Russische Konjunkturforscher sind skeptischer als die Regierung

Im April will Russlands Regierung neue Konjunkturprognosen veröffentlichen. Präsident Putin spricht erstmals von möglichen negativen Sanktionseffekten und russische Analysten rechnen mit einem weiter sinkenden Bruttoinlandsprodukt. Die aktuelle Wachstumsprognosen im Überblick.

Die bisherige Haushaltsplanung vom September geht noch davon aus, dass Russlands Bruttoinlandsprodukt 2023 um 0,8 Prozent und die Investitionen um 1 Prozent sinken. Wirtschaftsminister Maxim Reschetnikow hat seit Jahresbeginn aber mehrfach erkennen lassen, dass die Regierung für 2023 inzwischen ein Wachstum der russischen Wirtschaft erwartet. Die Prognose der Zentralbank geht schon seit Februar davon aus, dass das Bruttoinlandsprodukt in diesem Jahr um bis zu einem Prozent steigen könnte. Mitte März sagte der Wirtschaftsminister bei einer Tagung des Unternehmer- und Industriellen-Verbandes, er könne zwar noch keine Zahlen nennen. Es sei aber bereits klar, dass die neuen Prognosen der Regierung für die Entwicklung des Bruttoinlandsprodukts und auch der Investitionen im Jahr 2023 „im positiven Bereich“ liegen werden. Das berichtete Finmarket.ru.

Analysten rechnen 2023 mit einem weiter sinkenden Bruttoinlandsprodukt

Anders als die Regierung erwarten führende russische Konjunkturforscher aber weiterhin, dass die Wirtschaft erst im Jahresdurchschnitt 2024 wachsen dürfte. So hoben in der letzten Woche das Konjunkturforschungszentrum der Russischen Akademie der Wissenschaften und das Forschungsinstitut der staatlichen „Wneschekonombank“ („Bank für Außenwirtschaft“) ihre Produktions-Prognosen für 2023 zwar erneut an. Beide rechnen im Jahresvergleich 2023/2022 aber noch mit einem schwachen Rückgang des Bruttoinlandsprodukts. Die Akademie der Wissenschaften erwartet eine weitere Abnahme um 0,7 Prozent, das VEB-Institut geht von einem Rückgang um 0,5 Prozent aus. Diese Einschätzungen entsprechen weitgehend den Prognosen, die kürzlich auch vom deutschen Sachverständigenrat (- 0,5 Prozent), dem Münchner ifo Institut (- 0,5 Prozent) und dem Kieler Institut für Weltwirtschaft (- 0,4 Prozent) veröffentlicht wurden.

In der Ende März vom Moskauer Reuters-Büro durchgeführten Umfrage sank die durchschnittliche Rezessionsprognose um einen Prozentpunkt auf 0,9 Prozent.

Die Mailänder Großbank UniCredit sieht die diesjährigen Perspektiven der russischen Wirtschaft aber noch deutlich skeptischer. Ihre bisherige Prognose für den Rückgang der Produktion der russischen Wirtschaft im Jahr 2023 halbierte die UniCredit in ihrem Quartalsbericht für die Länder in Mittel- und Osteuropa zwar von 5,0 Prozent auf 2,5 Prozent. Auch damit würde sich die Rezession im Vergleich mit 2022 aber noch etwas beschleunigen. Im letzten Jahr ist das Bruttoinlandsprodukt laut der „ersten Schätzung“ des Statistikamtes Rosstat im Vorjahresvergleich um 2,1 Prozent gesunken.

BIP-Prognosen 2022 bis 2024

Veränderung des realen Bruttoinlandsprodukts gegenüber dem Vorjahr in Prozent

Putin: Wegen möglicher Sanktionseffekte muss schnell gehandelt werden

Präsident Putin unterstrich bei wirtschaftspolitischen Beratungen der Regierung am 29. März, dass die russische Wirtschaft seit Juli 2022 ein „positives Momentum“ entwickelt habe. Das Erreichen dieses Wachstumspfades dürfe aber nicht dazu führen, dass man sich selbstgefällig zurücklehne. Die Regierung müsse die positiven wirtschaftlichen Trends unterstützen und verstärken.

