Was jetzt zu tun ist
Wer sich jahrelang für ein gutes Verhältnis zwischen Russen und Deutschen einsetzte, erlebt jetzt nicht nur harte Zeiten, weil ihm der Wind scharf ins Gesicht bläst. Es braucht auch Konzepte. Für das Überleben der zwischenmenschlichen Kontakte und für eine friedlichere Nachkriegszeit.
von Leo Ensel
Es sind keine einfachen Zeiten für hierzulande mit leicht spöttisch-, neuerdings auch mitleidigem oder gar boshaftem Grinsen als ‚Russlandversteher‘ bezeichnete Menschen, die sich jahrzehntelang für ein gutes Verhältnis zwischen Russen und Deutschen eingesetzt hatten.
Seit Beginn des Angriffskrieges ‚ihres Landes‘ auf die Ukraine wirkt die Szene wie paralysiert. Der langjährige Vorsitzende des Deutsch-Russischen Forums (DRF), Matthias Platzeck, erklärte nach Kriegsbeginn umgehend seinen Rücktritt; das desorientierte DRF befindet sich nun in einer schwierigen Phase der Um- und Neuorientierung, die mindestens einige Monate in Anspruch nehmen wird. Die wenigen Menschen, die in der Vergangenheit noch dafür warben, die russische Sicht der Dinge zumindest mal zur Kenntnis zu nehmen, sind entweder ‚freiwillig‘ auf Tauchstation oder längst aus dem Leitmediendiskurs verbannt. Und wer es auch jetzt noch wagt, zu erklären, dass dieser schreckliche Krieg eine lange Vorgeschichte hat, an der auch der Westen nicht schuldlos ist, riskiert es, zum Paria abgestempelt zu werden.
Es ist die Zeit der abgesagten Lesungen, der Geständnisse, der verordneten öffentlichen Selbstkritik. Der sich selbst höchste Repräsentanten von Staat und Gesellschaft unterziehen müssen. Leute wie der forsche (und medial omnipräsente) ukrainische Botschafter schaffen es – mit starkem Rückenwind aus Presse, Rundfunk und Fernsehen – spielend, sogar den Bundespräsidenten vor sich her zu treiben!
Der ‚Russlandversteher‘ – Zur Genese einer Abwertungsvokabel
Aber wer oder was ist eigentlich ein ‚Russlandversteher‘?
Zunächst einmal, auch wenn es penetrant oberlehrerhaft klingen mag: Das korrekte – und schöne – Substantiv für das Verb „verstehen“ lautet bekanntlich immer noch: „Verständnis“! Und nicht anders.
Das Wort „Versteher“, soviel ‚Germanistik für Dummies‘ muss sein, gibt es erst seit circa 25 Jahren und war von Anfang an abwertend konstruiert. Es begann mit dem berühmten „Frauenversteher“, womit jener bemitleidenswerte „Jammerlappen“ gemeint war, der Nähe zu Frauen (in welcher Form auch immer) nur herstellen kann, indem er sich – gefragt oder ungefragt – in die Damen noch besser einfühlt, als diese das selber vermögen. Kurz: ein Mann mit dem Sexappeal eines „Warmduschers“ – auch so eine Abqualifizierungsvokabel aus jenen Tagen. Einmal in die Welt gesetzt, war es dann, namentlich in Krisenzeiten, zum „Russland-“ oder gar „Putinversteher“ nicht mehr weit. Ein Wort, ohne das heute niemand mehr auskommt, wenn es darum geht, Menschen, die sich um ein besseres Verhältnis zu Russland bemühen, prompt der Lächerlichkeit preiszugeben. Ohne Auseinandersetzung mit deren Argumenten, versteht sich.
Und eine Vokabel, die umgekehrt die so apostrophierten Personen dazu zwingt, zum gefühlt hundertundfünfzigsten Mal klarzustellen, dass ‚Verstehen‘ nicht ‚Rechtfertigen‘ bedeutet, sondern schlicht den Versuch, sich einmal in die Schuhe des Anderen zu stellen und die Welt probeweise aus dessen Perspektive wahrzunehmen – eine für jegliches menschliches Zusammenleben unabdingbare ‚conditio sine qua non‘!
