Wachstumsprognosen langfristig düster

Wachstumsprognosen für Russlands Wirtschaft bleiben düster

Immer mehr Prognosen kommen zu der Einschätzung, dass die Produktion der russischen Wirtschaft in diesem Jahr um rund 10 Prozent sinken dürfte. Ohne Friedensabkommen und Sanktionslockerungen prognostiziert die Europäische Bank für Wiederaufbau und Entwicklung (EBRD) auch für die Zukunft düstere Aussichten.

Nicht nur die Londoner Entwicklungsbank EBRD veröffentlichte in der letzten Woche diese Prognose. Sie war auch Ergebnis von Analysten-Umfragen der Research-Unternehmen „FocusEconomics“ und „Consensus Economics“. Die russische Zentralbank hatte bereits Ende April den zu erwartenden Rückgang der gesamtwirtschaftlichen Produktion für 2022 auf 8 bis 10 Prozent veranschlagt. In ihrem „Monetary Policy Report“ kommentierte sie jetzt ihre Prognosen bis 2024.

EBRD: Sanktionen drücken die Produktion 2022 stark

Die EBRD kommentiert im kurzen Russland-Kapitel ihres Berichts „Regional Economic Prospects“ vor allem den voraussichtlichen Rückgang der Produktion und die Inflationsentwicklung in Russland.

Russlands Wirtschaft zeigt nach Beobachtungen der EBRD bereits ab dem ersten Quartal 2022 Zeichen einer tiefen, sanktionsbedingten Rezession. Frühindikatoren signalisierten einen starken Rückgang der Wirtschaftstätigkeit im März 2022 (Vermutlich meint die EBRD damit den Rückgang der Einkaufsmanager-Indizes). Angesichts von Geschäftsschließungen und Unterbrechungen von Lieferketten sei die Zuversicht in die Wirtschaftsentwicklung gesunken.

Der Rubel stabilisierte sich nach kurzem Einbruch

Nach der Ankündigung der westlichen Sanktionen habe sich der Rubel zunächst  deutlich abgeschwächt, merkt die EBRD an. Sein Kurs sei im März zeitweilig um über 40 Prozent gegenüber dem Jahresbeginn gefallen. Seitdem habe er aber den größten Teil seiner Verluste wieder wettgemacht. Russlands Erlöse aus Energieexporten und die von der Regierung angeordneten Kapitalverkehrskontrollen hätten geholfen, den Wechselkurs zu stabilisieren.

Stark beschleunigte Inflation

Die zeitweilige starke Abwertung des Rubels nennt die EBRD als einen Grund für die beschleunigt steigenden Preise in Russland. Die jährliche Inflationsrate habe sich von 9,2 Prozent im Februar 2022 auf 16,7 Prozent im März erhöht. Auch „Hamsterkäufe“ der Verbraucher hätten dazu beigetragen.

Um die „galoppierende Inflation“ einzudämmen, habe die Zentralbank Russlands ihren Leitzins Ende Februar auf 20 Prozent mehr als verdoppelt. Inzwischen sei ein Teil dieser Erhöhung aber wieder rückgängig gemacht worden.

BOFIT, das Forschungsinstitut der finnischen Zentralbank, veröffentlichte zur Entwicklung von Inflationsrate und Leitzins in Russland folgende Abbildung.

Die blaue Linie zeigt die von der Zentralbank in zwei Schritten im April vorgenommene Senkung des Leitzinses von 20 auf 14 Prozent.

Die rote Linie zeigt den Anstieg der Verbraucherpreise gegenüber dem jeweiligen Vorjahresmonat bis einschließlich März. Die horizontale schwarze Linie markiert die von der Zentralbank angestrebte Inflationsrate (2015 wurde das Inflationsziel auf 4,0 Prozent gesenkt).

The CBR has lowered the key rate twice
since the sharp hike after the invasion of Ukraine

Sources: Macrobond, Central Bank of Russia, Rosstat and BOFIT.

