Eine (neue) Brücke in den Osten

Interview mit BWA-Vorstand Michael Schumann

Wie blickt die Wirtschaft in Krisen-Zeiten auf die deutschen Beziehungen zu Russland und China? Michael Schumann ist Vorstand des Bundesverbandes für Außenwirtschaft und Wirtschaftsförderung. Im Interview sprach Er mit uns über russisches Supercomputing, politische Abkopplungs-Gefahren und die Notwendigkeit einer „Eurasien-Brücke“.


Herr Schumann, wie wird man Vorstandsvorsitzender des BWA?

Indem man mit Herz und Leidenschaft für diesen Verband lebt und arbeitet. Ich habe den BWA nicht mitgegründet, bin erst 2006, drei Jahre nach seiner Gründung, zu ihm gestoßen – zunächst als Kommunikationsberater und einfaches Mitglied. Ich habe ursprünglich etwas völlig wirtschaftsfremdes studiert; Germanistik, Philosophie und Amerikanistik; hatte aber immer Freude daran, Menschen miteinander in Kontakt zu bringen. Dann hat es mich über Stationen in der Öffentlichkeitsarbeit, Politikberatung und Public Affairs in die Wirtschaft verschlagen, ich war selbst unternehmerisch im In- und Ausland tätig und habe im BWA zunehmend ein Betätigungsfeld gefunden, das mir viel Freude macht.

Wie sieht der Alltag des BWA-Vorstandsvorsitzenden aus?

Nach außen geht es vor allem darum, den Verband zu repräsentieren und die Themen, für die wir stehen, in die Öffentlichkeit zu tragen. Auch den Sachverstand, den unsere Mitglieder in die Verbandsarbeit miteinbringen, für die Politik fruchtbar zu machen – wir machen Politikern aller Parteien, von denen viele heutzutage keine direkte Erfahrung mehr in der freien Wirtschaft oder in der Außenwirtschaft haben, das Angebot, auf die bei uns vorhandene Expertise zuzugreifen. Und nach innen besteht mein Alltag vor allem darin, die Geschicke des Verbandes zu lenken und sicherzustellen, dass unsere Mitglieder einen guten Service bekommen. Gut 60-70 Prozent der Arbeit des BWA besteht darin, Mitgliedsunternehmen bei ihren Projekten in Auslandsmärkten zu unterstützen, sie zu flankieren und Türen zu öffnen.

Gibt es regionale Schwerpunkte?

Der Verband ist ja in einer Zeit gegründet worden, als man sehr stark über „Emerging Markets“ sprach, die BRICS Diskussion, China, Russland und Indien als Schwerpunktmärkte, darum haben wir uns sehr früh gekümmert und tun dies noch heute. Wir wollen mittelständischen Unternehmern den Zugang zu diesen Märkten erleichtern, durch das Teilen von Erfahrungen und Kontakten, und so die Arbeit der Außenhandelskammern ergänzen. Wir fokussieren uns auf Märkte, die sich einem Unternehmen nicht so leicht erschließen, als wenn man zum Beispiel nach Frankreich oder Italien geht, und schauen, dass wir den Sachverstand und die Expertise von Unternehmern, die in diesen Märkten bereits erfolgreich unterwegs sind, zugänglich machen für andere, die nachfolgen. Und das auf eine pragmatische, schnelle und flexible Art und Weise, wir sind ein unternehmerisch denkender Verband, keine Behörde. Es geht immer darum, schnell und unkompliziert Hilfe zu leisten. China, Russland, Indien stehen seit unserer Gründung im Mittelpunkt, aber natürlich sind viele weitere Märkte hinzugekommen. Wir haben in unserer 19-jährigen Geschichte Projekte in etwas mehr als 70 Ländern begleitet.

Wie arbeitet der BWA in Osteuropa und Russland?

