Kasachstan: Eine Frage regionaler Stabilität

Kasachstan und die Bedeutung regionaler Stabilität in Zentralasien

Kasachstan wurde zum Jahresbeginn unvermittelt in den Fokus internationaler Aufmerksamkeit katapultiert. Was ist konkret geschehen, wie wurde reagiert und welche Auswirkungen haben die aktuellen Ereignisse für benachbarte Staaten? Eine Bestandsaufnahme.

Angefangen hat alles mit Protesten gegen die Erhöhung der staatlich subventionierten Preise für Flüssiggas, das in Kasachstan als Kraftstoff für die meisten PKWs verwendet wird und damit die meisten Bürger unmittelbar wirtschaftlich betrifft. Die am 2. Januar im westkasachischen Gebiet Mangghystau begonnenen Demonstrationen weitete sich bis zum 4. Januar rasch aus über viele weitere Regionen, ebenso auf die größte Stadt des Landes und ehemalige Hauptstadt, Almaty. Am Nachmittag des 5. Januar schlugen die dortigen, bis dato meist friedlichen zivilen Kundgebungen in eine versuchte Übernahme staatlicher Strukturen durch paramilitärische Gruppen rapide um. Beim Vorgehen der Bewaffneten wurden strategische Punkte wie der Flughafen, Polizeistellen, Fernsehsender und Militärdepots zielgerichtet angegriffen und zwischen dem 6. und 8. Januar zu großen Teilen in die Gewalt der Kämpfer gebracht. Zudem wurden das Bürgermeisteramt von Almaty, das Gebäude der Staatsanwaltschaft und mehrere Fernsehstudios eingenommen und niedergebrannt. Vandalismus, Plünderungen von über 1.000 Geschäften und eine allgegenwärtige Bedrohung der Bürger waren das Ergebnis dessen, was vermeintlich als friedlicher Protest gegen einzelne Maßnahmen der Regierung begonnen hatte. Wie kam es dazu?

Koordinierte Gewalt von Außen

Mittlerweile ist bekannt, dass aus dem Ausland finanzierte und ausgebildete Kämpfer von Terrororganisationen sich der anfänglichen Dynamik eines friedlichen Protests bemächtigt und diesen für ihre Zwecke ausgenutzt haben. Wie kasachische Sicherheitsbehörden mitteilten, seien diese unter anderem aus Afghanistan und Syrien gekommen. Lokale Beobachter gehen von Schätzungen bis zu 20.000 solcher Kämpfer aus, die in Kasachstan zeitweise ihr Unwesen trieben. Der Delegierte der Deutschen Wirtschaft für Zentralasien, Hovsep Voskanyan, resümiert: „Das Vorgehen deutete eindeutig auf eine kontrollierte, koordinierte und lang angelegte Aktion hin und nicht auf eine spontane und unkoordinierte Reaktion der Menge, wie wir sie bis zum Nachmittag des 05.01. beobachten konnten.“ Kasachstans Präsident Kassym-Jomart Tokajew, wecher umgehend auf die Forderungen der Demonstranten durch die Rücknahme der Gaspreiserhöhung reagierte, unternahm infolge der dramatischen Entwicklungen weitergehende Schritte im Interesse der nationalen Sicherheit. Am Abend des 5. Januar richtete er ein Beistandsersuchen an die Organisation des Vertrages über kollektive Sicherheit (OVKS). Das 1992 gegründete Militärbündnis, dem neben der Russischen Föderation und Kasachstan auch Armenien, Belarus, Kirgisistan und Tadschikistan angehören, reagierte innerhalb weniger Stunden mit einer historischen Entscheidung – dem Beschluss des ersten exterritorialen Einsatzes der Bündnisstreitkräfte seit seiner Gründung.