Es müsse ohne übertriebene Bürokratie schnell gehandelt werden, da die ungerechtfertigten Sanktionen gegenüber der russischen Wirtschaft mittelfristig eine negative Wirkung haben könnten („since the illegitimate restrictions imposed on the Russian economy could produce a negative effect in the medium term“ heißt es in der vom Präsidentenamt veröffentlichten englischen Übersetzung).

Professor Gerhard Mangott (Institut für Politikwissenschaft der Universität Innsbruck), meint in einem Focus-Gastbeitrag, der Präsident habe damit erstmals öffentlich eingeräumt, dass die westlichen Sanktionen „mittelfristig negative Konsequenzen“ für Russland bringen könnten. Für diese „erstaunliche Kehrtwende“ gebe es nur eine plausible Erklärung: Putin wolle die russische Bevölkerung auf negative Entwicklungen der Wirtschaft hinweisen und vorwarnen.

Der Präsident sprach in der Regierungssitzung unter anderem an, dass die Entwicklung der russischen Industrie weiterhin schwach sei. Leider sei die Produktion noch niedriger als vor einem Jahr. Priorität der Regierung sei, die Produktion der am härtesten getroffenen Branchen wie der Automobilindustrie und der Holzindustrie wiederzubeleben.

Putin wies darauf hin, dass die Arbeitslosenquote auf ein Rekordtief gesunken sei und die Reallöhne etwas stiegen. Die real verfügbaren Einkommen seien im vierten Quartal 0,9 Prozent höher als im Vorjahr gewesen. Das sei ein bescheidener Anstieg, aber ein Anstieg. Laut Rosstat betrug die Arbeitslosenquote im Februar nur noch 3,5 Prozent. Die Reallöhne stiegen im Januar im Vorjahresvergleich um 0,6 Prozent.

Die Nachrichtenagentur Reuters meinte in einem Bericht zur Rede Putins, die niedrige Arbeitslosenquote sei ein Hinweis auf die Knappheit an Arbeitskräften. Sie sei stärker spürbar geworden seit Präsident Putin im September eine Teil-Mobilisierung von Hunderttausenden junger Männer anordnete und gleichzeitig viele andere auswanderten.

Erste Berechnungen des VEB-Instituts: Seit November lahmt die BIP-Erholung

Die im zweiten Halbjahr 2022 begonnene Erholung der gesamtwirtschaftlichen Produktion zeigt die folgende Abbildung aus dem am Freitag veröffentlichten Wochenbericht des Forschungsinstituts der „Wneschekonombank“. Gut ein Drittel des Einbruchs der Produktion in der ersten Hälfte des Jahres 2022 wurde bis November aufgeholt. Seit November ist das BIP aber kaum weiter gestiegen.

Der Rückgang des Indexes des saisonbereinigten Bruttoinlandsprodukts im Dezember gegenüber November um 0,6 Prozent wurde im Januar zwar wettgemacht. Im Februar ist der Index gegenüber Januar aber nur noch um 0,2 Prozent gestiegen. Das BIP war damit kaum höher als im November und noch 3,5 Prozent niedriger als ein Jahr zuvor im Februar 2022.

Index des saisonbereinigten realen Bruttoinlandsprodukts (Januar 2014=100)

Institut der Wneschekonombank: World Economy and Markets Review, 31.03.23

Diese ersten Berechnungen des VEB-Instituts weichen von den Berechnungen des russischen Wirtschaftsministeriums etwas ab. Laut dem Wirtschaftsministerium war das reale Bruttoinlandsprodukt im Februar 3,1 Prozent niedriger als im Februar 2022. Saisonbereinigt stagnierte das BIP laut dem Ministerium im Februar auf dem im Januar erreichten Niveau. Das berichtet Prime.ru.

