Neue Wachstumsprognosen für die russische Wirtschaft

IWF dämpft Wachstumsoptimismus – Kudrin nährt Hoffnungen

Am 18. April veröffentlichte der Internationale Währungsfonds bei seiner Frühjahrstagung den neuen „World Economic Outlook“.

Seine Prognose für das Wachstum der russischen Wirtschaft hob der IWF zwar von 1,1 Prozent auf 1,4 Prozent an. Er dämpfte aber Erwartungen, die Erholung der russischen Wirtschaft werde sich 2018 weiter beschleunigen. Auch im nächsten Jahr rechnet der Fonds nur mit einem Anstieg der gesamtwirtschaftlichen Produktion um 1,4 Prozent.

Keine vollständige Erholung von der Rezession bis Ende 2018

Russland würde damit die Einbußen von 2 Jahren Rezession (2015: – 2,8 Prozent, 2016: – 0,2 Prozent) auch 2018, im Jahr der Präsidentenwahl, nicht ganz ausgleichen können.

Der IWF glaubt – wie viele andere Beobachter – offenbar nicht daran, dass die russische Regierung für mehr Wachstum erforderliche Reformen durchführen wird. Um die mittelfristigen Wachstumsaussichten zu verbessern, seien eine stärkere Diversifizierung der Wirtschaft, beschleunigte institutionelle Reformen und ein besseres Geschäftsklima erforderlich, meint der Fonds im Kapitel „Country-Specific Priorities“. Auch die mittelfristige Wachstumsrate bis 2022 schätzt er weiterhin auf nur 1,5 Prozent.

In einem TASS-Interview lobte IWF-Präsidentin Lagarde jedoch erneut, wie die russische Regierung und die Zentralbank mit umfassenden finanz- und geldpolitischen Maßnahmen, insbesondere der Freigabe des Wechselkurses, auf den drastischen Einbruch der Ölpreise reagiert haben:

„They took the right fiscal measures. They kept inflation under control. They adopted a very good monetary policy, which included the floating of the currency, making sure that the financial sector was stable.“

Wirtschaftsminister Oreschkin rechnet mit mehr Wachstum als der IWF

Maxim Oreschkin, seit rund einem halben Jahr Russlands Wirtschaftsminister, hatte seine neuen Szenarien für die sozio-ökonomische Entwicklung Russlands bis zum Jahr 2020 erstmals am 06. April in einer Pressekonferenz erläutert (Video mit Charts; Ostexperte.de berichtete). Eine Woche später stellte er sie auch im Regierungskabinett vor (Redetext+Video). Die vom Kabinett beschlossenen Szenarien werden jetzt Grundlage für die weiteren Beratungen bei der Planung des Staatshaushalts sein.

Die Regierung geht mit Oreschkin davon aus, dass sich das Wachstum der russischen Wirtschaft bereits in diesem Jahr auf 2 Prozent beschleunigt. Analysten-Umfragen lassen hingegen – wie die IWF-Prognose – eine deutlich schwächere Erholung erwarten (FocusEconomics Consensus: + 1,3 Prozent).

Izvestia berichtet, führende russische Banken würden sogar für 2017 im Durchschnitt nur etwa ein Prozent Wachstum erwarten (Vnesheconombank: 0,6 bis 0,8 Prozent, Alfa Bank und Gazprombank: 1 Prozent; Sberbank: 1,2 Prozent).

Oreschkin verwies in seiner Kabinettsrede auf Risiken für das Wachstum durch die geldpolitische Entwicklung. Die Realzinsen seien in Verbindung mit einer deutlichen Aufwertung des Rubel gestiegen. Bleibe es bei diesen Bedingungen dürfte sich nach seinen Schätzungen das Wachstum um die Jahresmitte abschwächen und die Inflationsrate am Jahresende unter 3 Prozent sinken.

Davon gehe das Basisszenario der Regierung aber nicht aus. Das Wachstum der Importe und eine saisonale Verschlechterung der Zahlungsbilanz würden vielmehr in den Sommermonaten ein Defizit in der Leistungsbilanz entstehen lassen. Vorbedingungen für eine Abschwächung des Rubel seien dann gegeben. Als Resultat erwarte er im Basisszenario einen Rückgang der Inflationsrate auf 3,8 Prozent.

