Russland in der Rezession: Regierung optimistischer als Zentralbank

Differenzen bei Wachstumsprognosen

Aktuelle Umfragen bei Banken und Forschungsinstituten lassen 2022 einen Einbruch des russischen Bruttoinlandsprodukts um rund 10 Prozent erwarten, die EU-Kommission nennt in ihrer „Frühjahrsprognose“ ähnliche Zahlen. Russlands Wirtschaftsministerium hantiert hingegen mit optimistischeren Prognosen. 

Einen Rückgang um 10 Prozent hält auch die russische Zentralbank für möglich. Sie nennt eine Prognose-Spanne von minus 8 bis minus 10 Prozent. Das russische Wirtschaftsministerium sieht Russlands Konjunktur in einem neuen mit dem Finanzministerium abgestimmten Entwurf für die Haushaltsplanung etwas optimistischer. Im Basisszenario geht es davon aus, dass das Bruttoinlandsprodukt 2022 um 7,8 Prozent zurückgeht. In einem „konservativen“ Szenario erwartet es eine Abnahme um 8,8 Prozent.

Zuversichtlicher früherer Wirtschaftsminister Oreshkin

Noch merklich optimistischer als das Basisszenario des Wirtschaftsministeriums sieht Maxim Oreshkin, früherer Wirtschaftsminister und seit Januar 2020 wirtschaftspolitischer Berater von Präsident Putin, die diesjährige Wirtschaftsentwicklung. Bei einer Investoren-Konferenz in Sankt Petersburg meinte Oreshkin, der diesjährige Rückgang des Bruttoinlandsprodukts werde 5 Prozent nicht überschreiten. Prognosen, die mit einem Einbruch um 10 Prozent rechnen, nannte er „apokalyptisch“. Das berichtet Finmarket.ru.

Im ersten Quartal 2022 war das Bruttoinlandsprodukt laut einer „vorläufigen ersten Schätzung“ des Statistikamtes Rosstat immerhin noch 3,5 Prozent höher als ein Jahr zuvor.

Auch die Inflationsentwicklung beurteilt Oreshkin optimistischer als die Zentralbank und das Wirtschaftsministerium. Er meint, die Inflationsrate werde am Jahresende 2022 15 Prozent nicht mehr überschreiten. Das Wirtschaftsministerium erwartet im Dezember noch eine Inflationsrate von 17,5 Prozent. Die Zentralbank rechnet in ihren Ende April veröffentlichten Prognosen mit einem Preisanstieg von 18 bis 23 Prozent.

Im April 2022 hat die jährliche Inflationsrate laut Rosstat 17,8 Prozent erreicht.. Auch für die Woche zum 13. Mai errechnete Rosstat eine jährliche Inflationsrate von 17,8 Prozent (s. auch Wochenbericht des VEB-Instituts). Der Preisanstieg gegenüber der Vorwoche flachte sich aber ab.

Es kommt auch auf die Dauer der Rezession an

Die Unterschiede zwischen den Prognosen der Regierung und der EU-Kommission sind geringer, wenn man berücksichtigt wie die weitere Produktionsentwicklung im Jahr 2023 eingeschätzt wird. Der neue Regierungsentwurf geht davon aus, dass die gesamtwirtschaftliche Produktion nach dem diesjährigen Rückgang um 7,8 Prozent im Jahr 2023 im Vergleich zum Vorjahr noch etwas weiter sinkt (- 0,7 Prozent). Demgegenüber erwartet die EU-Kommission, dass nach dem diesjährigen Einbruch um 10,4 Prozent im nächsten Jahr bereits wieder ein Wachstum von 1,5 Prozent erreicht wird.

Das Forschungsinstitut der Vnesheconombank veröffentlichte kurz nach Bekanntmachung der Regierungsprognosen (Vedomosti-Bericht) neue Konjunkturszenarien. Seine Prognose der BIP-Entwicklung deckt sich im Basisszenario fast völlig mit den Prognosen der EU-Kommission.

Wachstumsprognosen 2022 bis 2023

Veränderung des realen Bruttoinlandsprodukts gegenüber dem Vorjahr in Prozent

VEB Institut: Der Tiefpunkt der Produktion wird im dritten Quartal 2022 erreicht

Die umfangreiche Studie des VEB-Instituts (26 S.) bietet zur vierteljährlichen Entwicklung des saisonbereinigten Bruttoinlandsprodukts folgende Abbildung. Sie ist überschrieben:

„Die Wiederherstellung der Versorgungsketten und zusätzliche soziale Hilfsmaßnahmen können den Abschwung der Wirtschaft im Jahr 2022 vermindern.“

Bruttoinlandsprodukt (4.Quartal 2019=100, saisonbereinigt)

Vnesheconombank Institute: Scenarios for the development of the Russian economy under complex sanctions, Seite 9, 19.05.2022

Die Abbildung zeigt, dass das Bruttoinlandsprodukt in der „Corona-Krise“ vom 4. Quartal 2019 (Index=100) bis zum 2. Quartal 2020 um rund 8 Prozent gesunken ist. Im Gesamtjahr 2020 sank es gegenüber 2019 um 2,7 Prozent. 2021 wuchs das BIP um 4,7 Prozent. Im ersten Quartal 2022 stagnierte es auf dem im vierten Quartal 2021 erreichten Niveau.