Erste Hilfe: Retten, was zu retten ist!
Wie auch immer: Wem es auch jetzt noch eine Herzensangelegenheit ist, dass zumindest die jahrzehntelang mühsam aufgebauten zwischenmenschlichen Kontakte überleben, der kann sich Resignation, gar Selbstmitleid nicht leisten. In diesen Zeiten eines im Worst Case nicht mehr eingrenzbaren Krieges mitten in Europa, in dieser Zeit, in der Putins Herrschaftssystem von der Autokratie endgültig in die Diktatur kippt, in der immer mehr aufrechte Menschen das Land verlassen und in der hüben wie drüben die Medien zum Halali blasen, können wir zunächst nichts Anderes tun, als überall, wo das überhaupt noch möglich ist, zur Schadensbegrenzung beizutragen: in den – noch nicht gecancelten oder auf Eis gelegten – Städtepartnerschaften, in den wenigen noch verbliebenen Wirtschaftskontakten, im Jugendaustausch, im Sport, in den Kulturprojekten, im interkonfessionellen Dialog und nicht zuletzt in den allerprivatesten Beziehungen.
Und zwar im vollen Bewusstsein, dass auch die verbliebenen Kontakte jederzeit vom Krieg vergiftet zu werden drohen. Schon zu gemütlichen Friedenszeiten gibt es kaum ein Thema, über das man sich so sehr entzweien kann, wie die Politik! Aber wie patriotisch oder ideologisch auch immer die Situation jetzt aufgeladen sein mag – jede Möglichkeit des Kontaktes zwischen beiden Seiten muss genutzt werden. Alle Formen der Kooperation müssen weitergehen, selbst dann – und das erfordert eine willentliche Entscheidung –, wenn dies mit einer zeitweisen Ausblendung strittiger Themen erkauft sein sollte. „Business as usual“ kann in einer akut zugespitzten Krisensituation eine erste deeskalierende Maßnahme sein.
Wir werden lange überwintern müssen. Unter erheblich schwierigen Bedingungen. Zumal auch Kommunikationskanäle wie Reisemöglichkeiten immer mehr eingeschränkt werden. Aber es gibt dazu keine Alternative. Es sei denn, der kommende zweite Kalte Krieg soll sich auch noch in den Köpfen und Seelen der Menschen dies- und jenseits des neuen Eisernen Vorhanges festsetzen, gar verewigen.
Die Konzeptionslosigkeit des Westens
Irgendwann wird auch dieser Krieg zu Ende sein. Die Frage ist: Wann, zu welchem Preis, mit wieviel weiteren Toten, Verwundeten, Flüchtlingsströmen und Zerstörungen jeglicher Art? Und wie die geopolitische Landschaft in Europa und der ganzen Welt dann aussehen wird. Wozu nicht zuletzt auch die globalen ökonomischen Folgen, einschließlich rasant steigender Energiepreise und zunehmend knapper werdender Nahrungsmittel sowie die daraus resultierenden sozialen Verwerfungen gehören werden.
Wer hier nicht alles dem Lauf der akuten Eskalation überlassen will, täte gut daran, schon jetzt realpolitische Konzepte für eine Nachkriegszeit zu entwerfen.
Im Moment aber fahren alle politischen Akteure auf Sicht. Außer einer wahren Sanktions- und Aufrüstungsorgie scheint der Westen über kein strategisches Konzept zu verfügen, was in der Ukraine denn eigentlich anzuvisieren sei: Geht es um einen möglichst schnellen Stopp der Kampfhandlungen, des Blutvergießens? Um einen Waffenstillstand und anschließende Friedensverhandlungen im Sinne der Forderung des Ex-Vorsitzenden des NATO-Militärausschusses, General Harald Kujat: „Der Krieg darf niemals die Politik ersetzen! Wir benötigen ein Verhandlungsergebnis, das für Stabilität und Frieden sorgt“? (Er verband dies mit der bitteren Diagnose: „Aber die Politik sitzt da und tut nichts!“)
Oder geht es darum, Russland zu ‚bestrafen‘? Soll der Krieg noch wochen-, monate-, gar jahrelang weitergehen? Soll den russischen Aggressoren ein ‚zweites Afghanistan‘ – sowjetischer oder gar westlicher Couleur – beschert werden? Geht es um die Vertreibung der russischen Truppen aus der Ukraine? Wenn ja: inklusive der Rebellenrepubliken im Donbass? Am Besten auch noch aus der Krim? Geht es am Ende um den Sieg über Russland? Oder wie EU-Außenminister Josep Borrell am 9. April auf Twitter tönte: „This war will be won on the battlefield“?
