Ersatztherapie in der IT-Branche

Massenexodus von ausländischen IT-Firmen: Ende Juni verkündeten Cisco und Microsoft ihren Rücktritt. Wer und was vakante Stellen besetzen könnte, ist im Prinzip klar.

Von Igor Beresin

Verkehrsampeln sind außer Betrieb, Kommunikationskanäle funktionieren nicht mehr und Banksysteme unterstützen keine Finanztransaktionen. Das klingt wie ein Sujet eines Hollywood-Streifens mit Bruce Willis in der Hauptrolle. Oder sind es ganz reale Probleme, mit denen Russland bald konfrontiert wird? Am 23. Juni gab Cisco bekannt, der Konzern beende sein Geschäft in Russland. Es ist nicht leicht, sich russische Netzwerkinfrastrukturen ohne Cisco-Produkte vorzustellen. Das ist ein merklicher Verlust. Und leider nicht der einzige. Cisco ist nur eine Episode des IT-Massenexodus aus Russland.

Wieder Raubkopien?

Beinahe gleichzeitig mit Cisco verkündete auch Microsoft, dass der Konzern sein Geschäft in Russland weiter reduzieren möchte, um letztendlich den russischen Markt komplett zu verlassen. „Was Russland betrifft, sehen wir, wie unser Geschäft dort schrumpft, schrumpft, schrumpft … Und anscheinend wird es weiter schrumpfen, bis fast nichts und nichts mehr davon übrig ist“, so der Präsident des Software-Riesen Brad Smith. Dabei wurde den 400 entlassenen russischen Mitarbeitern Unterstützung zugesagt, die sie „brauchen und verdienen“.

Microsoft ist in Russland unbestrittener Marktführer. Dem analytischen Service StartCounter zufolge laufen auf mehr als 95 Prozent aller PCs und Laptops in Russland verschiedene Windows-Versionen. Trotz dieser Tatsache sind sich viele russische Experten sicher, dass der angekündigte Rückzug des Betriebssystem-Herstellers für die meisten Benutzer keine Katastrophe bedeutet. Obwohl der Anteil der Windows-Raubkopien auf den User-Rechnern derzeit drastisch gesunken ist, halten es noch viele technisch fortgeschrittene PC-Käufer für eine gute Option. Für die anderen gibt es noch eine legale und preiswerte Alternative: Linux.

Herrscher über eigene Daten bleiben

Man schaut in die Richtung Open Source, auch wenn es um Datenbankmanagementsysteme (DBMS) geht. Russische Softwareentwickler bieten eine Alternative auf der Basis der Open-Source-Verwaltungssoftware PostgreSQL an. Laut der Umfrage des analytischen Zentrums TAdviser Ende 2019 benutzten die meisten großen Privatunternehmen und staatlichen Konzerne DBMS-Produkte von Oracle und Microsoft. Schon damals stand es bei den Befragten auf dem Plan, diese Produkte durch die einheimischen Alternativen zu ersetzen. 2018 verabschiedete die Regierung eine Verordnung, die das Ziel für Staatsunternehmen setzte: 50 Prozent aller Software-Produkte müssen sie bis zu 2022 bei russischen Herstellern einkaufen.

Und jetzt ist es noch strenger: Am 31. März unterzeichnete der russische Präsident einen Erlass, der den Einkauf von ausländischer Software für kritische Informationsinfrastrukturen verbietet. Der Abteilungsleiter im Systemintegrator IBS Anton Sutschkow sagte gegenüber „Wedomosti“, die Zahl der Anfragen für die Unterstützung bei der Umstellung auf russische DBMS sei nach dem Rückzug von Oracle gestiegen. Während die Firma früher lediglich zwei-drei solcher Anfragen pro Jahr bekam, wenden sich bereits drei-vier Kunden mit solchen Fragen im Monat an IBS.

Schwarzenegger Medwedjew Cisco
Es gab Zeiten, als der Kremlchef zu Gast im Ciscos-Hauptquartier war: Dmitri Medwedew 2010 mit dem Gouverneur von Kalifornien Arnold Schwarzenegger und Cisco Systems CEO John Chambers. Quelle: Kremlin.ru / http://en.kremlin.ru/events/president/news/8148

Logistik über Umwege

Was mit der Software funktioniert, kann im Fall der Hardware nicht weiterhelfen. Um fehlende Lieferungen von Servern, Rechnern, Switches, Routern etc. durch einheimische Produkte zu ersetzen, braucht man Industrie: Werke, Technologien, elektronische Komponenten. Das entsteht nicht im Handumdrehen. Russland hat die eigenen Prozessoren „Elbrus“ und „Baikal“, das Werk Mikron in Selenograd stellt Mikroelektronik her, aber das reicht offensichtlich nicht, um den Bedarf zu decken.

Der Marktanteil von Cisco liegt im Segment Ethernet-Switches bei über 44 Prozent. Von einer Katastrophe nach dem Aus von Cisco kann keine Rede sein, meint der Telekom-Experte Eldar Murtasin. Der Marktforscher weist darauf hin, dass neben den einheimischen Herstellern der Telekom-Geräte (Elkom, T8) auch der chinesische Konzern Huawei die russischen Kunden beliefern kann. Der Experte ist sicher, die US-amerikanische Produzenten werden mit Russland abgesehen von den Sanktionen weiterarbeiten. Das Geschäft läuft schon heute über Drittländer, behauptet Murtasin. Es wird teurer, es stellen sich zahlreiche Fragen zur Sicherheit von Netzen, Gerätekompatibilität, Garantie, etc., aber zur Rettung der Welt braucht Russland Bruce Willis anscheinend nicht anzurufen.

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Dieser Text erschien zuerst in der Moskauer Deutschen Zeitung.