Die OVKS-Mitgliedsstaaten entsandten über 2.000 Soldaten, deren Hauptaufgabe darin bestand, strategische Punkte vorwiegend in der Hauptstadt Nur-Sultan, Almaty und dem Kosmodrom Baikonur zu sichern. Die Befreiung der Stadt Almaty von den bewaffneten Kämpfern, also das operative militärische Vorgehen, oblag weiterhin in der Verantwortung der kasachischen Streit- und Sicherheitskräfte. Der am Abend des 5. Januar von Präsident Tokajew erlassene Befehl, das Feuer auf paramilitärische Kämpfer unmittelbar zu eröffnen, folgte der Tatsache, dass inzwischen nahezu alle friedlichen Demonstranten das Feld längst geräumt hatten. Die Einordnung der Aktion als Schießbefehl auf Protestierende wird der Realität deshalb nicht gerecht, denn die friedlichen Kundgebungen waren längst schwer bewaffneten Ausschreitungen gewichen. Diese fundamentale Unterscheidung, auch in Bezug auf die jeweils beteiligten Personengruppen, wurde in zahlreichen medialen Darstellungen aus dem Ausland verkürzt dargestellt. Den am 6. und 7. Januar stattfindenden Kämpfen folgte mit dem Einsatz der OVKS-Friedenstruppen eine Rückeroberung der zentralen strategischen Punkte und eines wesentlichen Teils der Stadt Almaty. Seit dem 10. Januar sind der öffentliche Nahverkehr sowie ein Großteil der Geschäfte wieder zugänglich, die Grundversorgung ist für die Bürger gesichert, auch das Internet funktioniert wieder. Offizielle Stellen sprechen von mindestens 225 Toten im Ergebnis der Ausschreitungen, darunter mindestens 19 Angehörige der Streitkräfte und der Polizei. Hinzu kommen über 4.300 verletzte Menschen, darunter 1.600 Sicherheitskräfte, sowie etwa 10.000 Festnahmen.

Truppenanbzug

Bereits am 13. Januar begann der Abzug der OVKS-Truppen, welcher nun abgeschlossen wurde. Seit heute sind wieder alle eingesetzten Soldaten in ihrer Heimat. Der erste Einsatz des Bündnisses konnte innerhalb einer knappen Woche nicht nur die Situation in Kasachstan deutlich stabilisieren, auch die Bedenken einiger Experten, dass es zu einer längerfristigen Präsenz ausländischer Truppen im Land kommen könne, erwiesen sich als falsch. Als politische Reaktion ernannte Präsident Tokajew ein neues Ministerkabinett, das wenige Tage darauf vom Parlament bestätigt wurde. Die Regierung von Premierminister Alikhan Smailow, welcher zuvor schon Finanzminister und stellvertretender Premier war, steht nun vor der Aufgabe, einerseits die Schäden dieser kurzen aber heftigen Krise zu bewältigen und andererseits die Reformpolitik kontinuierlich fortzuführen. Die Intention, die ambitionierten Reformen des wirtschaftlichen, politischen und gesellschaftlichen Lebens in Kasachstan weiter voranzutreiben hat Präsident Tokajew am 11. Januar in einer Grundsatzrede vor dem Parlament bekräftigt. Neben der politischen Agenda wird dies auch durch kürzlich erfolgte personelle Umstrukturierungen auf der Ebene leitender Funktionsträger untermauert. Der Präsident erklärte die vollständige Wiederherstellung der öffentlichen Ordnung und die Intensivierung des Dialogs mit der Bevölkerung als Konsequenz der „größten Krise seit der Unabhängigkeit des Landes“. Die Schäden in Almaty und den anderen Regionen sollen so schnell wie möglich behoben werden. Der reguläre Betrieb des Finanzsystems, des Verkehrssektors und der Lieferketten für Güter des täglichen Bedarfs, insbesondere Lebensmittel, wird angestrebt.

Die allgemeine Lage in Kasachstan ist derzeit stabil. Für die Sicherheitslage im Land ist es jedoch von entscheidender Bedeutung, die laufende Antiterroroperation erfolgreich abzuschließen. Eine Sonderermittlungsgruppe wurde beauftragt, alle an den Verbrechen gegen die Zivilbevölkerung beteiligten Kämpfer vor Gericht zu bringen und alle Ursachen und Einzelheiten der Tragödie aufzudecken. Den Familien der verstorbenen Polizeibeamten, Militärangehörigen und Zivilisten wird staatliche Hilfe zuteil. Die Regierung plant, diesen Familien unter anderem Wohn- und Ausbildungsbeihilfen sowie andere Formen der Unterstützung zukommen zu lassen. Ebenfalls erfolgten umfassende Zusicherungen und Garantien für ausländische Investoren. Gespräche mit in Kasachstan tätigen deutschen Unternehmen haben gezeigt, dass die Ausschreitungen bislang keine signifikanten Auswirkungen auf das Geschäftsklima und den Wirtschaftsstandort Kasachstan aus der Sicht deutscher Investoren haben. Hierbei profitiert Kasachstan von seiner Vorreiterrolle innerhalb Zentralasiens, die es künftig im Interesse seiner Volkswirtschaft und der wirtschaftlichen Basis zur Durchsetzung weiterer politischer Reformen erhalten und ausbauen muss.

