mit Cyber-Angriffen, durch Manipulation sozialer Medien und Unterstützung von Separatisten und rechten Gruppierungen schwächen?

Angela Stent im Interview in „Internationale Politik“: „Es gab Cyber-Angriffe auf den deutschen Bundestag, die Russland zugeschrieben werden. Anscheinend gab es im Vorfeld der Bundestagswahlen weniger russische Einmischung, weil die Deutschen besser vorbereitet waren.

Wir wissen, dass es auch zuvor in Frankreich Einflussnahme gab. Ob Brexit oder die katalanische Unabhängigkeitsbewegung, überall vernimmt man, dass Moskau versucht, von Euroskeptizismus und Populismus zu profitieren. Diese Bewegungen existieren ja bereits, aber Russland versucht zweifelsohne, Kapital aus ihnen zu schlagen und gleichzeitig unsere demokratischen Wertvorstellungen und den in der Nachkriegszeit gewachsenen Glauben an die Europäische Union zu untergraben.

Dass Moskau mittlerweile eine sehr ausgeklügelte politische Strategie verfolgt, potenziert unsere Probleme mit Russland. Ein Teil dieser Strategie ist offensichtlich und wird etwa mithilfe von RT und Sputnik betrieben – und in den USA erreicht RT ein beachtliches Publikum. Der andere Teil der Strategie wird im Verborgenen umgesetzt, durch Cyber-Attacken und durch die Manipulation sozialer Medien. …

Selbst wenn wir daran zweifeln, dass russische Hacker ihre Anweisungen wirklich direkt von der Regierung erhalten, dann bleibt meiner Meinung nach immer noch festzuhalten, dass der Kreml die Verwundbarkeit der USA und Europas registriert und eine Politik der Einflussnahme entwickelt hat. Russland hat kein Interesse an einer stabilen EU, also tut man alles, um die EU zu schwächen. Warum auch nicht? …

Und vergessen Sie nicht, dass Russland Konferenzen für Separatisten und rechte Gruppierungen veranstaltet und unter anderem Marine Le Pen mitfinanziert hat. All das ist wohlüberlegt und von ganz oben veranlasst.“

Alexander Rahr im Interview in „Global Review“:Ich bezweifele, dass Putin eine Zerstörung Europas als strategisches Ziel ins Auge gefasst hat. Die Unterstützung rechtsradikaler Parteien scheint mir eher marginal zu sein. Würde es größere Geldströme in diese Parteien hinein aus Moskau geben, hätte der Westen das längst bemerkt. …

Versetzen wir uns in Putins Kopf. Russland möchte mit Europa handeln und in ferner Zukunft eine sicherheitspolitische Partnerschaft ausloten. Die gegenwärtigen EU-Führungseliten, sowie die Amerikaner, wollen Russland auf Abstand halten. Die deutsch-russische Modernisierungspartnerschaft hat Deutschland einseitig aufgekündigt, weil Russland den Weg zur Demokratie verlassen hat. Also versucht die Kremlführung sich mit den Kräften in Europa zu einigen, die noch nicht an der Macht sind, irgendwann einmal jedoch über größeren Einfluss in Europa verfügen könnten. Diese Kräfte suchen ja selbst den Kontakt nach Moskau.

Schauen Sie: seit dem Ende des Kalten Krieges hat der Westen sich in die inneren Angelegenheiten der osteuropäischen Staaten eingemischt, seine liberale Weltanschauung über Konferenzen, Stiftungsaktivitäten, Fellowships an ausgewählte Elitevertreter, in diese Länder hineingetragen. …

Jetzt macht es Russland umgekehrt, es will auch seine Vorstellungen nach Westen importieren. Es trägt eine unterschiedliche Werteauffassung in unsere Gesellschaften hinein. Wir schäumen vor Wut, nennen das Propaganda, drohen mit Verboten.

Ich sehe das sportlich. Russland kommt ja nicht mit feindlichen Absichten. Was wir brauchen, ist ein ehrlicher Dialog über den Zeitgeist von Europa, über postmoderne und christliche Werte, über gemeinsame Ziele. Nicht mit dem Kreml – sondern mit der russischen Zivilgesellschaft, die übrigens selbst Träger des konservativen Gedankenguts in Russland ist.“ …

Welchen Stellenwert haben Werte und Interessen in der Außenpolitik?

