Der Krieg um Berg-Karabach

Berg-Karabach: Warum ‚Neutralität‘ Parteinahme ist

In der Berichterstattung der deutschen Leitmedien über den wieder aufgeflammten Krieg um Berg-Karabach dominiert eine Pseudo-Objektivität, die de facto auf eine Übernahme des aserbaidschanischen Narrativs hinausläuft. Die Fakten sind aber deutlich komplizierter.

von Leo Ensel

„Viele versuchen dem Radikalismus zu entgehen, indem sie ‚die Wahrheit in der Mitte suchen‘. Das klingt einigermaßen abgeklärt, ist aber nicht unbedingt aufgeklärt. Denn die Wahrheit folgt keinen geometrischen Vorgaben. Hier irrt sich der ‚Extremismus der Mitte‘.“ Sätze von Michael Schmidt-Salomon, die exakt auf die aktuelle Berichterstattung der deutschen Qualitätsmedien über den am 27. September wieder aufgetauten kriegerischen Konflikt zwischen Armenien und Aserbaidschan um die Region Berg-Karabach (armenisch: Arzach) gemünzt sein könnten!

Seit die Kämpfe vor drei Wochen wieder aufflammten, kommt besonders in den öffentlich-rechtlichen Medien fast kein Bericht über die aktuelle Lage ohne drei gratis mitgelieferte Kommentare aus:

  1. „Die Region Berg-Karabach wird mehrheitlich von armenisch-stämmigen Menschen bewohnt, gehört völkerrechtlich aber zu Aserbaidschan.“
  2. „Armenien und Aserbaidschan werfen sich gegenseitig vor …“
  3. „Das überwiegend muslimische Aserbaidschan wird von der Türkei unterstützt, das überwiegend christliche Armenien von Russland.“

Drei Sätze – und fast alles falsch! Bis auf die Tatsache, dass Aserbaidschan – massiv – von der Türkei unterstützt wird. Daher hier zunächst drei kurze Richtigstellungen, bevor die ausführlichen Begründungen folgen.

  1. Berg-Karabach wird nicht von „armenisch-stämmigen Menschen“ bewohnt, sondern von Armeniern. Die Region hat sich im Herbst 1991 in voller Übereinstimmung mit  dem damals geltenden sowjetischen Recht von der Sowjetrepublik Aserbaidschan getrennt und ist seit dem Zerfall der Sowjetunion ein unabhängiger – wenn auch bislang von niemandem anerkannter – Staat: die, wie sie sich seit 2017 offiziell nennt, Republik Arzach.
  2. Beim gegenwärtigen Krieg zwischen Armenien und Aserbaidschan handelt es sich nicht um einen Konflikt zwischen zwei gleich starken – gar gleich schuldigen – Gegnern. Vielmehr spricht alles dafür, dass die Kämpfe von Aserbaidschan initiiert wurden.
  3. Während die Türkei Aserbaidschan massiv militärisch, logistisch und vor allem durch das Einschleusen islamistischer Söldnertruppen aus Syrien (möglicherweise auch aus Libyen) unterstützt, hat Russland – durchaus zum Leidwesen der Armenier – bislang weder direkt noch indirekt in die Kampfhandlungen eingegriffen.

Nagorny Karabach und Armenien

Berg-Karabach ist eine im östlichen Südkaukasus zwischen der heutigen Republik Armenien im Westen, der Republik Aserbaidschan im Osten und dem Iran im Süden gelegene Bergregion ungefähr von der doppelten Größe des Saarlands, die seit Jahrhunderten überwiegend von Armeniern bewohnt und, wie nicht zuletzt die zahlreichen uralten Kirchen und Klöster augenfällig machen, kulturell geprägt ist. Gegenwärtig leben dort knapp 150.000 Armenier. Anfang des 19. Jahrhunderts, nach dem russisch-persischen Krieg, fiel das Gebiet unter die Herrschaft des russischen Zaren. Allerdings wurde Nagorny Karabach, wie es auf Russisch heißt, nicht dem seit 1828 unter russischer Herrschaft befindlichen Ostarmenien, dem „Gouvernement Eriwan“ – geographisch in weiten Teilen identisch mit der heutigen Republik Armenien – zugeschlagen. Bereits der Zar strebte danach, ethnisch eindeutige Mehrheitsgebiete zu verhindern und gliederte daher – „Teile und herrsche!“ – die Region Berg-Karabach dem mehrheitlich von Aseris bewohnten Gouvernement Jelisawetpol (heute: Gəncə) an, das nach der Oktoberrevolution Anfang der Zwanziger Jahre Teil der Sowjetrepublik Aserbaidschan wurde.