Eine Frage regionaler Stabilität

Bei den jüngsten Geschehnissen in Kasachstan geht es nicht nur um die Frage nach der Zukunft des Landes im Hinblick auf die innere Entwicklung, politische Machtverteilungen sowie wirtschaftliche und soziale Fragen für die Bevölkerung. Es geht vielmehr auch um die Frage der regionalen Stabilität in Zentralasien und dieser Aspekt wiederum ist von höchster geostrategischer Relevanz. Russlands Außenminister Sergej Lawrow äußerte sich unmissverständlich in dem Sinne, dass eine Destabilisierung Kasachstans nicht nur den Interessen Russlands, welches eine der längsten Binnengrenzen der Welt mit Kasachstan teilt, sondern auch denjenigen Europas fundamental widerspricht. Staatsrat Wang Yi, der Außenminister der Volksrepublik China, bekräftigte ebenfalls die Entschlossenheit seines Landes, eine chaotische und unkontrollierbare Entwicklung der Ausschreitungen in Kasachstan zu verhindern. Als zentrale Gefahren identifiziert wurden religiöser Extremismus, territorialer Separatismus und gewaltsamer Terrorismus. Einer solchen Analyse sollten sich ebenfalls Teile der westlichen Medienlandschaft widmen, die oftmals weder über fundierte Landes- und Regionalkenntnisse, noch über einen klaren Blick auf die realen politischen Konstellationen verfügen.

Der spontanen, oft pauschalisierenden medialen Euphorie über Proteste mit vermeintlich „guten“ Beweggründen und berechtigten Anliegen sollte eine nüchterne Analyse der politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse weichen, die auch implizieren sollte, dass nicht alle Proteste immer zu wünschenswerten Resultaten und Verbesserungen des Status Quo führen. In der jüngeren Geschichte zeigen vor allem die Entwicklungen in den Ländern des Arabischen Frühlings, wie anfangs vielversprechende Protestbewegungen zum Sturz von autoritären Ordnungen hin zu noch repressiveren oder gar islamistischen Systemen führen können. Ein solches Szenario kann für keines der Länder Zentralasiens im Interesse Deutschlands und Europas liegen, denn die Folgen wären in Form neuer Migrationswellen, zunehmender Radikalisierung und einer Destabilisierung der zunehmend integrierten Region mit unvorhersehbaren Ausmaßen direkt vor der europäischen Haustür. Der Einsatz der OVKS in Kasachstan hat gezeigt, dass Russland und ebenfalls China, das zwar nicht aktiv beteiligt war, jedoch deutliche politische Unterstützung signalisierte, als primäre Ordnungsmächte in Zentralasien und damit einem fundamentalen Bestandteil Eurasiens über die Kapazitäten verfügen, Konflikte ohne Zutun des Westens zu befrieden und diese im Zweifel auch einsetzen. Eine Entwicklung wie in Georgien oder der Ukraine, von einigen Analysten bereits mit Sympathiebekundungen herbeigeschrieben, wäre für Kasachstan aufgrund dessen geopolitischer Lage nicht realistisch und auch nicht wünschenswert. Die Bedeutung des Landes als Erdöl- und Erdgaslieferant für Europa trat in den meisten Kommentaren in das Zwielicht einer anfänglichen Demonstrationseuphorie, die schnell der Ernüchterung weichen musste, dass sich die Dinge offenkundig anders entwickelten und der Konflikt auch noch mit der Unterstützung Moskaus befriedet wurde. Bedauerlicherweise übersteigt die tatsächliche Komplexität von Prozessen der internationalen Politik und insbesondere der Geopolitik die Aussagekraft von Schlagzeilen mit kurzer Halbwertszeit. Ostexperte.de bemüht sich um ein breites Meinungsspektrum. Debattenbeiträge und Kommentare müssen nicht die Sichtweise der Redaktion widerspiegeln.

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