Angenommen wird ein Rückgang des Urals-Ölpreises auf 40 Dollar

Während die Regierung in früheren Jahren in ihrem „Basisszenario“ für die Haushaltsplanung zur Eingrenzung von Risiken von niedrigeren Ölpreisen ausgegangen ist als in dem von der Regierung angestrebten „Ziel-Szenario“, werden jetzt im „Zielszenario“ ebenso niedrige Ölpreise wie im „Basisszenario“ erwartet.

Für das laufende Jahr rechnet die Regierung damit, dass der Urals-Ölpreis bis zum Jahresende deutlich sinkt. Im Jahresdurchschnitt soll er 46,5 Dollar/Barrel betragen. Für die Jahre 2018 bis 2020 erwartet die Regierung einen bei real rund 40 Dollar stagnierenden Ölpreis (nominal steigt er bis 2020 mit der in den USA erwarteten Inflationsrate auf 42,4 Dollar).

Rubel-Abwertung als „Wachstumstreiber“? Kritik von Wirtschaftsforschern

Als „Wachstumstreiber“ setzt die Regierung offenbar auf eine Abwertung des Rubel, die russische Exporte preislich wettbewerbsfähiger machen könnte. Während für den Jahresdurchschnitt 2017 ein Wechselkurs von 64,2 Rubel je Dollar erwartet wird, sollen im Jahr 2020 im „Basisszenario“ für einen Dollar russische Waren im Wert von  72,7 Rubel und im „Zielszenario“ für 71,8 Rubel zu haben sein.

Deutliche Kritik an dieser „Abwertungspolitik“ kam bereits in der letzten Woche vom Gaidar-Institut (IEP) und von Vladimir Mau, Rektor der Akademie für Volkswirtschaft und öffentlichen Dienste (RANEPA).

Ausgangspunkt der Argumentation der Wissenschaftler ist die neue Prognose des Gaidar-Instituts. Es erwartet, dass sich bei im Jahresdurchschnitt kaum veränderten Wechselkursen das Wachstum der russischen Wirtschaft von 1,2 Prozent in diesem Jahr auf 1,8 Prozent im Jahr 2018 beschleunigt.

Bei einer „Abwertungspolitik“, die den Wechselkurs im laufenden Jahr nicht bei 59,2 Rubel/Dollar hält, sondern auf 64,8 Rubel/Dollar sinken lässt, würde nach Einschätzung des Gaidar-Instituts 2017 zwar mit 1,4 Prozent ein etwas stärkeres Wachstum erreicht. Durch Abwertung sei aber nur ein kurzfristiger Wachstumsgewinn möglich. Wenn sich die Abwertung 2018 fortsetze (Wechselkurs 70 Rubel/Dollar) werde dieser Gewinn bereits aufgezehrt. Statt um 1,8 Prozent werde die Wirtschaft dann nur um 1,5 Prozent zulegen.

Vor allem werde die Abwertung die Preise treiben. Das Inflationsziel von 4 Prozent sei dann nicht erreichbar. 2017 werde sich die Inflationsrate auf 6,1 Prozent erhöhen und 2018 5,7 Prozent betragen. Die Zentralbank werde die Zinsen bei dieser Wechselkursentwicklung wieder erhöhen müssen.

RANEPA-Rektor Vladimir Mau, unter anderem auch Mitglied im Gazprom-Aufsichtsrat, betonte in der Pressekonferenz zur Veröffentlichung der Prognose, strukturelle Probleme könnten nicht mit geldpolitischen Mitteln gelöst werden. Ein Wechsel der geldpolitischen Strategie werde das Vertrauen der Wirtschaftsakteure in die Verlässlichkeit der Geldpolitik negativ beeinflussen. Langfristig Wachstum zu erreichen, erfordere einen strukturellen Wandel und Investitionen in Humankapital, moderne Technologien und Infrastruktur. Das Investitionsklima und die staatlichen Institutionen müssten verbessert werden.

