Was wurde aus dem neuen Zeitalter? Ein Blick in die Vergangenheit
Vor genau drei Jahrzehnten unterzeichneten alle europäischen Staaten, inklusive der Sowjetunion, der USA und Kanada die „Charta von Paris“, mit der der Kalte Krieg feierlich beendet wurde – oder etwa doch nicht? In der Retrospektive können einem da Zweifel kommen.
Am 21. November jährt sich wieder ein epochales Ereignis, das – bezeichnenderweise – völlig zu Unrecht in Vergessenheit geraten ist. Vor genau 30 Jahren wurde mit der „Charta von Paris“ feierlich der Kalte Krieg für beendet erklärt. Zur Erinnerung: Als an diesem Tag im November 1990 das Schlussdokument der KSZE-Sondergipfelkonferenz von 32 europäischen Staaten sowie den USA und Kanada in Paris unterzeichnet wurde, war Deutschland gerade mal anderthalb Monate wiedervereinigt. Neben der NATO existierte noch der Warschauer Pakt, außerdem die Vielvölkerstaaten Sowjetunion und Jugoslawien. Und auch die Tschechoslowakei war noch nicht glücklich geschieden.
„Ein neues Zeitalter des Friedens“
Liest man dieses bemerkenswerte Dokument heute nochmals und vergegenwärtigt man sich die Hoffnungen, die damals im Hinblick auf ein kommendes Zeitalter des Friedens, der Kooperation und der Überwindung der Teilung Europas allerorten blühten – dann kommen einem, je nach Temperament, entweder die Tränen oder die Wut steigt auf. Man lasse sich nur einmal folgende Sätze auf der Zunge zergehen:
„In Übereinstimmung mit unseren Verpflichtungen gemäß der Charta der Vereinten Nationen und der Schlußakte von Helsinki erneuern wir unser feierliches Versprechen, uns jeder gegen die territoriale Integrität oder politische Unabhängigkeit eines Staates gerichteten Androhung oder Anwendung von Gewalt zu enthalten. Wir erinnern daran, daß die Nichterfüllung der in der Charta der Vereinten Nationen enthaltenen Verpflichtungen einen Verstoß gegen das Völkerrecht darstellt. Wir bekräftigen unser Bekenntnis zur friedlichen Beilegung von Streitfällen. Nun, da die Teilung Europas zu Ende geht, werden wir unter uneingeschränkter gegenseitiger Achtung der Entscheidungsfreiheit eine neue Qualität in unseren Sicherheitsbeziehungen anstreben. Sicherheit ist unteilbar, und die Sicherheit jedes Teilnehmerstaates ist untrennbar mit der aller anderen verbunden. Wir verpflichten uns daher, bei der Festigung von Vertrauen und Sicherheit untereinander sowie bei der Förderung der Rüstungskontrolle und Abrüstung zusammenzuarbeiten.“
Schauen wir uns an, was allein in Europa aus diesen großen Hoffnungen geworden ist.
Ein Zeitalter des Friedens? Achtung der staatlichen territorialen Integrität? Bereits neun Monate nach der Unterzeichnung der Pariser Charta begannen die Kriege auf dem Territorium Jugoslawiens mit rücksichtslosen ‚ethnischen Säuberungen‘ und dem Massaker von Srebrenica, wie es die Welt seit Hitlers Einsatzgruppen im II. Weltkrieg nicht mehr gesehen hatte. Sechseinhalb Jahre tobt mittlerweile in der Ostukraine ein blutiger Stellvertreterkrieg, der bereits über 13.000 Menschen das Leben gekostet hat! Ende September dieses Jahres ist zudem im Südkaukasus der Krieg um Berg-Karabach in aller Brutalität wieder aufgeflammt. Für den Fall einer Invasion Aserbaidschans drohen Massenvertreibungen, Zerstörungen von jahrhundertealten Kulturgütern und Massaker bis an den Rand eines neuen Genozids.
