IWF und Weltbank erwarten in Russland deutlich weniger Wachstum als die Regierung

Die russische Regierung geht in ihrer Haushaltsplanung davon aus, dass Russlands Wirtschaft in diesem Jahr um 2,8 Prozent wächst. Präsident Putin meinte beim Treffen des Waldai-Klubs  am 05. Oktober in Sotschi sogar, dass auch ein Anstieg von 3 Prozent erreicht werden könnte. Das berichtet TASS.

Mit einer so starken Erholung der russischen Wirtschaft rechnen der Internationale Währungsfonds (IWF), die Weltbank und die „Konferenz der Vereinten Nationen für Handel und Entwicklung“ (UNCTAD) nicht. Auch sie haben ihre Prognosen für das diesjährige Wachstum der russischen Wirtschaft aber stark angehoben.

Die Weltbank, die Anfang Juni noch einen leichten Rückgang der gesamtwirtschaftlichen Produktion prognostizierte (- 0,2 Prozent), erwartet jetzt in ihrem „Europe and Central Asia Economic Update“ in Russland ein Wachstum von 1,6 Prozent.

Die UNCTAD rechnet in ihrem „Trade and Development Report 2023“ in diesem Jahr sogar mit einem Anstieg des russischen Bruttoinlandsprodukts um 2,2 Prozent.

Auch der IWF prognostiziert in seinem „World Economic Outlook“ jetzt für 2023 für Russland ein Wirtschaftswachstum von 2,2 Prozent. Im nächsten Jahr erwartet er aber eine Halbierung des Wachstums auf 1,1 Prozent. Die russische Regierung rechnet mit einem gut doppelt so starken Wachstum (+ 2,3 Prozent). 

Auch Interfax-Umfrage lässt 2024 eine Halbierung des Wachstums erwarten

Eine Anfang Oktober veröffentlichte Interfax-Umfrage zeigt, dass die acht Teilnehmer der Wachstumsprognose der Regierung für 2023 zwar weitgehend folgen. Sie erwarten im Durchschnitt für dieses Jahr jetzt ein Wachstum von 2,7 Prozent (Regierungsprognose: + 2,8 Prozent).

2024 rechnen die von Interfax befragten Analysten jedoch mit einer Halbierung des Wachstumstempos auf 1,3 Prozent. Die jüngste Umfrage des Moskauer Reuters-Büros fiel ähnlich aus. Sie ergab, dass im nächsten Jahr nur noch ein BIP-Anstieg von 1 Prozent zu erwarten ist. Die Regierung geht hingegen für 2024 nur von einer leichten Abschwächung des Wachstums auf 2,3 Prozent aus.

Eine Ende September durchgeführte Umfrage des in Barcelona ansässigen Research-Unternehmens FocusEconomics bei vorwiegend westlichen Banken und Instituten zeigt, dass auch außerhalb Russlands für das nächste Jahr in Russland nur noch ein Wachstum von rund 1 Prozent erwartet wird. Zu dieser Prognose waren Ende September auch die führenden deutschen Konjunkturforschungsinstitute in ihrer „Gemeinschaftsdiagnose“ gekommen.

 

BIP-Prognosen 2023 und 2024

Veränderung des realen Bruttoinlandsprodukts gegenüber dem Vorjahr in Prozent

Weltbank: Die Wachstumsaussichten Russlands dürften sich verschlechtern

Die Weltbank aktualisierte ihre Konjunkturprognosen für die Weltwirtschaft im Vorfeld der gemeinsamen Jahrestagung mit dem Internationalen Währungsfonds in Marrakesch. Zur aktuellen Lage der russischen Wirtschaft und den Herausforderungen für die russische Regierung meint die Weltbank unter anderem:

Russlands Wirtschaft ist 2023 wieder auf Wachstumskurs. Die Erholung wird durch fiskalische Anreize, einschließlich steigender Militärausgaben, sowie ein Wachstum der Kredite unterstützt.

Das Umfeld für die russischen Unternehmen und die privaten Haushalte ist allerdings weiterhin sehr unsicher. Ihr Zugang zu internationalen Märkten ist eingeschränkt.

Der Rückgang des Leistungsbilanzüberschusses führte zu einer Abwertung des Rubels.

Der Leistungsbilanzüberschuss belief sich im ersten Halbjahr 2023 nur noch auf 29 Milliarden US-Dollar, da die Exporte um 26 Prozent sanken und die Importe um 17 Prozent stiegen. Der Rubel wertete von Ende Dezember 2022 bis Ende August 2023 um 36 Prozent ab.