Wir haben bei uns eine Struktur, die auf mehreren Säulen ruht, was Auslandsengagements in solchen Märkten angeht. Einerseits haben wir Unternehmer oder gestandene Persönlichkeiten, die uns in diesen Märkten repräsentieren. Wir haben bei uns ein Gremium, den „BWA-Senat“, dem Mitglieder angehören, die im Ausland viel Erfahrung gesammelt haben und quasi als „Botschafter“ des BWA den Verband in diesen Ländern vertreten. Wir sind ein beitragsfinanzierter Verband, keine staatliche Organisation, und können nicht überall mit eigenen Mitteln ein Auslandsbüro unterhalten. So haben wir dann Repräsentanten gefunden, die sich mit den Zielen des Verbandes identifizieren, die in den jeweiligen Märkten schon seit langem tätig sind und über ein gutes Netzwerk verfügen. In Russland sind das zum Beispiel Prof. Hans-Joachim Frey in St. Petersburg und Philipp Rowe in Moskau. Andererseits schauen wir, dass wir in unseren Zielmärkten mit ähnlich gelagerten Unternehmerverbänden Kooperationen und Partnerschaften schließen. In Russland zum Beispiel mit dem RSPP (Russian Union of Industrialists and Entrepreneurs). Eine weitere Säule sind dann regionale Schwerpunkte, also dass man mit bestimmten Wirtschaftsförderungen einzelner Regionen und Städte zusammenarbeitet, die ein Interesse haben am Austausch und an deutschen Unternehmenskontakten.

Wann waren Sie das letzte Mal in Russland – und wozu?

Das letzte Mal war ich Ende November vergangenen Jahres in Russland, ich habe dort auf einem Wirtschaftskongress in Moskau gesprochen und den russischen Technologiepark Skolkovo mit seiner, dem Massachusetts Institute of Technology nachempfundenen, Exzellenzuniversität Skoltech besucht. Das war mir wichtig, weil ich viel von Skolkovo gehört und gelesen hatte, es aber selbst nie gesehen habe. Skolkovo wurde ja mal apostrophiert als „russisches Silicon Valley“, und ich war sehr beeindruckt von den Dingen, die ich dort gesehen habe. Jeder, der Russland bereist, weiß ja, dass viele Entwicklungen, die man dort sieht, nicht zusammenpassen mit dem Bild von Russland, das die meisten Medien bei uns zeichnen. Ich habe jedenfalls meine Annahme bestätigt gefunden, dass wir unser Russlandbild, das bei uns in Deutschland noch sehr von der Wahrnehmung Russlands als Rohstoffwirtschaft und Energielieferant geprägt ist, korrigieren sollten. Russland ist auch ein Land, in dem man an Zukunftstechnologien arbeitet und dessen Innovationskraft zunimmt.

Skoltech ist eine Elite-Universität, die durchaus mit allen entsprechenden Institutionen bei uns Schritt halten kann. Da findet erstklassige Forschung statt in den Bereichen Künstliche Intelligenz, Supercomputing, Photonics und auf dem Gebiet der neuen Materialien. Und ich habe dort ähnliche Beobachtungen gemacht wie vor einigen Jahren in China: Man war sehr stolz darauf, mir zu zeigen, wie international man aufgestellt ist, dass nur die besten Talente an jungen Studierenden und Wissenschaftlern dort aufgenommen werden und dass man Studierende aus fast 40 Ländern unterrichtet. Doch als ich fragte, wie viele dieser Studenten aus Deutschland kämen, war die Antwort sehr ernüchternd. Das lässt einen schon nachdenken. Wollen wir wirklich, dass die jungen Eliten aus dem osteuropäischen Raum und den eurasischen Ländern in Zukunft über mehr Russlandkompetenz verfügen als unsere Eliten? Ich bin mir nicht sicher, ob das in unserem wohlverstandenen Interesse liegt, da keine Kompetenz aufzubauen.

Was meinen Sie damit?

Ich glaube einfach, dass wir aufpassen müssen, dass unsere politischen Differenzen nicht zu „Abkopplungstendenzen“ führen, dass wir uns nicht Chancen verbauen, in dem wir uns von Innovationen abschneiden. Ich halte es für wichtig, dass wir die Gräben, die Politik aufreißt, nicht so stehen lassen, sondern versuchen, sie mit Dialog, Gesprächen und Kenntnis voneinander zu überbrücken. Auch sollten wir in unserem eigenen Interesse anschlussfähig bleiben. In Russland und Eurasien entstehen Märkte der Zukunft, und es ist immer noch so, dass deutsche Unternehmen, basierend auf dem, wofür unser Mittelstand stand und steht, dort einen guten Namen haben. Man sucht den Kontakt zu deutschen Partnern, nur, wenn wir nicht präsent sind, dann füllen andere das Vakuum. Häufig sind das dann, das kann man ja an vielen Wirtschaftsräumen sehen, Anbieter aus China. Das ist normaler Wettbewerb, China erstarkt und insofern ist es nur logisch, dass unsere Wirtschaft auf Drittmärkten verstärkt mit chinesischen Unternehmen konkurriert. Aber wir sollten diese Herausforderung annehmen und uns nicht aus diesen Märkten politisch motiviert zurückziehen. Wenn sie für unsere Unternehmen erst einmal verloren sind, dürfte es sehr schwer werden, sie wieder zu gewinnen.

