Offener Brief am 26. Mai 2017

Liebe Christen in der Welt,

auf dem Evangelischen Kirchentag in Berlin ist viel vom Diesseits die Rede, von Befreiung und Freiheit, von Rechten und Ansprüchen – umso weniger vom Jenseits, von den letzten Dingen, von der Demut im Anblick des Herrn. Der moderne westeuropäische Christ hat seinen Glauben bewältigt. “Luther, du mieses Stück Scheiße! Antisemitismus, Despotismus, Sexismus – kein Grund zum Feiern” war am Donnerstag auf einem Transparent zu lesen. Der moderne westeuropäische Christ weiß: Die Gottesrolle füllt er selbst am allerbesten aus. Sie ist ihm auf den Leib geschrieben.

Zur gleichen Stunde wartet eine endlose Schlange gläubiger Menschen vor dem Eingang zur Moskauer Christ-Erlöser-Kathedrale. Rund um die Uhr, bis zu anderthalb Kilometer lang und das schon mehrere Tage. Ewige Stunden und geduldig warten die Menschen darauf, den goldenen Schrein mit den Gebeinen des heiligen Nikolaus, des oströmischen Bischofs von Myra, dem heutigen Demre südwestlich von Antalya, zu berühren und zu küssen. Er ist der echte Nikolaus, der Inbegriff des Freigebigen zur Winterszeit. Nie zuvor waren seine Überreste in Russland gewesen. Täglich kommen 20.000 Menschen und mehr, ihm zu huldigen.

In Westen fühlt man sich angesichts eines derartigen Hokuspokus’ endlos überlegen. Gott sei Dank sind wir aufgeklärt. Religion als Opium des Volks, den Satz von Karl Marx zitieren sogar Protestanten, die noch keine Atheisten sind.  Derweil warten Russen, die sich ihres 21. Jahrhunderts nicht minder gewiss sind, draußen vor der Christ-Erlöser-Kathedrale. “In hoc signo vinces”, unter diesem Zeichen wirst du siegen, hat Christus im Jahr 312 dem römischen Kaiser Konstantin vor der Schlacht bei der Milvischen Brücke im Traum zugerufen – so die Legende.

Liebe Christen in aller Welt, natürlich könnt ihr den Weg des deutschen Protestantismus gehen (manche sagen, die deutsche katholische Bischofskonferenz habe ihn längst eingeschlagen). Ihr könnt aber auch instinktiv Abstand nehmen, wie es (nicht nur) die Russisch-Orthodoxen tun. Oder einen Mittelweg suchen.

The choice is yours.

Euer
Thomas Fasbender