BOFIT: CBR further lowers key rate, BOFIT weekly, 13.05.2022

Im April ist die jährliche Inflationsrate weiter auf 17,8 Prozent gestiegen. Das ist die höchste Teuerungsrate seit Januar 2002 berichtet Finmarket.ru. Gegenüber dem Vormonat März schwächte sich der Preisanstieg im April aber auf 1,6 Prozent ab. Von Februar auf März hatte es unter dem Einfluss der starken Rubel-Abwertung einen sehr starken Preissprung um 7,6 Prozent gegeben.

Einbruch der Importe signalisiert Abnahme der Inlandsnachfrage in Russland

Zur Einschätzung der Entwicklung der inländischen Nachfrage in Russland verweist die EBRD auf die Entwicklung der russischen Einfuhren. Das russische Statistikamt Rosstat veröffentlichte zwar noch keine Daten zu den Einfuhren im März. Angaben von Handelspartnern zu ihren Ausfuhren nach Russland deuten laut EBRD aber auf einen starken Rückgang der russischen Importe im März hin.

BOFIT veröffentlichte zum Einbruch des Wertes der Warenausfuhren aus Deutschland, den USA, Finnland und China nach Russland folgende Abbildung.

Many countries have significantly reduced
their goods exports to Russia this year

Sources: Macrobond, Finnish customs, BOFIT.

BOFIT: Russia legitimises parallel imports of many goods as imports collapse, 13.05.2022

Ost-Ausschuss: Abwärtstrend der russischen Importe aus Deutschland wird sich weiter beschleunigen

Zur Entwicklung des deutschen Warenhandels mit Russland heißt es In einer Stellungnahme der Stellvertretenden Vorsitzenden des Ost-Ausschusses, Cathrina Claas-Mühlhäuser:

„Die deutschen Ausfuhren nach Russland brachen im Vergleich zu März 2021 massiv um 58 Prozent ein, der Export nach Belarus sank um knapp die Hälfte. Sanktionen, Logistik- und Finanzierungsprobleme und der Rückzug immer mehr deutscher Unternehmen von diesen Märkten hinterlassen deutliche Spuren. Der Abwärtstrend wird sich in den kommenden Monaten weiter beschleunigen.

Als Folge rutscht die Handelsbilanz mit Russland tief in die roten Zahlen, da gleichzeitig die Preise für Energie und Rohstoffe massiv gestiegen sind. Die Importe aus Russland kletterten daher im März wertmäßig um 44 Prozent gegenüber dem Vorjahr.

Es ist dennoch richtig, die Unternehmen mit einem Energieembargo nicht zu überfordern und ihnen Zeit für die notwendigen Anpassungen zu geben. Wir begrüßen daher die in Aussicht gestellten Hilfen der Bundesregierung. Die Defizite im Russland-Handel werden sich bis Jahresende deutlich abschwächen, sobald neue Bezugsquellen erschlossen sind.“

EBRD: Auch längerfristige Wachstumsperspektiven Russlands verschlechtert

Insgesamt erwartet die EBRD, dass die russische Wirtschaft 2022 voraussichtlich um 10 Prozent schrumpft. 2023 werde ein „Nullwachstum“ folgen.

Auch die weiteren Wachstumsaussichten Russlands sieht die EBRD sehr skeptisch. Ohne ein Friedensabkommen, das die westlichen Länder dazu veranlassen könnte, die Sanktionen zu lockern, dürften die Perspektiven düster bleiben. Die Entwicklung der russischen Wirtschaft in Richtung Autarkie und der Verlust qualifizierter Arbeitskräfte durch Abwanderung bedeuteten, dass das langfristige Wachstumspotenzial der russischen Wirtschaft ausgehöhlt werde.

BOFIT-Vergleich der EBRD-Prognose mit anderen Prognosen

Das Forschungsinstitut der finnischen Zentralbank hat in seinem jüngsten Wochenbericht die Prognosen der EBRD zum einen mit Prognosen der russischen Zentralbank und mit Prognose-Entwürfen des Wirtschaftsministeriums verglichen. Außerdem werden die EBRD-Prognosen mit den Prognosen des IWF und der Weltbank sowie den Ergebnissen der Analysten-Umfrage des Unternehmens „Consensus Economics“ verglichen.

Besonders interessiert hat BOFIT dabei, welche Prognosen zur Entwicklung der russischen Einfuhren von Waren und Dienstleistungen veröffentlicht wurden. Wie stark werden die Sanktionen die Einfuhren drücken?