Was erhoffen Sie und ihre Mitglieder sich von der neuen Bundesregierung?

Ich denke, man sollte – so wie jedem Menschen – auch allen, die neu politische Verantwortung übernehmen, zugestehen, dass sie an ihren Aufgaben wachsen. Der Besuch unserer Außenministerin in Moskau hat ja viele überrascht, sie hat ihre Worte dort besonnen gewählt und in vielem den richtigen Ton getroffen. Wir würden uns als Wirtschaftsverband natürlich wünschen, dass die neue Bundesregierung sich eine gesunde Dosis Realpolitik erhält, insbesondere, wenn es darum geht, den Dialog und den Austausch mit Ländern und Wirtschaftsräumen zu gestalten, in denen die Menschen in anderen politischen Systemen leben. Und dass man die eigenen Bilder vom anderen nicht gleich absolut setzt, sondern anhand eigener Anschauung und im Gespräch mit Menschen vor Ort überprüft, ob sie tatsächlich den Realitäten in diesen Ländern entsprechen. Bisher wurde das mit Bezug auf Russland leider zu oft den politischen Rändern in unserer Demokratie überlassen. Ich denke aber, es ist wichtig und geboten, dass wir aus der Mitte heraus ein Verhältnis mit Augenmaß herstellen. Die aktuellen politischen Geschehnisse machen das nicht gerade leicht, aber umso mehr stellt sich die Aufgabe. Auch und gerade, um den Frieden in Europa zu erhalten.

Was ich immer wieder festgestellt habe in Diskussionen über China, über Russland, ist, wie wenig Erfahrung aus eigener Anschauung bei den Diskutanten vorhanden ist, wie wenig China- und Russlandkompetenz wir haben. Jeder hat heutzutage zu China oder Russland eine dezidierte Meinung, aber wenn man einmal nachfragt, wie oft jemand in diesen Ländern zu Besuch war, was er über sie weiß, ob es Menschen gibt, mit denen er sich dort regelmäßig austauscht, dann kommt meistens sehr, sehr wenig. Ich glaube, dass das Bild, das unsere Medien von beiden Ländern zeichnen, die Realität nicht angemessen wiedergibt. Daher halte ich die Erfahrung aus eigener Anschauung für so wichtig, und von der haben wir in unseren Reihen eine ganze Menge.

Ich würde schon sagen, dass der deutsche Mittelstand, dass unsere Wirtschaft in diesem Zusammenhang noch ein besonderer Kompetenzträger ist. Viele Mittelständler haben jahrelange Erfahrung in China und auch in Russland, bringen eigene Anschauung, persönliche Kontakte und wirtschaftliche Expertise mit. Und ich würde mir wünschen, dass das in der Politik etwas stärker Gehör findet. Und es geht hier nicht in erster Linie darum, weiter gute Geschäfte machen zu können, wie immer unterstellt wird. Viele Unternehmer bei uns wissen einfach mehr über diese Länder und seine Menschen als Politiker, die noch nie da waren.

Zu den konkreten Themen aus dem Koalitionsvertrag, was China oder Russland betrifft, da sieht man natürlich, dass das Konfliktpotenzial adressiert wird, aber es ist auch begrüßenswert, dass dort zu lesen ist, dass man bei Zukunftsthemen, also beispielsweise Wasserstoff, mit Russland intensiver zusammenarbeiten möchte. Und was ich sehr begrüße, ist die Idee, Visafreiheit für junge Menschen unter 25 zu schaffen. Das kann sicherlich ein guter Ansatz sein, wieder mehr Verständnis füreinander zu generieren.

Das sind ja bekannte Forderungen, haben Sie noch konkretere Vorschläge?