Die in Ostanatolien und anderen Teilen des osmanischen Reichs lebenden Westarmenier wurden im 19. Jahrhundert mehrfach Opfer schlimmster regierungsamtlich geförderter Pogrome und Massaker – allein zwischen 1894 und 1896 wurden unter der Herrschaft von Sultan Abdul Hamid II. bis zu 300.000 Armenier von der osmanischen Obrigkeit und mit ihr verbündeten kurdischen Hamidiye-Banden ermordet –, bevor 1915 das „Komitee für Einheit und Fortschritt“ (İttihat) der sogenannten Jungtürken im Schatten des I. Weltkriegs mit stillschweigender Billigung der Regierung des deutschen Reichs einen bis heute von der Türkei nicht anerkannten Genozid an der armenischen Bevölkerung verübte, dem bis zu anderthalb Millionen Armenier zum Opfer fielen – die Mehrheit von ihnen wurde auf Todesmärschen buchstäblich in die mesopotamische Wüste getrieben – und den sich später Hitler zum Vorbild für die Ermordung der europäischen Juden nahm.

Dieser erste europäische Genozid in der Geschichte des XX. Jahrhunderts und dessen Leugnung bis auf den heutigen Tag durch die Nachfahren der Täter sind seitdem das Trauma aller Armenier, wo auch immer sie auf der Welt leben, und es gibt keine armenische Familie, die nicht Opfer zu beklagen hätte.

‚Völkerrecht‘: Willkürlich gezogene Grenzen …

Den überlebenden Armeniern in den östlichen Siedlungsgebieten, denen im August 1920 im (niemals ratifizierten) Friedensvertrag von Sèvres ein Phantasiereich zugesprochen worden war, das sie nie in Besitz nehmen sollten, blieb nur noch die Wahl zwischen den verhassten Bolschewiki und den noch verhassteren Türken, und am 5. Juli 1921 beschloss das „Transkaukasische Komitee“ der jungen Sowjetunion unter Vorsitz des Volkskommissars für Nationalitätenfragen, Josif Stalin, den Anschluss Nagorny-Karabachs gegen den Willen der lokalen Bevölkerung, die zu diesem Zeitpunkt zu 94 Prozent aus Armeniern bestand, an die Sowjetrepublik Aserbaidschan – nachdem dasselbe Komitee noch einen Tag zuvor (in Abwesenheit des späteren Diktators) den Beschluss gefasst hatte, das Gebiet der armenischen Sowjetrepublik anzuschließen! Ganze 24 Stunden hatte die Region zu Armenien gehört. Aber wie für die Zaren ein Jahrhundert zuvor, war es auch Stalins Ziel, die kaukasischen Völker gegeneinander auszuspielen. Seitdem bildete Nagorny Karabach fast die gesamte folgende Sowjetepoche über einen Autonomen Oblast (NKAO) innerhalb der Aserbaidschanischen SSR.

Ende der Achtziger Jahre, zur Zeit von Gorbatschows Perestroika, gerieten die Dinge in Bewegung. Zwischen Februar 1988 und Januar 1990 kam es in den aserbaidschanischen Städten Sumgait, Kirowabad (heute: Gəncə) und in der Hauptstadt Baku zu blutigen antiarmenischen Pogromen, bei denen insgesamt mehrere hundert Armenier von gewalttätigen Mobs auf offener Straße und in ihren Häusern massakriert wurden. Im November 1988 war mit ersten Massenfluchten aus dem nördlichen Berg-Karabach ins benachbarte Armenien die Logik der ‚ethnischen Säuberungen‘ langsam in Gang gekommen. Sie nahm schnell an Fahrt auf: Nach den Pogromen in Baku flohen um die 300.000 Armenier aus Aserbaidschan ins benachbarte Armenien und andere Sowjetrepubliken und 200.000 in Armenien lebende Aseris nach Aserbaidschan. Es begannen Kampfhandlungen zwischen bewaffneten Einheiten Aserbaidschans auf der einen und Armeniern – aus der gleichnamigen Sowjetrepublik und Karabach – auf der anderen Seite. Die Moskauer Zentralgewalt, die Truppen schickte, konnte den Konflikt bestenfalls zeitweise eindämmen.