2022 erwartet das VEB-Institut im Basis-Szenario im Jahresdurchschnitt einen Rückgang des Bruttoinlandsprodukts um 10,2 Prozent (gelbe Linie; Annahmen des Basisszenarios: Die von der russischen Regierung im März/April 2022 beschlossenen und weitere gegenwärtig in Betracht gezogene Maßnahmen zur Stabilisierung der Wirtschaft werden realisiert.)

In einem „moderat-optimistischen Szenario“ erwartet das Ministerium einen Rückgang um 8,9 Prozent (grüne Linie; Annahmen: Wiederherstellung von Versorgungsketten, Realisierung zusätzlicher sozialer Hilfsmaßnahmen, schnellere Lockerung der Geldpolitik als bisher geplant).

In beiden Szenarien geht das Institut davon aus, dass die Produktion im dritten Quartal ihren Tiefpunkt erreicht und ab dem vierten Quartal wieder anzieht.

Vergleich mit den Prognosen von Regierung und Zentralbank

Die folgende Tabelle des VEB-Instituts vergleicht die Prognosen in den beiden Szenarien des VEB-Instituts mit den Prognosen der Regierung und der Zentralbank im Hinblick auf die Entwicklung des Urals-Ölpreises, des Bruttoinlandsprodukts, der Brutto-Anlageinvestitionen, des realen Einzelhandelsumsatzes, der real verfügbaren Einkommen, der Inflationsrate (am Jahresende) und des Dollar-Kurses (im Jahresdurchschnitt).

Vnesheconombank Institute: Scenarios for the development of the Russian economy under complex sanctions, 19.05.2022

EU-Kommission: 2021 stiegen Privater Verbrauch und Investitionen kräftig

Die EU-Kommission geht in ihrer am 16. Mai veröffentlichten „Frühjahrsprognose“ auch kurz auf die rasche Erholung der russischen Wirtschaft vom Rückgang der Produktion in der „Corona-Rezession“ im Jahr 2020 ein (wobei die EU den BIP-Rückgang im Jahr 2020 mit – 3,0 Prozent angibt, während das russische Statistikamt Rosstat einen Rückgang um 2,7 Prozent errechnete).

Zur Erklärung des schnellen Wachstums um 4,7 Prozent im Jahr 2021 verweist die EU-Kommission darauf, dass die Produktion der russischen Wirtschaft im zweiten Jahr der Corona-Pandemie nur noch wenig durch weitere „Lockdowns“ beeinträchtigt wurde.

Das 2021 erreichte hohe Wachstum des privaten Verbrauchs um 9,5 Prozent sei unter anderem durch steigende Reallöhne und staatliche Hilfsprogramme getragen worden. Auch ein starker Anstieg der Brutto-Anlageinvestitionen (+ 7,0 Prozent) habe die Erholung der gesamtwirtschaftlichen Produktion im letzten Jahr gestützt.

Die folgende Abbildung der EU-Kommission zur Entwicklung der Wachstumsrate des realen Bruttoinlandsprodukts gegenüber dem Vorjahr und den Wachstumsbeiträgen der Verwendungsbereiche in Prozentpunkten zeigt, dass der BIP-Anstieg im Jahr 2021 (schwarze Linie) vor allem vom privaten Verbrauch (gelber Säulenabschnitt) getragen wurde. Weitere kleinere Wachstumsbeiträge stellten die Brutto-Anlageinvestitionen (schwarzer Abschnitt), die Aufstockung von Lagervorräten (grauer Abschnitt) und staatliche Verbrauchsausgaben (blauer Abschnitt).

Gebremst wurde das Wachstum 2021 vom Netto-Export, weil die Einfuhren viel schneller stiegen (+ 16,7 Prozent) als die Ausfuhren (+ 3,2 Prozent).

Reales Wachstum des russischen Bruttoinlandsprodukts,
Beiträge der Verwendungsbereiche zur Veränderungsrate in Prozentpunkten

EC Commission: Spring Forecast 2022, Russian Federation,16.05.2022

2022 wird das 2021 erreichte Wachstum abrupt gestoppt

Das Wachstum von Verbrauch und Investitionen wird, so die EU-Kommission, durch die nach der Invasion in die Ukraine verhängten Sanktionen abrupt gestoppt. Das Produktionsniveau der russischen Wirtschaft werde durch die diesjährige Rezession um „mindestens 10 Jahre“ zurückgeworfen. Russland werde durch die Sanktionen gezwungen sein, sein Wirtschaftsmodell in Richtung „Autarkie“ zu verändern. Dabei sei ein „Kollaps“ des Lebensstandards zu erwarten.