Rahr: „Die Neuauflage der Auseinandersetzung mit Russland ist zwei Momenten geschuldet: der Orientierung Russlands weg von westlichen liberalen Werten hin zur Idee eines „traditionellen Europa“. Das ist keine Bedrohung des Westens. Zweitens: der westlichen NATO-Osterweiterung in die alte russische Einflusssphäre hinein“. …

Ich plädiere für ein Neues Denken in Europa. Merkels rein werteorientierter Ansatz in ihrer Außenpolitik ist gescheitert, vor allem nach Trumps Machtübernahme. Die EU kann ihre Partnerschaft gegenüber einem anderen Land nicht ausschließlich davon abhängig machen, ob dort liberale Demokratie herrscht, oder nicht. Die gute alte Interessenspolitik ist mitnichten im 20. Jahrhundert untergegangen. …

Auch wenn ich Gefahr laufe, mich zu wiederholen: die EU braucht einen strategischen Interessensausgleich mit anderen großen europäischen Mächten wie Russland und Türkei, wenn Sie wollen auch dem Vereinigten Königreich nach dem Brexit. In Deutschland herrscht ähnliches Denken bislang nur in der SPD, beispielsweise bei Sigmar Gabriel.“

Wie ist die Nato-Osterweiterung zu beurteilen? Soll es dabei bleiben, dass die Ukraine und Georgien der Nato beitreten dürfen?

Stent: Eine neue Russland-Politik kann nur funktionieren, wenn sie einkalkuliert, was Moskau von uns will – dass wir nämlich einen russischen Einflussbereich anerkennen, der nicht an den Außengrenzen der Russischen Föderation endet, sondern auch die ehemaligen Sowjetrepubliken einschließt. Sind wir bereit, Putins Wünsche zu erfüllen, also eine Neuauflage von Jalta unter Beteiligung Russlands, den USA und Chinas zu organisieren? Was wäre denn Europas Rolle?

Auch wird behauptet, Russland habe historisch legitimierte Interessen in der Region und werde von einem Westen bedroht, der sich immer näher an die eigenen Landesgrenzen heranschiebe. Versprechen wir also: keine NATO-Erweiterung mehr? In Wahrheit ist eine solche ohnehin unwahrscheinlich.

Kurz: „Eine Russland-Politik, die insofern erfolgreich wäre, als dass sie vom Kreml als nicht feindlich verstanden würde, müsste russische Interessen befriedigen.“ …

Manche sagen, dass die Probleme auf den NATO-Gipfel zurückgehen, der 2008 in Bukarest stattfand. In einem Kompromiss zwischen Deutschland, den USA und anderen wurden der Ukraine und Georgien keine Aktionspläne zur Mitgliedschaft in Aussicht gestellt. Stattdessen enthielt das Kommuniqué schlicht den Satz, dass die beiden Staaten der NATO beitreten würden. Doch was heißt das? Es gab kein festgelegtes Datum.

Für Russland war es aber dennoch einfach zu behaupten, dass man sich deshalb die Krim einverleiben musste.

Verabschiedet sich die NATO also nun von der Formulierung, um eine erneute Eskalation zu vermeiden? Das zu tun, und gleichzeitig nichts über die Köpfe der Georgier und der Ukrainer hinweg zu entscheiden, ist äußerst kompliziert. Man könnte es sicher schaffen, aber in jedem Fall würde der Geist der Jalta-Konferenz von 1945 über allem schweben. Das ist ein Problem, mit dem sich die Europäer und die NATO beschäftigen werden müssen.

Es gibt Europäer und Amerikaner, die sagen, man solle gemeinsam garantieren, dass die Ukraine auch in Zukunft neutral bleibt. Ich frage mich allerdings, inwiefern das die russische Strategie verändern würde.“

Rahr: „Sicherlich: niemand kann den kleinen osteuropäischen Staaten verbieten, ihre Bündniszugehörigkeit selbst zu wählen. Das heißt jedoch nicht, dass die NATO solche Staaten in ihre Reihen aufnehmen muss, deren Beitritt die Sicherheitslage erschweren würde. Nehmen wir als Beispiel Israel. Der Westen, vor allem Amerika, wird immer zu Israel stehen, auch militärisch. Aber ein formeller NATO-Beitritt Israels würde unweigerlich zu schweren Erschütterungen im Nahen Osten führen und die israelische Sicherheitslage nicht wesentlich verbessern.“

Welche Ziele sollte die EU im Hinblick auf die Ost-Ukraine und in der Sanktionspolitik verfolgen? Hat die EU eine einheitliche Russlandpolitik?

