Aserbaidschan: 105 Jahre staatliche Unabhängigkeit

Am 28. Mai feiert Aserbaidschan 105 Jahre staatliche Unabhängigkeit. Ein Blick auf die historischen Entwicklungen und die aktuelle Politik der Kaukasus-Republik.

Von Urs Unkauf

Am 28. Mai 2023 blickt die Republik Aserbaidschan auf 105 Jahre staatliche Unabhängigkeit zurück. Der Souveränität der südkaukasischen Nation kommt historisch wie in der gegenwärtigen Politik eine besondere Bedeutung zu, wenn man sich die geostrategische Lage des Landes vergegenwärtigt. Der Nationalfeiertag am 28. Mai geht zurück auf das Gründungsdatum der Aserbaidschanischen Demokratischen Republik (ADR) – 1918-1920 –, dem ersten Staat mit republikanischer Ordnung in der muslimischen Welt. Wenngleich die ADR nur zwei Jahre Bestand haben sollte, bevor die Tradition der Eigenstaatlichkeit durch die Sowjetherrschaft bis zur Wiedererlangung der Unabhängigkeit am 18. Oktober 1991 restauriert wurde, üben die politischen, kulturellen und sozialen Prägungen der ersten aserbaidschanischen Republik bis heute eine bleibende Wirkung auf Staat und Gesellschaft aus.

Unter der Führung von Präsident Ilham Aliyev als Oberbefehlshaber der aserbaidschanischen Streitkräfte gelang es infolge des 44-Tage-Kriegs von 2020, die territoriale Integrität Aserbaidschans wiederherzustellen und die Regionen Karabach, Lachin, Kelbajar, Agdam, Fuzuli, Gubadly, Jabrayil und Zangilan von der aus staatlicher Sicht fast 30 Jahre währenden, völkerrechtswidrigen Okkupation Armeniens zu befreien. Ilham Aliyev hat damit zugleich die Vision des Nationalen Leaders des aserbaidschanischen Volkes, Heydar Aliyev, erfüllt, der in diesem Jahr 100 Jahre alt geworden wäre. Die Kontinuitätslinie der Konsolidierung einer erfolgreich auf Souveränität, internationale Partnerschaften und innere Stabilität orientierten Politik ist hierbei ungebrochen und eine der Besonderheiten Aserbaidschans im gesamten postsowjetischen Raum.

Transformationsprozesse

Aserbaidschan befindet sich aktuell in verschiedenen Transformations- und Diversifizierungsprozessen, die sich wechselseitig überlagern. Wirtschaftliche Prosperität und politische Stabilität stehen ebenso auf der Agenda in Baku, wie die Konsolidierung des sozialen Zusammenhalts in der multikulturellen Gesellschaft nach der Überwindung der Covid19-Pandemie. Während in wirtschaftlicher Hinsicht der Fokus derzeit auf dem nachhaltigen Wiederaufbau der befreiten Gebiete sowie auf der Diversifizierung der Wirtschaftsstruktur und dem Kapazitätsaufbau jenseits des traditionell dominierenden Öl- und Gassektors liegt, festigt sich zugleich die Position Aserbaidschans als bedeutendem Energielieferanten für Europa infolge des russischen Angriffs auf die Ukraine und der daraus resultierenden geostrategischen Neuorientierungen des Westens. Die gegenwärtig stark belasteten Beziehungen mit der Islamischen Republik Iran infolge eines Terroranschlags auf die mittlerweile geschlossene aserbaidschanische Botschaft in Teheran bestätigen den Kurs der politischen Führung in Baku, Abhängigkeiten zu vermeiden und sowohl zwischen den unmittelbar in der Kaspischen Region agierenden Groß- und Regionalmächten, wie auch auf neue globale Partnerschaften orientiert zu agieren.

Der jüngste Arbeitsbesuch von Präsident Ilham Aliyev in Berlin unterstich die Bedeutung der Achse Baku-Berlin für die Beziehungen sowohl auf bilateraler Ebene als auch mit Blick auf die Europäische Union, die sich – mit Ausnahme der Positionierung Frankreichs – insgesamt um eine konstruktive Rolle bei den Friedensverhandlungen zwischen Baku und Jerewan bemüht. Hierbei hat Aserbaidschan das Friedensangebot gegenüber Armenien in Verbindung mit einer gemeinsamen regionalen Strategie zur langfristigen Sicherung der Stabilität im Südkaukasus mehrfach bekräftigt. Infolge der Unterzeichnung eines Friedensabkommens mit Aserbaidschan würde zudem Armeniens Verhältnis zur Republik Türkiye auf eine neue Grundlage gestellt werden, wodurch sich dem wirtschaftlich verarmten und regional isolierten Land völlig neue Chancen eröffnen würden, seiner Bevölkerung eine attraktive Zukunftsperspektive zu ermöglichen.

Aserbaidschans Rolle in Eurasien – oder präziser: der Seidenstraßen-Region (eng. Silk Road Region)[1] – basiert auf einer Strategie der Politik des nationalen Interesses, die zugleich auf regionale Stabilität orientiert ist. Eine unilaterale Dominanz einer Großmacht soll hierbei ebenso verhindert werden wie das Aufflammen neuer Konflikte zwischen Regionalmächten. Aus diesem Grund bemüht sich Baku um ein ausgewogenes Verhältnis zu Washington, Moskau, Peking und Brüssel, wobei sich die Perspektiven stets an den Prinzipien der Außenpolitik einer konstruktiven Dialogbereitschaft orientieren.

Somit bleibt für das Heydar Aliyev-Jahr 2023 zu erwarten, dass Aserbaidschan seinen aktuellen Kurs weiterhin zielstrebig fortführen wird und zugleich seine Bemühungen um regionale Stabilität und die Aussöhnung mit dem Nachbarland Armenien intensivieren wird. Dem Ausbau der deutsch-aserbaidschanischen Partnerschaft in allen relevanten Bereichen wird in beiderlei Hinsicht eine besondere Bedeutung hierfür zukommen.

[1] Vgl. Damjan Krnjević Mišković: An Armenia-Azerbaijan Diplomatic Breakthrough? | The National Interest.

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