Die steigenden Importpreise verstärkten den Inflationsdruck. Der Anstieg der Verbraucherpreise beschleunigte sich von 2,3 Prozent im April auf 4,3 Prozent im Juli.
Als Reaktion darauf erhöhte die Zentralbank den Leitzins in drei Schritten. Im Juli, Anfang August und im September wurde er um insgesamt 550 Basispunkte auf 13 Prozent angehoben.Die Haushaltslage hat sich verschlechtert, weil die Energieeinnahmen durch die Sanktionen gesunken sind. Risiken im Bankensektor könnten den Haushalt zusätzlich belasten.

Der russische Arbeitsmarkt ist aufgrund der Abwanderung ins Ausland und der Einberufungen zum Militär angespannt. Die Arbeitslosenquote sank im Juli 2023 auf einen beispiellosen Tiefstand von 3 Prozent.

Die mittel- bis langfristigen Wachstumsaussichten der russischen Wirtschaft dürften durch die Abnahme der Zahl der verfügbaren Fachkräfte, die Beschränkungen für die Einfuhr von Technologiegütern und den Verlust produktiver ausländischer Direktinvestitionen
beeinträchtigt werden.

Im ersten Halbjahr 2023 wuchsen der Verbrauch und die Investitionen 

Zum Wachstum der russischen Wirtschaft um 1,6 Prozent im ersten Halbjahr 2023 stellt die Weltbank fest, dass sowohl der Verbrauch als auch die Investitionen stiegen:

Auf der Nachfrageseite wurde das Wachstum weitgehend von der Verbrauchernachfrage getragen, die durch höhere Staatsausgaben, einschließlich einer realen Rentenerhöhung um 7,1 Prozent, und eine Ausweitung der Verbraucherkredite angekurbelt wurde. Die Militärausgaben blieben gleichzeitig hoch. Der reale Einzelhandelsumsatz stieg im ersten Halbjahr im Jahresvergleich um 1,1 Prozent. Dabei beschleunigte sich sein Wachstum im zweiten Quartal auf rund 9 Prozent. Die Reallöhne waren im ersten Halbjahr rund 6 Prozent höher. Die Investitionen stiegen im ersten Halbjahr um 7,6 Prozent.

Die Produktion und die Preise von Erdöl und Erdgas sanken im ersten Halbjahr

 

Auf der Produktionsseite trugen zum Wachstum der Wirtschaft, so die Weltbank, sowohl der Dienstleistungssektor als auch das „Verarbeitende Gewerbe“ bei. Zu den Folgen der gegen Ende 2022 verhängten Sanktionen für Russlands Öl- und Gasproduktion berichtet die Weltbank:

Russlands Ölproduktion erwies sich als „relativ widerstandsfähig“. Sie sank im ersten Halbjahr im Jahresvergleich nur um 0,9 Prozent. Im zweiten Halbjahr ist jedoch mit deutlicheren Produktionskürzungen zu rechnen. Darüber hinaus sank der Urals-Ölpreis im ersten Halbjahr 2023 auf durchschnittlich 52,3 USD/Barrel, verglichen mit 83,9 USD/Barrel im Jahr 2022. Das führte zu einem Rückgang der Einnahmen und Exporterlöse des Ölsektors.

Die Erdgasproduktion ging im ersten Halbjahr 2023 im Jahresvergleich um 12,3 Prozent zurück. Hauptursache war der Rückgang der russischen Pipeline-Gaslieferungen in die Europäische Union. Außerdem waren die Erdgaspreise im ersten Halbjahr 2023 im Jahresvergleich um durchschnittlich 55 Prozent niedriger.

Die expansive Haushaltspolitik war ein wichtiger Wachstumsfaktor

 

Zur Entwicklung der öffentlichen Haushalte im ersten Halbjahr meint die Weltbank:

Das Wachstum der Staatsausgaben um 18.5 Prozent war im ersten Halbjahr ein wichtiger Faktor für das Wirtschaftswachstum. Die Sozialleistungen und staatlichen Kreditzuschüsse wurden erhöht. Der Staatsverbrauch stieg und die staatlichen Investitionen – einige davon in direktem Zusammenhang mit dem Krieg.

Allerdings gingen die staatlichen Einnahmen aus dem Öl- und Gasbereich im ersten Halbjahr um 47 Prozent zurück.

Dies führte zu einem rasch wachsenden gesamtstaatlichen Defizit. Es erreichte im ersten Halbjahr 3,3 Prozent des BIP, verglichen mit einem Überschuss von 4,6 Prozent des BIP im ersten Halbjahr 2022.