Als dann am 30. August 1991 die aserbaidschanische SSR sich für unabhängig und ihren Austritt aus der Sowjetunion erklärte, spaltete sich drei Tage später, am 2. September, der Autonome Oblast Nagorny Karabach von Aserbaidschan, das diese Region zudem jahrzehntelang ökonomisch stark vernachlässigt hatte, ab und erklärte sich zur unabhängigen Sowjetrepublik innerhalb der damals noch existierenden UdSSR. Karabach berief sich dabei auf das am 3. April des Vorjahres erlassene Unionsgesetz „Über das Verfahren der Entscheidung von Fragen, die mit dem Austritt einer Unionsrepublik verbunden sind“, das in einer Schutzklausel jedem Autonomen Gebiet das Recht einräumte, sich von einer neugegründeten ehemaligen Sowjetrepublik loszulösen. Bestätigt wurde dies am 10. Dezember 1991 durch die Bevölkerung Berg-Karabachs, die in einem Referendum, an dem 82,2 Prozent der Bewohner teilnehmen, mit 99,89 Prozent der abgegebenen Stimmen für die Sezession von Aserbaidschan stimmte.

Mit dem Zerfall der Sowjetunion Ende 1991 mutierte der innerstaatliche Konflikt zwischen Armeniern und Aseris zu einem zwischenstaatlichen Krieg, der Mitte 1994 mit einem De-facto-Sieg Armeniens, das seitdem Schutzmacht Karabachs ist und aus strategischen Gründen sieben Anrainerprovinzen als Pufferzone besetzt hält, vorerst endete. Genauer gesagt: Der Konflikt wurde eingefroren. Am 12. Mai 1994 unterzeichneten die kriegführenden Parteien in Moskau ein Waffenstillstandsabkommen. Der Krieg im Südkaukasus hatte Zehntausende Menschen das Leben gekostet, von beiden Seiten waren – auch das gehört zur Wahrheit – Massaker an der Zivilbevölkerung verübt worden und die bis dato in Karabach lebenden Aseris mussten ihre Heimat Richtung Aserbaidschan verlassen, wo die Mehrheit von ihnen seitdem in Flüchtlingscamps vegetiert.

Kurz: Stalins böse Saat war Jahrzehnte später tatsächlich aufgegangen!

… werden posthum legitimiert!

Und dies gilt bis auf den heutigen Tag, denn die zum Teil willkürlich gezogenen Grenzen der damaligen Sowjetrepubliken wurden nach dem Zerfall der UdSSR unter Ausblendung des Unionsgesetzes vom April 1990 ‚völkerrechtlich‘ legitimiert. Dass damit das geltende Völkerrecht, genauer: dessen voluntaristische Interpretation, zum posthumen Apologeten stalinistischen Unrechts mutierte – Analoges gilt ja auch für Chruschtschows Willkürakt der „Schenkung“ der Krim an die Ukrainische SSR – dies ist eine besonders schräge Kapriole der Geschichte, die niemals angemessen thematisiert, geschweige denn aufgearbeitet wurde. Aber das im Völkerrecht angelegte – und nie befriedigend zu lösende – Spannungsverhältnis zwischen staatlicher Souveränität und dem Selbstbestimmungsrecht der Völker wird bekanntlich spätestens seit dem Kosovokrieg und der Anerkennung der ehemals autonomen Provinz in Jugoslawien als Staat durch den Westen von den großen weltpolitischen Playern eh stets so ausgelegt, wie es ihnen geopolitisch gerade in den Kram passt!

Halten wir fest: Die Abspaltung Berg-Karabachs war nicht nur legitim, sie war legal, denn sie vollzog sich konform zum damals geltenden sowjetischen Staatsrecht. Wenn unsere Medien nahezu unisono gebetsmühlenartig und pseudo-objektiv wiederholen, Karabach gehöre „völkerrechtlich zu Aserbaidschan“, so bedienen sie damit den aserbaidschanischen Narrativ, sprich: sie nehmen – bewusst oder unbewusst – subkutan Partei für Aserbaidschan.