Russlands Industrieproduktion erholte sich im Februar weiter

Laut den ersten Berechnungen des VEB-Instituts ist die russische Industrieproduktion im Februar gegenüber Januar saison- und kalenderbereinigt um 0,8 Prozent gestiegen (schwarze Linie in der folgenden Abbildung). Damit wurde der schwache Rückgang im Januar (- 0,3 Prozent) mehr als ausgeglichen.

Im Vergleich zum Februar 2022 war die gesamte Industrieproduktion aber noch 1,7 Prozent niedriger. Dabei unterschritt die Produktion im Bereich „Bergbau, Förderung von Rohstoffen“ (untere hellgrüne Linie) das vor einem Jahr erreichte Niveau deutlich stärker (- 3,2 Prozent) als die Produktion im „Verarbeitenden Gewerbe“ (- 1,2 Prozent gegenüber Februar 2022; obere dunkelgrüne Linie).

Gegenüber Januar 2023 stieg die Produktion im „Verarbeitenden Gewerbe“ im Februar bereinigt um 1,2 Prozent. Die Produktion im Bereich „Bergbau, Förderung von Rohstoffen nahm gleichzeitig um 0,4 Prozent zu.

Index der Industrieproduktion,
saison- und kalenderbereinigt  (Januar 2014=100)

Institut der Wneschekonombank: World Economy and Markets Review, 31.03.23

Der Einzelhandel hinkt der Erholung im Dienstleistungsbereich hinterher

Zur Entwicklung der Reallöhne und der realen Ausgaben der privaten Haushalte im Einzelhandel und für Dienstleistungen berechnete das VEB-Institut auch sainsonbereinigte Monatsdaten. Insgesamt stieg der private Verbrauch im Februar nach Einschätzung des Instituts weiter.

Hauptsächlich die realen Dienstleistungsumsätze sind gewachsen (+ 0,8 Prozent im Februar gegenüber Januar, dunkel-grüne Linie). Ihr Vorjahresniveau überschritten die Dienstleistungsumsätze im Februar um 3,9 Prozent.

Der reale Einzelhandelsumsatz, der sich erst im Januar schlagartig um 6,6 Prozent erholt hatte, wuchs im Februar gegenüber Januar nur noch um 0,2 Prozent (schwarze Linie). Er war im Februar noch 7,8 Prozent niedriger als vor einem Jahr.

Die Reallöhne sanken im Januar gegenüber Dezember um 1,4 Prozent, nachdem sie im Dezember gegenüber November um 2,0 Prozent gestiegen waren (graue Linie). Im Vergleich zum Vorjahresmonat waren die Reallöhne im Januar aber 0,6 Prozent höher.

Indizes der Reallöhne und der realen Umsätze im Einzelhandel und mit Dienstleistungen (Januar 2014=100)

Institut der Wneschekonombank: World Economy and Markets Review, 31.03.23

VEB-Institut: Im Sommerhalbjahr 2023 sinkt das Bruttoinlandsprodukt

Kurz vor Veröffentlichung der Rosstat-Daten für Februar veröffentlichte das VEB-Institut Prognosen für die Entwicklung der russischen Wirtschaft bis 2025. Die folgende Abbildung zeigt die Einschätzung des Instituts zur Entwicklung des saisonbereinigten Bruttoinlandsprodukts im Verlauf des Jahres 2023.

Index des realen Bruttoinlandsprodukts, saisonbereinigt (2010=100)

Institut der Wneschekonombank: Forecast for the development of the Russian economy for 2023 and prospects for 2024-2025, 27.03.2023

Das VEB-Institut erwartet, dass das reale Bruttoinlandsprodukt im ersten Quartal gegenüber dem Vorquartal saisonbereinigt nur noch um 0,2 Prozent wächst. Im folgenden halben Jahr erwartet es eine sinkende gesamtwirtschaftliche Produktion. Im zweiten Quartal werde das BIP gegenüber dem Vorquartal um 0,7 Prozent abnehmen, im dritten Quartal um 0,3 Prozent. Erst im vierten Quartal 2023 erwartet das Institut wieder ein schwaches Wachstum (+ 0,2 Prozent).