Kudrin ist noch zuversichtlicher als Regierung – bei Umsetzung von Reformen

Der frühere Finanzminister Alexei Kudrin, Leiter des „Center for Strategic Research (CSR)“, der von Präsident Putin beauftragt wurde, bis zum Mai Vorschläge für wirtschaftspolitische Reformen vorzulegen, warb bei der Tagung der Moskauer Wirtschaftsuniversität „Higher School of Economics“ in der Woche vor Ostern ebenfalls erneut für umfassende Reformen.

Ein Vergleich der Prognosen in seinem Zielszenario mit den Prognosen des Wirtschaftsministeriums, den er in seinem Vortrag präsentierte, zeigt: Kudrin glaubt zwar nicht wie Oreschkin, dass schon in diesem Jahr 2 Prozent Wachstum erreicht werden können. Werden aber umfassende Reformen eingeleitet, kann sich das Wachstum nach seiner Meinung 2018 auf 2,7 Prozent beschleunigen und 2020 sogar 3,6 Prozent erreichen.

Wachstumsprognosen in den Zielszenarien des russischen Wirtschaftsministeriums (blau) und von Alexei Kudrin/Center for Strategic Research (grün):

Wachstumsprognosen in den Zielszenarien des russischen Wirtschaftsministeriums (blau) und von Alexei Kudrin/Center for Strategic Research (grün)
Quelle: Alexei Kudrin (CSR): Barriers and Incentives; Center for Strategic Research, 11.04.2017

Wachstumsprognosen 2016 bis 2018 im Vergleich

Schätzung des Bruttoinlandsprodukts, real gegenüber dem Vorjahr, angegeben in Prozent (Stand: 20. April 2017)
InstitutDatum201620172018
IWF2017/04/18-0,21,41,4
Gaidar Institut; Wachstum im
Szenario „stabiler Rubel“
bei steigendem Ölpreis
2017/04/17-0,2 (67,0 Rbl/$);
(43,0 $/b)
1,2 (59,2 Rbl/$); (50 $/b)1,8 (57,7 Rbl/$); (60 $/b)
Gaidar Institut; Wachstum im
Szenario „Rubel-Abwertung“
bei steigendem Ölpreis
2017/04/17-0,2 (67,0 Rbl/$);
(43,0 $/b)
1,4 (64,8 Rbl/$); (50 $/b)1,5 (70 Rbl/$); (60 $/b)
„Gemeinschaftsdiagnose“ dt. Institute2017/04/13-0,21,31,5
Commerzbank, Frankfurt2017/04/13-0,21,32,0
Berenberg Bank, Hamburg2017/04/13-0,21,72,1
OPEC Oil Market Report2017/04/12-0,21,2
Center Strategic Research (Kudrin); Szenario „keine Reformen“2017/04/11-0,21,71,8
Center Strategic Research (Kudrin); Ziel-Szenario „Reformen“2017/04/11-0,21,72,7
Eurasian Development Bank2017/04/11-0,20,81,4
Economist-Umfrage2017/04/071,41,7
Deutsche Bank, Frankfurt2017/04/06-0,21,62,0
Wirtschaftsministerium,
Wachstum im Basis-Szenario: Rubel-Abwertung bei real stagnierendem Ölpreis (40 $/b)
2016/04/06-0,2 (66,9 Rbl/$);
(41,7 $/b)
2,0 (64,2 Rbl/$);
(45,6 $/b)
1,5 (69,8 Rbl/$);
(40.8 $/b)
Wirtschaftsministerium, Wachstum im Ziel-Szenario: Rubel-Abwertung bei real stagnierendem Ölpreis (40 $/b)2016/04/06-0,2 (66,9 Rbl/$);
(41,7 $/b)
2,0 (64,2 Rbl/$);
(45,6 $/b)
1,7 (69,6 Rbl/$);
(40.8 $/b)
Reuters Poll2016/04/051,21,6
FocusEconomics Consensus2016/04/04-0,21,31,7
Fitch Ratings2017/03/31-0,21,42,2
Deka Bank, Frankfurt2017/03/31-0,21,21,4
Danske Bank2017/03/31-0,21,21,4
BOFIT, Bank of Finland2017/03/30-0,21,51,5
Euler Hermes, Paris2017/03/30-0,21,31,6
ACRA Rating Agency2017/03/28- 0,20,50,6
Raiffeisen Bank International, Wien2017/03/27-0,21,01,5
Konsensus (laut RBI Wien)2017/03/27-0,21,11,5
Russische Zentralbank,
Basis-Szenario
2016/03/24-0,2 (42 $/b)1,0 bis 1,5 (50 $/b)1,0 bis 1,5 (40 $/b)