„Both-Sideism“: Die falsche Neutralität

Die pseudoneutrale Berichterstattung in den meisten deutschen Qualitäts- und auch einigen Alternativmedien bedient sich eines Tricks, den man neumodisch mit einem nicht besonders schönen, aber eingängigen Wort als „Both-Sideism“ bezeichnen könnte. Das heißt: Man verwendet Argumentationsmuster und Formulierungen, die suggerieren, hier würden zwei gleichrangige, vor allem: gleich schuldige Kontrahenten mit vergleichbar starken Waffensystemen einander attackieren. Der beliebteste Satz lautet entsprechend: „Armenien und Aserbaidschan werfen sich gegenseitig vor …“ Hier muss einiges geradegerückt werden.

Bereits die Bevölkerungszahlen sprechen für sich: In Aserbaidschan leben um die zehn Millionen Menschen, in Armenien knapp drei Millionen und in Karabach/Arzach, wie erwähnt, knapp 150.000. Aserbaidschan ist dank sprudelnder Erdölquellen und gewaltiger Gasfelder ein sehr reiches Land – was allerdings nicht bedeutet, dass der Reichtum auch der Bevölkerungsmehrheit zugute käme. Armenien und erst recht Arzach verfügen dagegen kaum über nennenswerte Bodenschätze. „Hayastan – Karastan“ („Armenien – Land der Steine“) lautet bezeichnenderweise ein bekanntes armenisches Sprichwort.

Beide von Armeniern bewohnten Länder sind arm – was sich natürlich nicht zuletzt auf den Rüstungshaushalt und damit auf die Ausstattung der Streitkräfte auswirkt. Bereits im Krieg Anfang der Neunziger Jahre waren die Armenier, was Truppenstärke wie Quantität und Qualität der Waffensysteme angeht, den hochgerüsteten Aserbaidschanern hoffnungslos unterlegen. (Den Armeniern gelang es dennoch, den Konflikt zu ihren Gunsten zu entscheiden.) In den letzten Jahren hat Aserbaidschan mithilfe feudaler Petrodollareinnahmen massiv aufgerüstet: Zwischen 2009 und 2018 betrugen die Ausgaben für das Militär umgerechnet 24 Milliarden US-Dollar, während Armenien im gleichen Zeitraum vier Milliarden US-Dollar für die Rüstung ausgab. Mittlerweile ist der aserbaidschanische Militäretat ungefähr so groß wie der gesamte Staatshaushalt Armeniens.

Auch die Gesellschaftssysteme sind völlig konträr: Aserbaidschan wird regiert von einer kleptokratischen Clique, dem Aliyev-Clan, der seit 1993 das Land despotisch beherrscht, Oppositionelle mundtot macht und mit Hilfe der üppigen Erdölerlöse auch die Stimmung in der Europäischen Union zu beeinflussen sucht. Einige korrupte deutsche Politiker/innen ließen sich bereits erfolgreich für die proaserbaidschanische Propaganda einspannen. Armenien dagegen erlebt seit der friedlichen, von der überwältigenden Mehrheit der Bevölkerung getragenen „samtenen Revolution“ vom Frühjahr 2018 einen demokratischen Aufschwung. Das Land ist dabei, sich von den alten korrupten Strukturen zu befreien. Mangels Bodenschätze beginnt es, in die Köpfe der Menschen zu investieren, in Digitalisierung und IT.

Bezogen auf Karabach haben die Armenier beider Länder nur ein Interesse: die Sicherung des Status Quo und – mittelfristig – die internationale Anerkennung als selbständiger Staat. Zu glauben (oder zu suggerieren), ausgerechnet das kleine Arzach habe das hochgerüstete Aserbaidschan zu dem neuen kriegerischen Konflikt provoziert, ist daher absurd!

Erdoğan eskaliert – Moskau mahnt

Kommen wir zum letzten Mantra unserer Leitmedien, der Behauptung, Aserbaidschan werde von der Türkei, Armenien dagegen von Russland unterstützt. Dieser Satz ist wahr und falsch zugleich.