Prognosen des VEB-Institutes bis 2025

In der folgenden Tabelle hat das VEB-Institut seine Prognosen zur Entwicklung von Produktion, Verbrauch, Einkommen, Preisen und Außenhandel bis 2025 zusammengefasst.

Die wichtigsten Prognosen für 2023:

Das reale BruttoinIandsprodukt wird 2023 um 0,5 Prozent sinken (zweite Zeile). Als Ursachen für den Rückgang nennt das Institut die Abnahme der Investitionen um 2,7 Prozent (dritte Zeile) und den Rückgang der Ausfuhren.

Der Einbruch des realen Einzelhandelsumsatzes im Jahr 2022 um 6,7 Prozent wird 2023 mit einem Anstieg um lediglich 1,8 Prozent nur zu rund einem Viertel ausgeglichen (vierte Zeile).

Der Rückgang der real verfügbaren Einkommen der Bevölkerung im Jahr 2022 konnte trotz hoher Inflation auf 1,0 Prozent begrenzt werden. 2023 wird dieser Rückgang mit einem Anstieg der Einkommen um 1,5 Prozent wettgemacht (fünfte Zeile).

Der Anstieg der Verbraucherpreise wird am Jahresende 2023 bei 5,7 Prozent liegen und damit nur noch knapp halb so hoch sein wie Ende 2022 (sechste Zeile).

Prognosen des VEB-Instituts bis 2025

Institut der Wneschekonombank: Forecast for the development of the Russian economy for 2023 and prospects for 2024-2025, 27.03.2023.

Übersetzung Tabelle, Spalte 1:

Exportpreis für russisches Öl, $/Barrel;

BIP; Investitionen;

Einzelhandelsumsatz; Real verfügbare Einkommen;

Inflationsrate am Jahresende;

Wechselkurs Rubel/$; Jahresdurchschnitt

Export, Mrd. $; Import, Mrd. $

Russlands Exporterlöse sinken 2023 um ein Fünftel

Die gesamten Exporterlöse werden nach Einschätzung des VEB-Instituts 2023 um rund 20 Prozent von 580 Milliarden US-Dollar im Jahr 2022 auf 465 Mrd. US-Dollar im Jahr 2023 sinken.

Das VEB-Institut geht von einem Rückgang des durchschnittlichen Exportpreises von russischem Öl um rund 22 Prozent von 79 Dollar/Barrel im Jahr 2022 auf 62 Dollar/Barrel im Jahr 2023 aus (erste Zeile).

Es erwartet, dass der Erlös aus den Ausfuhren der russischen Energiewirtschaft um rund 30 Prozent von 337 Mrd. US-Dollar im Jahr 2022 auf 237 Mrd. US-Dollar im Jahr 2023 sinkt, knapp unter das Niveau des Jahres 2021 (244 Mrd. US-Dollar).

Ostexperte.de-Artikel zu Konjunktur und Wirtschaftspolitik in Russland von Klaus Dormann:

„Wirtschaftsweise“ und ACRA heben Russland-Prognosen stark an, 27.03.23

Analysten-Konsens: Russlands Rezession hält 2023 an, 20.03.23

Russlands Wirtschaft erholt sich langsam: Konsum- und Geschäftsklima gestiegen, 06.03.23

Russlands Wirtschaft fährt in eine langanhaltende Krise, 27.02.23

Weitere Lesetipps und Quellen im PDF-Dokument, unter anderem zu:

Titelbild
Russlands Wirtschaftsminister Maxim Reschetnikow. Quelle: Maksim Konstantinov / Shutterstock.com