An markig dröhnenden Parolen herrscht jedenfalls kein Mangel. An moralisierenden Imperativen, dieses oder jenes umgehend zu tun bzw. zu lassen, ebenfalls nicht.
Die große Vision: Helsinki 2.0
Dennoch: Es wird ein Leben nach dem Krieg geben – wann auch immer das sein mag! Fragt sich nur, wie es für alle direkt und mittelbar involvierten Akteure aussehen wird.
Vielleicht wäre es hilfreich, sich einmal an die Zeit nach dem Einmarsch der Sowjetunion und den mit ihr verbündeten Warschauer Pakt-Staaten in die Tschechoslowakei zu erinnern, die Zeit, nachdem im August 1968 Panzerketten den Prager Frühling niedergewalzt hatten. Damals gab es im Westen Männer, die den Mut hatten, antizyklisch zu denken und zu handeln. Willy Brandt und Egon Bahr starteten wenig später ihre Entspannungspolitik, die in den Siebziger Jahren ein bedeutendes Resultat zeitigte: Die Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) mit der Unterzeichnung der Schlussakte von Helsinki im Sommer 1975. Dort einigten sich alle europäischen Staaten blockübergreifend auf verbindliche ‚Spielregeln‘ wie Gewaltverzicht, Unverletzlichkeit der Grenzen, die territoriale Integrität der Staaten, Nichteinmischung in innere Angelegenheiten und Achtung der Menschenrechte.
Ein solches „Helsinki 2.0“, sprich: eine komplette Neujustierung der gesamten europäischen Sicherheitsstruktur unter dem Primat der Gemeinsamen Sicherheit, ist auch heute wieder dringend geboten! Der Punkt Null, an dem sich nun alle befinden – wir denken jetzt sehr optimistisch, aber dazu sind wir angesichts einer mangelnden vernünftigen Alternative verpflichtet –, könnte im optimalen Fall auch der Startpunkt für den ‚Turn around‘ werden, wenn sich überall wieder die Einsicht durchsetzen sollte, dass Sicherheit in der Tat nur gemeinsam möglich ist. Anderenfalls werden alle verlieren – außer der Rüstungsindustrie und vielleicht den USA.
Die Idee einer neuen hochrangigen Konferenz, die „ohne Vorbedingungen und in unterschiedlichen Formaten und auf verschiedenen Ebenen über das Ziel einer Revitalisierung der europäischen Sicherheitsarchitektur berät“, stammt übrigens noch aus der Vorkriegszeit und wurde unter anderem Anfang Dezember letzten Jahres von einer Gruppe prominenter ehemaliger Generäle und Botschafter in die Öffentlichkeit lanciert. Die Vorschläge sind durch Russlands Angriffskrieg auf die Ukraine nicht etwa überholt, sondern noch dringlicher geworden. Sie sollten umgehend ausgearbeitet werden.
‚Russlandversteher‘ hätten hier über die notwendigen Erste Hilfe-Maßnahmen hinaus einen verlässlichen Kompass, wohin die Reise gehen muss, wenn ein Kalter Krieg 2.0, eine erneute tiefe Spaltung des Kontinents und ein extrem gefährliches – auch atomares – Wettrüsten doch noch verhindert werden soll. Sie sollten für diese Perspektive nach allen Seiten hin intensiv werben.
Denn: Resignation können wir uns nicht leisten. Und Arbeit gibt es mehr als genug!
Dieser Beitrag erschien zuerst bei globalbridge.ch. Ostexperte.de bemüht sich um ein breites Meinungsspektrum. Debattenbeiträge und Kommentare müssen nicht die Sichtweise der Redaktion widerspiegeln.