Rahr: „Kurzfristig muss der Minsker Prozess in der Ostukraine endlich umgesetzt werden. Was ist dafür besonders erforderlich? Die Stationierung einer UN-Friedenstruppe, zunächst an der Frontlinie zwischen Separatisten und ukrainischer Armee, dann – nach der Gewährung der Autonomie an den Donbass durch das ukrainische Parlament, Amnestie, Wahlen etc.  – Blauhelme im gesamten Gebiet der Aufständischen.

Wenn der Minsker Prozess ins Rollen kommt, muss der Einstieg in den Ausstieg aus den Wirtschaftssanktionen erfolgen.

In diesem Punkt gibt es ein Problem: die US-Sanktionen. Diese haben mit der Ukraine-Krise wenig zu tun, sondern dienen einzig und allein dem neuen erklärten Ziel der Amerikaner, den Erzrivalen geopolitisch einzudämmen und zu beschädigen. Hier muss Europa vermitteln.

Aber auch Europa ist gespalten, zwischen Staaten die eine Normalisierung mit Russland wünschen und solchen, die Russland aus Europa für immer vertreiben wollen.“

Stent: „Die EU hat keine einheitliche Russland-Politik. Es gibt die deutschen und französischen Ansätze, die mehr oder weniger aufeinander abgestimmt sind, und eine britische Strategie, die jedoch immer unwichtiger wird. Wenn man sich die „illiberale Demokratie“ Ungarn anschaut, aber auch die Tschechische Republik, Zypern, Griechenland und selbst Italien und Spanien, dann merkt man, dass es durchaus eine Reihe von EU-Mitgliedstaaten gibt, die sich für eine Aufhebung der Sanktionen einsetzen. Ohne deutsch-französische Zustimmung können sie allerdings nichts ausrichten.“

Gibt es Chancen, dass die Sanktionen aufgehoben werden? Welche Risiken haben die US-Sanktionen für Deutschland?

Stent: „Die EU könnte die Sanktionen aufheben, aber was bekäme man dafür?

In den USA ist die Situation noch komplizierter. Der Kongress hat strikte Gesetze verabschiedet, weil sowohl Demokraten als auch Republikaner fürchteten, dass Präsident Trump die Sanktionen im Alleingang aufheben könnte. Meiner Meinung nach hätte er auch genau das getan. …

Zudem könnten die Sanktionen in ihrer aktuellen Form auch weitreichende Konsequenzen für Deutschland haben, weil sie beispielsweise den Bau neuer Gaspipelines untersagen, und niemand weiß, was unter diesen Voraussetzungen mit der Nord Stream 2-Pipeline geschehen wird. Käme es zum Bau, könnten die Vereinigten Staaten extraterritoriale Sanktionen verhängen, was seit 1982 nicht mehr passiert ist.

Im Hinblick auf eine kohärente Russland-Politik wäre es also gut, wenn die USA und die EU ihre Strategien aufeinander abstimmen würden.

Welche Rolle spielen die Energielieferungen in den außenpolitischen Beziehungen zwischen Deutschland, der EU, den USA und Russland?

Alexander Rahr: Was das große Gasgeschäft angeht: wichtig ist hier die Diversifizierung. Die EU will sich nicht von russischen Gaslieferungen einseitig abhängig machen, deshalb kauft sie ja inzwischen auch Flüssiggas bei den Amerikanern ein.

Aber Diversifizierung bedeutet auch, dass Russland sich nicht einseitig von einem Transitland wie der Ukraine abhängig machen will. Es ist ja kein Geheimnis, dass russisches Gas, das an den Westen adressiert gewesen ist, in der Ukraine abgezweigt wurde. Deshalb ist die Ostseepipeline für mich eine logische Folge davon.

Ich finde, der Markt muss die Probleme regeln. Wenn die Nabucco Pipeline, die aus den weite entfernten Steppen Zentralasiens Erdgas nach Europa bringen sollte, angesichts der fallenden Gaspreise einfach zu teuer wurde, war es richtig, auf sie zu verzichten.