Hauptquellen für die Finanzierung des Defizits waren die Ausgabe von Staatsanleihen (1,4 Billionen Rubel oder 16,1 Milliarden US-Dollar) und die Inanspruchnahme des Nationalen Wohlfahrtsfonds (0,5 Billionen Rubel oder 5,3 Milliarden US-Dollar Ende Juni).

Ausblick der Weltbank auf die Entwicklung der russischen Wirtschaft bis 2025

 

Die Weltbank betont, dass die Erstellung von Prognosen für die russische Wirtschaft derzeit erschwert ist. Ein Grund dafür seien die starken Veränderungen der russischen Wirtschaft, die mit der Invasion in die Ukraine verbunden seien. Ein weiterer Grund sei Russlands Entscheidung, die Veröffentlichung von volkswirtschaftlichen Daten einzuschränken. Der folgende Ausblick der Weltbank geht davon aus, dass Russlands Krieg gegen die Ukraine anhält und die derzeitigen Sanktionen beibehalten werden. Nachstehend eine Zusammenfassung der Weltbank-Prognosen zur Wachstumsentwicklung bis 2025:

Im zweiten Halbjahr 2023 wird sich das Wachstum der russischen Wirtschaft voraussichtlich verlangsamen, da die Geld- und Fiskalpolitik straffer wird.

Im Gesamtjahr 2023 dürfte der private Konsum dennoch kräftig um rund 6 Prozent steigen. Die Bruttoanlageinvestitionen steigen um rund 4 Prozent. Das Bruttoinlandsprodukt wächst angesichts der Erholung der Inlandsnachfrage in diesem Jahr voraussichtlich um 1,6 Prozent (siehe folgende Tabelle).

2024 wird ein „moderates Wachstum“ von 1,3 Prozent erwartet. Dabei schwächen sich der Anstieg des privaten und öffentlichen Verbrauchs drastisch ab.

2025 dürfte das BIP entsprechend dem geringeren Wachstumspotenzial nur noch um 0,9 Prozent steigen.

Veränderungen des realen Bruttoinlandsprodukts

Veränderungen gegenüber Vorjahr in Prozent

Quelle: World Bank: „Europe and Central Asia Economic Update“,  05.10.23

 

Zur Entwicklung der Wachstumsbeiträge der Verwendungsbereiche des Bruttoinlandsprodukts hat die Weltbank auf Seite 75 auch eine Abbildung veröffentlicht.

 

Weitere Prognosen der Weltbank zur Konjunktur in Russland im Jahr 2023

 

Der Anstieg der Verbraucherpreise wird im Jahresdurchschnitt 2023 voraussichtlich auf 5,6 Prozent sinken (2022: +13,7 Prozent). Die Abwertung des Rubels trägt allerdings im Jahresverlauf zu einer steigenden Inflationsrate gegenüber dem Vorjahresmonat bei.

Russlands Ölproduktion wird 2023 voraussichtlich um rund 2 Prozent abnehmen. Der Rückgang der Exporte von Rohöl und Ölprodukten ist „moderat“.

Der Leistungsbilanzüberschuss wird 2023 bei geringeren Exportmengen und niedrigeren Preisen für von Russland exportierte Waren sowie wachsenden Ausgaben für Importe um fast 80 Prozent auf rund 50 Milliarden US-Dollar sinken (2,6 Prozent des BIP).

Die gesamtstaatliche Defizitquote wird sich bei geringeren Einnahmen aus dem Ölbereich und höheren Ausgaben 2023 mehr als verdoppeln und auf 3,3 Prozent des BIP steigen (2022: – 1,4 Prozent des BIP).

 

UNCTAD: Trotz Problemen wächst die Wirtschaft auch 2024 um rund 2 Prozent

 

Die in Genf ansässige „Konferenz der Vereinten Nationen für Handel und Entwicklung“ (UNCTAD) nimmt in ihrem „Trade and Development Report 2023“ nur kurz zur Entwicklung der russischen Wirtschaft Stellung. Sie verweist darauf, dass die Erlöse Russlands aus dem Export von Öl und Erdgas im ersten Halbjahr 2023 um 47 Prozent gesunken seien. Ursache dafür sei vor allem ein Rückgang der Preise gewesen, ein Trend auf den Russland mit einer Kürzung der Produktion geantwortet habe.

