Gemischtes Doppel #39: Hochzeit und Begräbnis

Kolumne – Gemischtes Doppel #39: Hochzeit und Begräbnis


Während meine Mutter und ich frühstücken, läuft im Fernsehen in schwarz-weiß der sowjetische Kriegsfilm „Die Kraniche ziehen“ aus dem Jahr 1957. „Es ist schon komisch,“ sagt meine Mutter, „diese alten Bilder zu sehen, während auch heute an der Front Menschen sterben.“ Wir schweigen eine Weile nachdenklich, dann fragt sie: „Findest du es eigentlich in Ordnung, dass wir gleichzeitig den Krieg und den Eurovision Song Contest haben?“

Dieselbe Frage stelle ich mir, wenn ich nun auf dem Maidan stehe, dem zentralen Kiewer Platz. Es ist der 9. Mai, der Tag des Sieges über den Faschismus. Genau vor mir ein großes Mahnmal, umgeben von Hunderten von Kerzen, hinter ihnen riesige Plakate, die Soldaten aus dem Zweiten Weltkrieg zeigen, oben ein schwarz-rotes Mohnblüten-Symbol, die Aufschrift: „Wenn wir uns erinnern, siegen wir.“

Genau gegenüber eine Ausstellung über die heutigen Donbass-Kriegsveteranen mit dem Titel „Sieger“. Links ein Banner „Freedom is our religion“, welches das während der Maidan-Revolution 2013-2014 nahezu komplett ausgebrannte und immer noch nicht renovierte Gewerkschaftshaus verdeckt. Rechts der Eingang zum „Eurovillage“, zur ESC-Lounge. Flaneure, Bier und Hotdogs, das Motto hier: „Celebrate diversity“.

Mir ist, als würde ich von einer Flut mitgerissen. Kann ein Mensch eine solche Anzahl an Zeichen überhaupt ertragen?

Kann ein Volk, das in diesem Strudel der Geschichte treibt, die Gegenwart von der Vergangenheit überhaupt noch unterscheiden? Was passiert, wenn man im laufenden Prozess einer Trauma-Bewältigung von einem neuen Trauma überwältigt wird?

Und kann es irgendwie anders laufen, als dass diese Ereignisse zu Kitsch verkommen, wenn sie derart auf einem Platz zusammen verwurstet werden? Es ist, als würde man gleichzeitig ein Begräbnis und eine Hochzeit feiern, zum Mendelssohn-Marsch eine Trauerrede halten, einen Brautstrauß in ein Grab werfen.

Das eigentliche Problem ist allerdings nicht die Kulisse des Maidan, die alles in sich vereinen will: all die Kriege und die festliche Stimmung des ESC-Halbfinales, das angeblich nur durch Zufall am 9. Mai stattfindet. Das eigentliche Problem ist, dass derzeit das ganze Leben in der Ukraine sich so ähnlich anfühlt wie dieser Platz. Ich komme mir wie die Besucherin eines Museums vor, das einer ungeheuerlichen Gleichzeitigkeit gewidmet ist.

Während auf dem Maidan all die Narrative noch friedlich koexistieren, kochen drei Kilometer von hier entfernt nahe des Park Slawy („Park des Ruhms“) die Emotionen hoch. Nationalisten prallen auf Kommunisten, geben sich gegenseitig an den Miseren der Gegenwart die Schuld. Die Soldaten der ukrainischen Nationalgarde stehen in engen Reihen zwischen den beiden Gruppen.

Auf den Straßen laufen Menschen, die ausgeblichene sepiafarbene Bilder ihrer Verwandten in die Luft halten, die im Zweiten Weltkrieg zusammen mit den Russen und anderen Sowjetbürgern gekämpft haben. Ab und zu trifft man hier aber auch Passanten, die farbige Fotos mit sich tragen. Darauf sind Soldaten der ukrainischen Armee zu sehen, die in den letzten drei Jahren im Osten des Landes gefallen sind, in einem Krieg gegen die Russen und ihre Unterstützer.

Eine junge Frau in einem beigefarbenen Mantel, etwas unsicher auf ihren hohen Absätzen, hält ein rotes Fähnchen mit der Aufschrift „9. Mai“ in der Hand. Etwas verwirrt murmelt sie: „Soweit ich das sehe, ist das die Ukraine.“ Hinter ihr im sattgrünen Gras prangt der aus Blumen geformte Schriftzug „Eurovision“.

Ich frage mich wieder, ob ich das in Ordnung finde. Doch schon diese Frage impliziert, man hätte vielleicht auf den ESC verzichten müssen, weil ein Songcontest in diesem Land nicht zeitgemäß ist. Als wäre ausgerechnet ein Liederwettbewerb dafür verantwortlich, dass die dramatische Gleichzeitigkeit in diesem Land sich so grotesk anfühlt. Nein, der ESC ist es nicht. Ich hätte viel lieber auf den Krieg verzichtet.


Im Gemischten Doppel geben Inga Pylypchuk (Ukraine) und Maxim Kireev (Russland) im wöchentlichen Wechsel persönliche (Ein)-Blicke auf ihre Heimatländer.

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