BOFIT stellt als Gesamtergebnis heraus, dass die Prognosen einen „substanziellen Rückgang“ des Bruttoinlandsprodukts um rund 10 Prozent erwarten lassen und die russischen Einfuhren dabei scharf sinken werden.

Recent forecasts see Russian GDP contracting substantially this year
and Russian imports falling sharply

BOFIT: Major forecasts for the Russian economy anticipate a large contraction this year along with sharp drops in exports and imports, BOFIT Weekly, 13.05.2022

Produktions- und Arbeitsmarktentwicklung

Der Rückgang des Bruttoinlandsprodukts um rund 10 Prozent erfolgt laut einigen der von BOFIT verglichenen Prognosen bereits bis Ende 2022. Die meisten Prognosen gehen aber davon aus, dass die gesamtwirtschaftliche Produktion 2023 weiter sinkt und die Erholung erst im Jahr 2024 beginnt.

Nur wenige Prognosen umfassen auch den Arbeitsmarkt. Der IWF prognostiziert für 2022 einen Anstieg der Arbeitslosenquote auf über 9 Prozent. Bei einer Analysten-Umfrage der Zentralbank wurde erwartet, dass die Arbeitslosenquote auf knapp 8 Prozent steigen wird.

Außenhandel: Einbruch der Einfuhren und Ausfuhren

Alle erfassten Prognosen gehen angesichts der gegenseitigen Sanktionen von einem starken Rückgang der Ein- und Ausfuhren Russlands aus. Die Schätzungen liegen zwischen einem Drittel und einem Fünftel.

Die realen Einfuhren Russlands werden laut den Prognosen der russischen Zentralbank und der Weltbank 2022 um etwa ein Drittel einbrechen. Der IWF rechnet hingegen mit einem schwächeren Rückgang der Einfuhren um etwa ein Viertel.

Die realen Ausfuhren Russlands werden laut den Prognosen von Zentralbank und IWF um rund ein Fünftel sinken, also nicht so stark wie die Einfuhren.

Die Weltbank meint hingegen, dass der Rückgang der Ausfuhren bis zu einem Drittel betragen könnte. Sie berücksichtigt dabei die von bisherigen Handelspartnern Russlands angekündigten Importverbote für russisches Öl und Gas und einen erheblichen Rückgang der anderen russischen Exporte. Damit wäre der Rückgang der Ausfuhren Russlands etwa ebenso stark wie der von der Weltbank erwartete Rückgang der Einfuhren.

Zur Ölpreisentwicklung gehen die russische Zentralbank und das russische Wirtschaftsministerium in ihren Prognosen wegen der hohen Preisabschläge von russischem Urals-Rohöl in den letzten Monaten von einem relativ geringen Anstieg des Ölpreises im Jahr 2022 aus. Die Zentralbank erwartet im Jahresdurchschnitt 9 Prozent höhere Ölpreise, Russlands Wirtschaftsministerium rechnet mit einem Anstieg um 20 Prozent.

Bei 20 Prozent Inflation sinkt der reale private Verbrauch um 10 Prozent

Allgemein wird erwartet, dass die Inflationsrate in diesem Jahr auf rund 20 Prozent steigt, die Kaufkraft der Verbraucher so untergräbt und ihren Konsum dämpft. Laut Zentralbank und Weltbank sinkt der reale Verbrauch der privaten Haushalte 2022 um etwa 10 Prozent.

Im nächsten Jahr rechnen IWF und Weltbank noch mit einer Inflationsrate von 13 bis 14 Prozent. Die russische Zentralbank geht von einem deutlich stärkeren Rückgang der Inflationsrate auf 7 bis 10 Prozent im Jahresdurchschnitt 2023 aus.

Die realen Anlageinvestitionen werden 2022 nach allgemeiner Einschätzung um fast ein Fünftel zurückgehen.

Russlands Staatshaushalt wird defizitär – meinen IWF und Weltbank

Der IWF und die Weltbank erwarten, dass die Staatsausgaben Russlands in diesem Jahr nominal deutlich erhöht werden und sich der bisherige Haushaltsüberschuss in ein Defizit verwandelt.