Wahr ist er in Bezug auf die Türkei, die das turkstämmige Aserbaidschan als Brudervolk – „Eine Nation, zwei Staaten“ – und Brücke zur Realisierung weitausgreifender neo-osmanischer Träume betrachtet. Träume, denen das christliche Armenien schon geographisch im Wege steht. Die Türkei beliefert Aserbaidschan mit modernster Militärtechnologie, unter anderem mit Mehrfachraketenwerfern und Kampfdrohnen, in die auch deutsche Rüstungs-Hightech miteinfloss. Türkische F-16-Kampfflugzeuge operieren seit Beginn des Krieges von der 65 Kilometer östlich von Armenien entfernten Luftbasis Gəncə aus, auf die sie während aserbaidschanisch-türkischer Manöver im vergangenen August verlegt worden waren. Aber das mit Abstand Alarmierendste: Die Türkei finanziert djihadistische Söldnertruppen – die Rede ist von mehreren tausend Freischärlern – aus Syrien, möglicherweise jetzt auch Taliban aus den Bergen Afghanistans, die an der Grenze zu Karabach an vorderster Front kämpfen! Mit einem Wort: Ohne massive Rückendeckung durch den Großen Bruder am Bosporus hätte Aserbaidschan die Kampfhandlungen mit Sicherheit nicht begonnen.

Aserbaidschan wird allerdings nicht nur von der Türkei militärisch unterstützt, mit Waffen beliefert wird es auch von Israel und – Russland! So ist denn der Standardsatz, das christliche Armenien werde von Russland unterstützt, noch nicht mal zur Hälfte richtig. Russland hat zwar um die 4.000 Soldaten in Armenien stationiert, es beliefert Armenien ebenfalls mit Waffen und Russland ist die führende Militärmacht in der Organisation des Vertrags für kollektive Sicherheit (OVKS), der Armenien gleichfalls angehört. Moskau hat aber bereits verlauten lassen, für Angriffe auf Karabach würde der Bündnisfall nicht gelten, da das dieses Gebiet nicht Mitglied der OVKS sei. Ob Russland allerdings selbst im Falle schwerer Angriffe auf armenisches Kernland – zu Drohnenoperationen über armenischem Staatsgebiet ist es bereits gekommen – zu einem militärischen Eingreifen bereits wäre, darf mit Fug und Recht bezweifelt werden. Schließlich wäre Russland dann, zumindest indirekt, in Kampfhandlungen mit dem NATO-Land Türkei verstrickt. Die möglichen Folgen wären nicht auszudenken!

Dies mag aus russischer Sicht nachvollziehbar sein. Die Armenier allerdings fühlen sich von allen Seiten im Stich gelassen: Von Russland, das bislang lediglich auf einen Waffenstillstand drängte, der sich sofort als brüchig erwies, wie vom Westen, der keinen Finger ernsthaft krumm macht, den NATO-Partner mit den großtürkischen Ambitionen vom Zündeln mit dem Feuer abzuhalten. Die durch den Genozid schwerst traumatisierten Armenier haben bitter lernen müssen, dass sie sich, wenn es Spitz auf Knauf steht, nur auf einen einzigen Akteur wirklich verlassen können: Auf sich selber!

Und diesmal könnte es wirklich ernst werden. In Aserbaischan und erst recht in der hinter ihm stehenden Türkei scheint man nun „Nägel mit Köpfen“ machen zu wollen. Aliyev hat keinen Zweifel daran gelassen, dass er den Konflikt mit Armenien erst mit der Rückeroberung Karabachs für beendet ansieht. Nein, nicht nur das: Er ließ bereits durchblicken, dass er es auch auf Jerewan abgesehen hat.

Den Armeniern in der Republik Arzach droht im Falle einer Invasion Aserbaidschans im ‚günstigsten‘ Falle eine brutale Massenvertreibung inclusive einer Vernichtung der jahrhundertealten armenischen Kulturgüter wie bereits in Nachitschewan und Ostanatolien. Es ist aber durchaus im Bereich des Möglichen, dass aserbaidschanische Truppen im Verbund mit djihadistischen Söldnern und unterstützt vom großen neo-osmanischen Bruder dann beginnen werden, das Werk der Jungtürken von 1915 zu vollenden. Sie werden sich, fällt man ihnen nicht in den Arm, sehr wahrscheinlich auf Arzach nicht beschränken!

Vor genau 105 Jahren hat die Welt schon einmal tatenlos zugesehen.

Dieser Text erschien zuerst auf heise.de. Ostexperte.de bemüht sich um ein breites Meinungsspektrum. Debattenbeiträge und Kommentare müssen nicht die Sichtweise der Redaktion widerspiegeln.

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