Durch die derzeit hohen Energie- und Rohstoffpreise, die Möglichkeiten für eine begrenzte fiskalische Stimulierung der russischen Wirtschaft eröffnen, kann der wirtschaftliche Niedergang Russlands nach Einschätzung der EU-Kommission nur etwas verlangsamt werden.

2022 brechen der Private Verbrauch und vor allem die Investitionen ein

Die EU-Kommission erwartet, dass 2022 der reale private Verbrauch um 13,8 Prozent sinkt und die Brutto-Anlageinvestitionen sogar um 22 Prozent verringert werden. Kleine Wachstumsbeiträge für das Bruttoinlandsprodukt kommen voraussichtlich lediglich vom staatlichen Verbrauch und vom Netto-Export.

Entwicklung des Bruttoinlandsprodukts nach Verwendungsbereichen
Veränderungen gegenüber Vorjahr in Prozent

European Commission: Spring 2022 Economic Forecast; mit Russia Forecast, 16.05.2022

Als Ursachen für den Einbruch der privaten Verbrauchsausgaben nennt die Kommission zum einen hohe Inflationserwartungen. Das aktuelle Tempo der Preissteigerungen sei bereits hoch. Die Preise seien in die Höhe geschossen, als der Rubel einbrach, sich die Möglichkeiten für Importe verschlechterten und Lieferketten innerhalb Russlands unterbrochen wurden. Die Perspektiven für den privaten Verbrauch hätten sich durch den Verlust an Kaufkraft und die wachsende Unsicherheit der Arbeitsplätze verschlechtert. Hinzu kämen die Einschränkungen beim Import von Konsumgütern.

Zum voraussichtlichen Rückgang der Brutto-Anlageinvestitionen um 22 Prozent verweist die EU-Kommission auf die Geschäftsaufgabe vieler ausländischer Unternehmen in Russland. Angesichts des gegenwärtigen „Umfeldes“ sei das Interesse der Investoren am russischen Markt „außerordentlich gering“.

In einigen Branchen der russischen Wirtschaft werde es zwar wahrscheinlich einzelne Investitionen zur Substitution von Importen geben. Auch ein voraussichtlicher moderater Anstieg der öffentlichen Investitionen werde den Rückgang der privaten Investitionen aber nicht kompensieren können.

„Deficit spending“ wird nicht viel helfen

Die russische Regierung versucht, mit einer Ausweitung der Staatsausgaben die Rezession zu dämpfen. Nach Einschätzung der EU-Kommission wird der fiskalische Impuls dieser Politik aber nur „moderat“ sein. Sie geht davon aus, dass der staatliche Verbrauch 2022 nur um 2,2 Prozent ausgeweitet wird. Für die Regierung sei es erforderlich, mit den verfügbaren Haushaltsmitteln sparsam umzugehen. Wie sich die staatlichen Einnahmen aus dem Export entwickeln werden, sei zudem derzeit schwer abzuschätzen.

Die außenwirtschaftliche Entwicklung wird den Einbruch etwas dämpfen

Die EU-Kommission erwartet zwar, dass angesichts der Sanktionen nicht nur die reale Einfuhr von Waren und Dienstleistungen nach Russland 2022 stark sinkt (- 25,8 Prozent), sondern auch die realen Ausfuhren Russlands deutlich abnehmen (- 16,1 Prozent). Der Rückgang der realen Ausfuhren aus Russland wird damit aber deutlich schwächer sein als der Rückgang der Einfuhren. So wird sich der Außenbeitrag erhöhen und die Produktionsentwicklung der Wirtschaft moderat stützen.

Der Leistungsbilanzüberschuss kann sich gemessen am BIP verdoppeln

Unter der Annahme, dass keine weitere Verschärfung der Sanktionen beschlossen wird, sieht die EU-Kommission in den russischen Energie- und Rohstoffexporten den wichtigsten „Anker“ für die russische Wirtschaft. Die Kommission erwartet angesichts der hohen Preise und der starken Nachfrage nach Rohstoffen ein kräftiges Wachstum der Ausfuhrerlöse. Russlands Leistungsbilanzüberschuss könnte sich deswegen von 6,7 Prozent des BIP im letzten Jahr auf 13,7 Prozent des BIP im Jahr 2022 verdoppeln.

2023 erholt sich das BIP kaum

Die EU-Kommission erwartet zwar, dass sich die russische Wirtschaft im nächsten Jahr an „die neue Normalität“ mit einer Abkoppelung vom Westen anpasst. Das Wachstum der gesamtwirtschaftlichen Produktion werde aber voraussichtlich auf nur 1,5 Prozent beschränkt bleiben.

Die Ungewissheit über die weitere Entwicklung der wirtschaftlichen Verbindungen „mit dem Rest der Welt“ werde das Wachstumspotenzial der russischen Wirtschaft weiterhin eng begrenzen.

Ostexperte.de-Artikel zu Konjunktur und Wirtschaftspolitik in Russland von Klaus Dormann:

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