http://www.factosphere.com bietet ständig aktualisierte Hinweise auf Prognosen


Lesetipps zur russischen Wirtschaft:

Internationaler Währungsfonds: World Economic Outlook; 18.04.2017

TASS-Interview: IMF’s Lagarde: Russian economy gets back into ‘positive territory’; 18.04.2017

Kritik russischer Forschungsinstitute an „Abwertungsstrategie“ der Regierung;
Prognose des Gaidar-Instituts:

Dmitry Butrin: … cheap ruble policy can be implemented only in words; Kommersant, 18.04.2017

Anton Feinberg: Economists criticize weak ruble policy; rbc.ru, 17.04.2017

Gaidar Institut (IEP): Prognose 2017-2018; +Video der Pressekonferenz, 17.04.2017

Prognosen von VEB, Sberbank, Alfa Bank, Gazprombank im Vergleich mit MED-Prognose:

Izvestia: Vnesheconombank VEB argued with Economic Development Ministry forecast; 19.04.2017

Russisches Wirtschaftsministerium: Prognose der sozioökonomischen Entwicklung bis 2020;

Präsentation von Wirtschaftsminister Maxim Oreschkin im Kabinett am 13.04.2017: Video (7 Min.), Charts und Redetext; Präsentation in der Pressekonferenz am 06.04.2017: Video (26 Min.) + Charts;

N. Makeev: Minister of MED urged the Central Bank to bring down the ruble; 15.04.2017

1prime.ru: Oreshkin: Keeping a strong ruble can slow the growth of the Russian economy; 13.04.2017

forbes.ru asked economists: Oreshkin and the ruble: Can we trust the MED-forecast? 14.04.2017

Tikhomirov (BCS): … growth and inflation … will be worse than the forecasts of the Cabinet; 14.04.

Anton Feinberg, Anna Mogilevskaya et al.: Oreshkin gave Central Bank a signal …; rbc.ru, 13.04.2017

Olga Tanas: Fixing Russia’s Growth for Economists Takes One Ruble at a Time; Bloomberg, 11.04.17

Klaus Dormann: Russischer Wirtschaftsminister sieht 2 Prozent Wachstum; Ostexperte, 09.04.2017

Vestifinance: Neue Prognose des Wirtschaftsministeriums; 06.04.17

TASS: Russian Economy Ministry expects oil prices to drop to $40 per barrel; 06.04.2017

nsn.fm: Yasin does not see the growth promised by Oreshkin; 05.04.2017

Kudrin-Szenarien bei Konferenz der Higher School of Economics (HSE) am 11. April

Alexei Kudrin (CSR): Barriers and Incentives; Vortrag mit Charts, CSR, 11.04.2017

Alexei Kudrin: The main obstacles facing the domestic economy; akudrin.ru, 11.04.2017

Anton Feinberg: Kudrin called main obstacles to growth of the Russian economy; rbc.ru, 11.04.17

Anton Feinberg: „The more money, the better“; HSE- conference; rbc.ru, 11.04.2017

Titelbild
Alexei Leonidowitsch Kudrin ist ein russischer Politiker. Von Mai 2000 bis zum September 2011 war er Finanzminister der Russischen Föderation. Seit Juni 2016 ist er im Wirtschaftsrat beim Russischen Präsidenten. Fotoquelle: kremlin.ru[/su_spoiler]