Der BWA war 2019 Mitinitiator der „China-Brücke“, die in Anlehnung an die „Atlantik-Brücke“ konzipiert und in unseren Räumen in Berlin gegründet worden ist. Bei der Gründung ging es uns im Wesentlichen darum, den eklatanten Mangel an China-Kompetenz in breiten Teilen der deutschen Gesellschaft zu adressieren und auch zu schauen, dass wir die Erfahrungen des deutschen Mittelstands in China für die „China-Debatte“ in Deutschland produktiv machen können, dass wir der Politik ein Angebot machen können, sich besser zu informieren. Und wenn ich ehrlich bin, denke ich, dass wir auch, was Russland oder Zentralasien angeht, einen Mangel an Kompetenz in Deutschland haben. Wer von den 736 Abgeordneten im neuen Bundestag kennt sich dort wirklich aus? Wer spricht heute noch Russisch, außer denen, die es in den östlichen Bundesländern mal gelernt haben? Die Bilder, die wir zu den Ländern dieses Wirtschaftsraums in unseren Köpfen tragen, speisen sich vor allem aus der Vergangenheit, entsprechen in großen Teilen nicht der Wirklichkeit vor Ort. Deswegen wäre es vielleicht auch an der Zeit, eine „Eurasien-Brücke“ in Deutschland zu gründen, die als Public Diplomacy-Forum dabei hilft, Kompetenz, Wissen und Erfahrung, die auf eigene Anschauung gründet, fruchtbar zu machen und in die Debatte miteinzubringen.

Wie den Petersburger Dialog?

Der Petersburger Dialog war sicher ein sehr konstruktives Forum für die deutsch-russischen Beziehungen, insbesondere zu den Zeiten als Lothar de Maizière, der übrigens auch unser Ehrenpräsident ist, dort noch dem deutschen Lenkungsausschuss vorstand. Leider ist er in den politischen Auseinandersetzungen nach 2014 zerrieben worden, zwischen die Fronten geraten, auch instrumentalisiert worden, und ich bin skeptisch, ob er sich neu beleben lässt. Deswegen denke ich, dass es wichtig ist, da neue Formate zu finden und vielleicht auch Formate, die sich außerhalb der Verwerfungen der Tagespolitik bewegen. Denn das, was wir uns bei der „China-Brücke“ vorgenommen haben, gilt für Russland ganz genauso. Wir müssen im Dialog bleiben und unser Wissen und unsere Kompetenz vergrößern, verbreitern und intensivieren. Egal wie man zu Russland stehen mag, wenn man nicht mehr miteinander spricht und wenn man bei diesen Gesprächen nicht genügend Sachverstand, Sachkenntnis und Wissen über die andere Seite hat, ist das immer schlecht. Und daran mangelt es bei uns, deshalb müssen wir Initiativen auf den Weg bringen, die das ändern.

Was würden Sie Unternehmern raten, die in Russland Geschäfte machen möchten?

Ich würde Ihnen zunächst empfehlen, sich ein eigenes Bild zu verschaffen, indem sie sich den russischen Markt genau anschauen, indem sie mit anderen Unternehmern sprechen, die in dem Markt erfolgreich etabliert sind, indem sie vielleicht eben auch über einen Verband, wie dem unsrigen, Erfahrung aufbauen. Ich glaube, dass die russische Wirtschaft sich in einem interessanten Transformationsprozess befindet, dass sie ein Wirtschaftsraum mit Zukunft ist, auch wenn man sich die eurasische Einflusszone anschaut, die Russland geschaffen hat. Und dass es für unsere Unternehmen wichtig ist – sofern es im Rahmen der regulatorischen Bedingungen möglich ist, Stichwort Sanktionen – dort vertreten zu sein. Wir sollten nicht vergessen, dass es in der Wirtschaft nicht nur um Gewinne geht, dass wirtschaftlicher Austausch auch eine brückenbildende Funktion hat. Beim BWA bringen wir Unternehmen miteinander in Kontakt und ins Gespräch, aber ja nicht als abstrakte Entitäten. Im Endeffekt führen wir immer Menschen zusammen und bauen Brücken zwischen diesen Menschen. Und in Zeiten, in denen man den Eindruck gewinnen kann, dass Politik immer weniger in der Lage oder willens ist, Brücken der Verständigung zu bauen, ist das wichtiger denn je.

Die Fragen stellte Fiete Lembeck

Titelbild
BWA