Die Weltbank schätzt, dass das Defizit auf etwa 2 Prozent des BIP begrenzt wird. Der IWF meint hingegen, es könnte rund 4 Prozent des BIP erreichen, wenn die Regierung unter anderem vorgeschlagene Steuererleichterungen verwirklicht.

Die Zentralbank erläutert ihre Prognosen im „Monetary Policy Report“

Die russische Zentralbank kommentierte ihre bei der letzten Leitzinssenkung Ende April veröffentlichten Prognosen zur mittelfristigen Entwicklung der russischen Wirtschaft auch in ihrem in der letzten Woche erschienenen „Monetary Policy Report“. Die Krise des Jahres 2022 sei eine der größten Herausforderungen für die russische Wirtschaft seit den 1990er Jahren.

Die sehr ungewisse voraussichtliche Entwicklung des Bruttoinlandsprodukts veranschaulicht die Zentralbank mit folgender Abbildung.

Entwicklung des Bruttoinlandsprodukts

(Veränderungen der Quartalsdaten gegenüber dem Vorjahr in Prozent)

Zentralbank: Monetary Policy Report; S. 17, 11.05.2022

Die Zentralbank erwartet, dass sich der Rückgang der gesamtwirtschaftlichen Produktion gegenüber dem Vorjahr bis zum Jahresende 2022 beschleunigt. Im vierten Quartal werde das Bruttoinlandsprodukt 12,5 bis 16,5 Prozent niedriger sein als ein Jahr zuvor (siehe dunkel-blau schraffierte Fläche). Im Jahresdurchschnitt 2022 werde das BIP um 8 bis 10 Prozent gegenüber dem Vorjahr sinken.

Die Investitionen werden viel stärker sinken als der Verbrauch

Dabei sei mit einem starken Rückgang der realen privaten Investitionen zu rechnen. Als Ursachen dafür nennt die Zentralbank neben der allgemeinen Unsicherheit die Schwierigkeiten beim Export und bei der Beschaffung von produktionsnotwendigen Importen. Den Rückgang der gesamten Bruttoinvestitionen veranschlagt die Zentralbank im Jahr 2022 auf 30,5 bis 34,5 Prozent (bei einem Rückgang der Bruttoanlageinvestitionen um 16 bis 20 Prozent).

Der reale Verbrauch der privaten Haushalte dürfte laut Zentralbank 2022 um 8,5 bis 10,5 Prozent abnehmen. Hintergrund dafür sei zum einen die geringere Verfügbarkeit von Importen ausländischer Produkte, was für den Rückgang noch wichtiger sei als ihre hohen Preise. Außerdem sei ein sparsameres Konsumverhalten der Haushalte zu erwarten. Der gesamte Verbrauch werde real weniger stark um 5,5 bis 7,5 Prozent abnehmen, da er durch zusätzliche staatliche Verbrauchsausgaben gestützt werde.

Der Rückgang des Außenhandels wird laut Zentralbank dazu führen, dass der Anteil der Exporte an der Wirtschaftsleistung sinkt. Die Produktion der russischen Wirtschaft werde sich stärker auf den Inlandsmarkt konzentrieren.

2023 könnte die Produktion stabilisiert sein

Die Zentralbank erwartet, dass die russische Wirtschaft den größten Teil der erforderlichen strukturellen Anpassungen bis Mitte 2023 durchlaufen haben wird. Im vierten Quartal 2023 werde das Bruttoinlansprodukt 4,0 bis 5,5 Prozent höher sein als ein Jahr zuvor.

Im Jahresdurchschnitt 2023 werde das Bruttoinlandsprodukt stagnieren oder höchstens um 3 Prozent sinken. Für 2024 prognostiziert die Zentralbank ein Wachstum von 2,5 bis 3,5 Prozent.

Prognosen der Zentralbank im Basis-Szenario

Zentralbank Mid-term forecast: Mid-term forecast; 29.04.2022

Ostexperte.de-Artikel zu Konjunktur und Wirtschaftspolitik in Russland von Klaus Dormann:

Weitere Lesetipps und Quellen im PDF-Dokument, unter anderem zu:

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