Ich finde, wir müssen fair spielen. Es ist ein Unding, wenn Amerikaner jetzt Sanktionen gegen russische Gaslieferungen verhängen und die entstehenden Lieferpässe mit eigenem Flüssiggas füllen wollen. Nennt man sowas lauteren Wettbewerb? Mitnichten.“

Ein Ziel der deutschen Ostpolitik war „Wandel durch Handel“. Gibt es konkrete Vorschläge, um diese Politik wieder aufzunehmen?

Rahr: „Ich plädiere natürlich auch für die Wiederkehr der Politik des „Wandel durch Handel“. …“

„Viele kluge Köpfe basteln an einer neuen Ostpolitik. Ich verweise da auf den hochrangig besetzten deutschen Arbeitskreis „Gemeinsamer Raum von Lissabon bis Wladiwostok“, auf die „Potsdamer Begegnungen“, welche einen Back-Channel zwischen der deutschen und russischen Regierung in schwierigen Zeiten aufbaut, auf das deutsch-russische Rohstoffforum.“…

„Als ersten, notwendigen Schritt, sehe ich einen Kooperationsvertrag zwischen der Europäischen Union und der Eurasischen Wirtschaftsunion. Letztere ist inzwischen ein Fakt, wir können sie nicht länger ignorieren.

Als zweiten Schritt sehe ich die Konzeption eines gemeinsamen Wirtschaftsraumes – nicht von Lissabon bis Wladiwostok – sondern von Lissabon bis Schanghai. Die chinesische Strategie der neuen Seidenstraße über Zentralasien und Russland nach Europa ist ebenso Fakt. Überlassen wir doch den Aufbau dieses Raumes nicht den Chinesen und Russen, sondern krempeln die Ärmel hoch und machen ganz einfach mit. Über gemeinsame Wirtschaftsprojekte, eine Freihandelszone, bekommen wir eine hohe Friedensdividende.“

Was unterscheidet die heutige Zeit von der des „Kalten Krieges“? Wird Russland vom Westen nicht mehr als Großmacht wahrgenommen? Gibt es Gremien, in denen West und Ost wieder ins Gespräch kommen könnten.

Rahr: „USA und UdSSR waren (im „Kalten Krieg“) ungefähr gleich stark, respektierten sich – trotz Feindschaft, und verhandelten über Abrüstung und Entspannungspolitik, wenn auch zähneknirschend, auf gleicher Augenhöhe. …

Was ist das Problem heute? Der Westen nimmt Russland nicht mehr ernst: für den Westen ist Russland eine zerfallene Großmacht, ohne richtiger Wirtschaft, ohne Verbündete, ohne Wachstumschancen – eine absteigende Regionalmacht, die in der Weltpolitik nichts mehr zu sagen hat. Putin versteht den Westen jedenfalls so, was ihn empört und zu aggressiver Gegenpolitik verleitet. …

Im Kalten Krieg lebten wir in Feindschaft – aber dennoch im gegenseitigen Respekt miteinander. Hier liegt der Hund begraben, hier benötigen wir einen kategorisch anderen Ansatz. Die OSZE wäre eine Plattform, wo West und Ost einen konstruktiven Dialog, abseits der vorherrschenden Konfrontation, starten könnten.“

Stent: Russland glaubt, es habe das Recht auf eine „Sphäre privilegierter Interessen“ im ehemals sowjetischen Raum und darüber hinaus auf einen Platz am Verhandlungstisch der Großmächte, wenn es um wichtige Fragen geht.

Im Nahen Osten ist Russland zum Beispiel sehr erfolgreich darin gewesen, sich zu positionieren und den Lauf der Dinge mitzubestimmen. Im Grunde will Russland vom Westen wie die Sowjetunion behandelt werden – als eine Großmacht, deren Interessen legitim sind, die wir respektieren und bis zu einem gewissen Grad auch fürchten. Die Chinesen verstehen es sehr gut, die Russen so zu behandeln, obwohl sie es besser wissen.“

Kann es einen baldigen „Neustart“ im Ost-West-Verhältnis geben?

Stent: „Ich bin immer vorsichtig, wenn es darum geht, den berühmten „Reset“-Knopf zu drücken. Ich habe ein Buch über vier US-Präsidenten geschrieben, die seit 1992 einen Neustart mit Russland versucht haben, und am Ende mündeten alle diese Versuche in Enttäuschung. Man muss sich seiner eigenen Erwartungen bewusst sein. Der Kreml ist beim Thema Ukraine nie auch nur einen Millimeter von seiner Position abgewichen. …

Heben wir die Sanktionen auf? Würde man das machen, ohne dass Russland seinen Kurs in der Ukraine-Frage geändert hat, hätte das starke Signalwirkung.