Eine weitere Herausforderung für Russland sei die Wechselkursentwicklung. 2023 habe der Rubel stark abgewertet. Damit werde es Russland zusätzlich erschwert, ausländische Produkte zu erwerben. Bisher sei die Regierung zwar in der Lage, durch eine verstärkte Kreditaufnahme für zusätzliche Nachfrage zu sorgen, weil die Staatsverschuldung niedrig sei (23 Prozent des Bruttoinlandsprodukts). Gegen Jahresende 2023 werde das aber wahrscheinlich schwieriger werden.

Trotz dieser Probleme erwartet die UNCTAD aber, dass Russlands Wirtschaft 2023 um 2,2 Prozent wächst und 2024 kaum schwächer um 2,0 Prozent.

 

Putin: „Der Rückgang vom letzten Jahr ist vollständig überwunden“

Präsident Putin wies beim Treffen des Waldai-Klubs in Sotschi am 05. Oktober darauf hin, Russlands gesamtwirtschaftliche Produktion habe ihren Rückgang im Jahr 2022 vollständig überwunden (Interfax.ru). Die folgende Abbildung des Forschungsinstituts der staatlichen Wneschekonombank (Bank für Außenwirtschaft) zeigt, dass das saisonbereinigte reale Bruttoinlandsprodukt laut ersten vorläufigen Berechnungen im August 2023 höher war als am Jahresende 2021 vor dem Beginn des Ukraine-Krieges.

Laut Schätzung des russischen Wirtschaftsministeriums war das reale Bruttoinlandsprodukt in den ersten acht Monaten des Jahres 2023 um 2,5 Prozent höher als im Vorjahreszeitraum. Im August 2023 übertraf es sein Vorjahresniveau um 5,2 Prozent. Laut Schätzung des VEB-Instituts waren die Zuwächse geringfügig schwächer.

Index des saisonbereinigten realen Bruttoinlandsprodukts (Januar 2008 = 100)

Forschungsinstitut der Wneschekonombank: BIP-Index August 2023, 04.10.23

 

Einkaufsmanagerindizes weit über der Wachstumsschwelle 

Die von S&P Global durch Befragung von Unternehmen Ende September ermittelten Einkaufsmanager-Indizes für das “Verarbeitende Gewerbe” und den Dienstleistungsbereich signalisieren weiterhin wachsende Geschäftsaktivitäten. Die Indizes übertrafen die “Wachstumsschwelle” von 50 Punkten (rote Linie in der folgenden Abbildung aus dem Wochenbericht des VEB-Instituts) erneut deutlich.

Der “Purchasing Manager Index” für das Verarbeitende Gewerbe (orange Linie) stieg im September vor dem Hintergrund der gewachsenen Inlandsnachfrage auf 54,5 Punkte, den höchsten Stand seit 2017. Der Einkaufsmanagerindex im Dienstleistungssektor (blaue Linie) notierte im September mit 55,4 Punkten noch etwas höher.

Einkaufsmanager-Indizes

Verarbeitenden Gewerbe (orange); Dienstleisleistungsbereich (blau)

VEB Institute:  World Economy and Markets Review, 06.10.23

 

bne IntelliNews: Hohe Rüstungsausgaben führen langfristig wahrscheinlich zu Stagnation

 

Die Anfang Oktober erschienen Ausgabe des „Russia Country Report“ des Internet-Magazins bne IntelliNews macht auch darauf aufmerksam, dass der russische Einkaufsmanager-Index für das „Verarbeitende Gewerbe“ auf ein langjähriges Hoch gestiegen ist.

bne IntelliNews weist außerdem darauf hin, dass im Haushaltsentwurf der Regierung für 2024 ein Anstieg der Rüstungsausgaben auf rund 6 Prozent des Bruttoinlandsprodukts vorgesehen ist  (rund 112 Mrd. US-Dollar). Russlands Rüstungsausgaben seien damit rund dreimal so hoch wie die Ausgaben der Ukraine. Präsident Putin rechne offenbar mit einer langen Dauer des Krieges.

Langfristig seien allerdings durch die kriegsbedingten Veränderungen der russischen Wirtschaft, in der jetzt der Staat das Wachstum antreibe, nicht die privaten Unternehmen, „Störungen“ der Wirtschaftsentwicklung zu erwarten. Sie würden langfristig wahrscheinlich zu einer Stagnation führen. Nur kurzfristig könne Russland zu den Volkswirtschaften zählen, die sich in Europa am besten entwickeln, während andere europäische Volkswirtschaften, vor allem Deutschland, durch die Kosten einer Vielzahl von Krisen zunehmend belastet werden.

 

Ostexperte.de-Artikel zu Konjunktur und Wirtschaftspolitik in Russland von Klaus Dormann:

Weitere Lesetipps und Quellen im PDF-Dokument, unter anderem zu:

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