Ein Zeitalter der Kooperation? Sanktionen und Gegensanktionen blockieren die wirtschaftlichen Beziehungen zwischen der EU und Russland. Europäische Union und Eurasische Union, eigentlich ideale Kooperationspartner, stehen einander zunehmend feindselig gegenüber – zum Schaden für alle Beteiligten.
Überwindung der Teilung Europas? Heute markiert die Grenze zwischen osterweiterter NATO und wiedererstarktem Russland die neue Spaltung Europas, die zugleich durch eine zweite „Berliner Mauer“ zwischen der Ukraine und Russischer Föderation wortwörtlich zementiert wird – dieses Mal von Seiten des Westens!
„Förderung der Rüstungskontrolle und Abrüstung“
Rüstungskontrolle und Abrüstung? Beide Seiten modernisieren gegenwärtig ihre atomaren Arsenale. Der ABM-Vertrag, der in der Logik der atomaren Abschreckung die wechselseitige Zweitschlagskapazität sicherte, wurde Ende 2001 von den USA einseitig gekündigt. Stattdessen wird ein Raketenabwehrsystem (Aegis), das sich angeblich nicht gegen Russland richten soll, u.a. unmittelbar vor der russischen Haustür stationiert. Der A-KSE-Vertrag, der die Abrüstung konventioneller Waffen in Europa regeln sollte, wurde von allen Nachfolgestaaten der Sowjetunion ratifiziert – von den NATO-Staaten jedoch nicht, sodass Russland nach drei NATO-Osterweiterungen im Dezember 2007 entnervt die Umsetzung des Vertrages aussetzte und ihn im März 2015 schließlich kündigte. Der INF-Vertrag, in dem Gorbatschow und Reagan Ende 1987 die vollständige Vernichtung einer ganzen Waffengattung – aller landgestützten Mittel- und Kurzstreckenraketen einer Reichweite von 500 bis 5.500 Kilometern – beschlossen und damit die akute Atomkriegsgefahr für den europäischen Kontinent über drei Jahrzehnte lang gebannt hatten, ist auf Initiative der USA seit Sommer letzten Jahres Makulatur, wodurch sich die Sicherheit Europas drastisch verschlechtert hat.
Vor wenigen Monaten stiegen die USA auch noch aus dem Open Skies-Vertrag aus, der durch wechselseitige kontrollierte Überflugsrechte den Vertragsparteien ‚Glasnost‘ ermöglicht und damit der Vertrauensbildung dient. Äußerst gefährdet sind zudem der populär ‚Atomwaffensperrvertrag‘ genannte Nichtverbreitungsvertrag von Kernwaffen (NVV); der bislang lediglich von den Atommächten Russland, Großbritannien und Frankreich ratifizierte Vertrag über das umfassende Verbot von Atomtests – die USA erwogen erst kürzlich, Mitte Mai „als Warnung an Russland und China“ erstmals seit 1992 wieder Atombombentests vorzunehmen – und der New-START-Vertrag, der die Zahl der amerikanischen und russischen Atomsprengköpfe auf je 1.500 und die der Trägersysteme auf je 800 begrenzt.
Und über ein Vierteljahrhundert nach der Wiedervereinigung, die nicht zuletzt durch das konstruktive kompromissbereite Handeln der damaligen Sowjetadministration möglich geworden war, stehen deutsche Soldaten wieder an der Grenze zu Russland. Dieses Mal im integrierenden Rahmen der NATO.
Was für eine Jahrhundertchance wurde da fahrlässig verspielt!
Und wie konnte es dazu kommen?