Würde man die Minsker Abkommen verwerfen und neue Einigungen erzielen wollen, müssten erst alle Parteien zustimmen und man bräuchte aktivere Beteiligung von Frankreich und Deutschland.

Was wäre also die Basis für einen erneuten „Reset“ in unserer Russland-Politik?

Werden sich die USA und die EU mit Russland langfristig auf die Schaffung einer gemeinsamen „Sicherheitsarchitektur“ verständigen können?

Stent: Es „reden einige Leute darüber, eine neue euro-atlantische Sicherheitsarchitektur in Kooperation mit Russland zu entwerfen. Ich kann mir allerdings nur schwer vorstellen, wie die aussehen könnte. Was passiert dann mit der NATO? Und erlaubt man es Russland, Einfluss auf die Außenpolitik seiner Nachbarn zu nehmen?“

Rahr:Russland sieht sich, seit Peter dem Großen, als europäische Gestaltungsmacht. Tatsächlich wäre die Einheit Europas nur komplett, wenn der größte europäische Flächenstaat Russland in Europa integriert ist. Russland ist wirtschaftlich und kulturell eng mit Europa verbunden – und umgekehrt.

In der Zukunft muss Europa, um seine Stabilität zu bewahren, einen gemeinsamen Sicherheitsraum mit – und nicht gegen – Russland konzipieren. Das ist im Wesentlich die Sicht Vladimir Putins. Von seinem Vorgänger, Boris Jelzin, unterscheidet er sich darin, dass Letzterer über eine Integration nach Europa auf der Basis eines Beitritts Russlands zur NATO und EU nachdachte.

Die Europa-Strategie Russlands ist legitim, entspricht genauso den nationalen Interessen, wie der Wunsch der mittel – und osteuropäischen Staaten, einschließlich der Türkei, Teil eines gemeinsamen Europas zu sein. Ich wiederhole: darin gibt es nichts Verwerfliches.

Das Problem besteht allerdings darin, dass eine Verschmelzung des westlichen und östlichsten Teils des europäischen Kontinents völlig neue Institutionen erfordert.

Ein solches Großeuropa wäre auch keine liberale Wertegemeinschaft mehr, sondern eine Interessensgemeinschaft – die sich gemeinsam gegen die globalen Herausforderungen stemmen würde.

Die heutigen EU-Führungseliten sind jedoch nicht gewillt, wegen Russland Institutionen wie NATO und EU aufzuweichen und den Wertediskurs einzuengen.

Und nun zu den Amerikanern. Auch die USA haben selbstverständlich das Recht auf eine eigene Europa-Strategie. Sie haben schließlich den Wohlstand und die Freiheit Europas im Zweiten Weltkrieg und Kalten Krieg erstritten. Die USA wollen, dass Europa in einer größeren Institution – der transatlantischen Gemeinschaft – integriert bleibt, wo die USA als stärkste Macht das Sagen haben. Der Beitritt eines so großen Landes wie Russland nach Europa würde die transatlantische Gemeinschaft zersetzen und ein Kontinentaleuropa schaffen, in dem der amerikanische Einfluss merklich zurückgehen würde. Damit wäre klar definiert, warum die USA sich gegen eine von Deutschland und Frankreich alle Jahre wieder ins Spiel gebrachte Idee von einem gemeinsamen Europa mit Russland sträuben.“

Erwarten Sie Änderungen der russischen Politik nach der Wahl?

Stent: „Zurzeit ist ohnehin alles in der Schwebe, bis die Wahlen in Russland vorbei sind. Was aber passiert, sobald Putin im März wiedergewählt wird? Aus meinen Gesprächen mit russischen Experten habe ich nicht den Eindruck, dass eine politische Kursänderung zu erwarten ist, weder innen- noch außenpolitisch.“

Quellen und Lesetipps zu den Interviews und zur Russlandpolitik

Zu Angela Stent:

Zu Alexander Rahr:

Links zur Russlandpolitik:

Titelbild
Quelle: Stephan Röhl, Heinrich-Böll StiftungKeynote: Angela Stent, Size changed to 1040×585 px., CC BY-SA 2.0 [/su_spoiler]