Das Comeback des alten Denkens
Die Geschichte ist im Wesentlichen bekannt, sodass die Headlines bzw. „Meilensteine“ hier genügen müssen. Was auch immer US-Außenminister Baker im Februar 1991 bei den Verhandlungen im Zuge der deutschen Wiedervereinigung Michail Gorbatschow versprochen haben mag oder nicht – die Erzählungen darüber gehen ja auseinander – alle Seiten wären bestens beraten gewesen, die „Charta von Paris“ zum Anlass für eine völlig neue transatlantische Sicherheitsstruktur unter gleichberechtigter Einbeziehung der damals noch existierenden Sowjetunion zu nehmen. Als sich wenig später der Warschauer Pakt auflöste und Ende 1991 die Sowjetunion zerfiel, war diese Vision für den Westen schon keine Option mehr. Statt sich selbst ebenfalls aufzulösen, erweiterte die NATO sich im Verlauf der folgenden anderthalb Jahrzehnte – anfangs noch halbherzig auf Russland Rücksicht nehmend, später auch das nicht mehr – nicht nur bis an Russlands Grenzen heran, sondern wandelte sich zugleich immer mehr vom Kriegsverhinderungs– zu einem Kriegsführungsbündnis – dazu beim ersten Out of Area-Einsatz, gegen die Bundesrepublik Jugoslawien, gleich ohne völkerrechtliches Mandat!
Ähnliches wiederholte sich im Frühjahr 2003 bei dem von den USA und ihrer „Koalition der Willigen“ geführten, mit Lügen begründeten Krieg gegen den Irak. Die vielfachen Vorschläge Russlands zum Aufbau einer neuen transatlantischen Sicherheitsstruktur – zuletzt vom damaligen Präsidenten Medwedew, der im Herbst 2008 eine neue euroatlantische Friedenscharta von Vancouver bis Wladiwostok anregte – wurden gar nicht erst ernsthaft diskutiert. Russische Bedrohungsängste wurden sowohl bei den bisherigen vier NATO-Osterweiterungen als auch beim sogenannten Raketenabwehrschild wie bei der Diskussion um einen möglichen NATO-Beitritt Georgiens und der Ukraine als angeblich hysterisch und unbegründet vom Tisch gewischt.
„Sicherheit ist unteilbar“
Michail Gorbatschow hatte seinerzeit ein dem Atomzeitalter angemessenes „Neues Denken“ proklamiert und seine Außen- und Abrüstungspolitik danach ausgerichtet. In die „Charta von Paris“ hat dieses Neue Denken unter anderem in der Formulierung „Sicherheit ist unteilbar, und die Sicherheit jedes Teilnehmerstaates ist untrennbar mit der aller anderen verbunden“ Eingang gefunden. Offenbar ist dieses Neue Denken vor allem auf Seiten des Westens nie wirklich verinnerlicht worden, sodass der russische Präsident Wladimir Putin sich bereits im Herbst 2001 in seiner Rede vor dem deutschen Bundestag bitter beklagte: „Wir leben weiterhin im alten Wertesystem. Wir sprechen von einer Partnerschaft. In Wirklichkeit haben wir aber immer noch nicht gelernt, einander zu vertrauen. Trotz der vielen süßen Reden leisten wir weiterhin heimlich Widerstand.“
Neues Denken, im Atomzeitalter die Basis jeglichen Vertrauens, hätte bedeutet: Abschied vom Unilateralismus, Abschied vom Gerangel um geopolitische Einflusssphären, Abschied vom Rivalisieren um Rohstoffe – mit einem Wort: Schluss mit dem Denken und Handeln in den Kategorien des Nullsummenspiels, bei dem der Gewinn der eigenen Seite zwingend den Verlust der anderen Seite bedeutet! Stattdessen: Fokussieren auf die gemeinsamen Interessen, auf das Überleben der Menschheit!
Anstelle eines Bemühens um gemeinsame Sicherheit dominiert heute wieder wie vor 35 Jahren eine Politik des alten Denkens, die darauf hinausläuft, Russland einen neuen Rüstungswettlauf aufzuzwingen. Ein erschreckendes Resultat dieser Entwicklung: Die „Charta von Paris“ – ein beispielloses Dokument der Humanität – wird mittlerweile in einigen russischen Kreisen als „Dokument der Unterwerfung“ betrachtet.
Sind wir auf dem Weg in einen neuen Kalten Krieg?
Ich fürchte, nein! Es sieht so aus, als hätte der Erste nie richtig aufgehört!
Dieser Text erschien zuerst bei Telepolis.
OSCE (CC BY 2.0) [/su_spoiler] ^*^