Russki Extrem – Wie ich lernte, Moskau zu lieben | Teil 1 von 2

Auch zwei Jahrzehnte nach dem Ende des Kommunismus ist das Leben in Russland extrem. Doch als langjähriger Moskau-Korrespondent hat Boris Reitschuster das «russische Savoir vivre» verinnerlicht: Er grüßt seine Nachbarn nicht mehr, weil er nicht wie ein Alien angeschaut werden will. Er flucht wie Wladimir Putin und bremst nicht mehr für Fußgänger.

Er hat gelernt, Unmengen von Wodka zu trinken, in der Sauna seine Badehose anzulassen, auch die Hochzeit von Wildfremden gebührend zu feiern, sein Auto mit einer Politur aus Hühnerblut gegen Diebstahl zu schützen und für eine schöne Operationsnaht ein paar Rubel extra springen zu lassen: Kurz, er ist kein deutsches Weichei mehr. Eine dringend notwendige Gebrauchsanweisung für das (Über-)Leben in Russland und eine liebevolle Hommage an seine wunderbaren Menschen.

Schlendrian als Tugend

Der Russen Trumpf im Arbeitsleben ist die Anpassungsfähigkeit. So erlebte ich mit eigenen Augen, wie die gesamte Belegschaft eines Großunternehmens fleißig bis 22 Uhr arbeitete – oder sagen wir vorsichtiger: an den Computern saß -, weil der Generaldirektor in seinem Büro Überstunden machte. Und wie die gleichen emsigen Mitarbeiter am nächsten Vormittag um 11 Uhr in den Feierabend flüchteten, als hätten die Ferien begonnen, weil ihr Generaldirektor seinen Arbeitstag vorzeitig beendet hatte.

Auch Teamarbeit wird großgeschrieben. Ein beeindruckendes Spektakel ist es, wenn alle Jahre wieder vor meiner Wohnung die Parkplatz-Markierungen neu gestrichen werden. Sechs Meister sind an den zwei Dutzend Stellplätzen zwei Tage lang am Werk. Wobei ich trotz intensiver Beobachtung noch nie Augenzeuge wurde, dass mehr als einer der sechs auch tatsächlich Hand anlegte und markierte. Fünf schienen ausschließlich als Berater, Aufseher oder Aufheiterer im Einsatz – und dabei so erfolgreich, dass die meiste Zeit alle sechs in trauter Eintracht auf dem Bordstein saßen, rauchten und diskutierten.

Ein weiteres heiliges Prinzip scheint die bloße Präsenz zu sein – frei nach dem Motto: “Ich werde gesehen, also arbeite ich.” So verhält es sich in jedem Fall mit Putzdiensten. In keinem Land der Welt habe ich auf Flughäfen, Bahnhöfen und öffentlichen Gebäuden so viele “Reinigungskräfte” im Einsatz gesehen wie in Russland. Plagt einen fernab von zu Hause ein menschliches Bedürfnis, muss man zu 50 Prozent davon ausgehen, dass das rettende Örtchen gerade für “Putzarbeiten” geschlossen ist. Merkwürdig nur, dass die Anzahl der Reinigungskräfte und die Sauberkeit oft umgekehrt proportional zu sein scheinen.

Auch das Motto der drei Musketiere hat in Moskau eine neue Heimat gefunden – zumindest ein Teil davon: Motto “Einer für alle”. Ich kann mich nicht erinnern, wann ich von den zwei Diensthabenden, die eigentlich in unserem Bürohaus ständig Wache schieben sollten, beide gleichzeitig an Ort und Stelle erlebt habe. Noch tiefer zurück in meiner Vergangenheit liegt der Tag, an dem ich zum letzten Mal einen Beamten an seinem Diensttelefon erreichte. Unauffälligkeit scheint die Tugend Nummer eins unter den Beamten zu sein: Wer erreichbar ist, könnte ja den Verdacht erwecken, er sei nicht beschäftigt. Die Pressestellen mancher Behörden scheinen sich einen regelrechten Wettkampf darin zu leisten, wer für Jornalisten am schwierigsten zu erreichen ist.

Im Dienstleistungssektor gilt als wichtigster Dienst am Kunden, dessen Geduld zu trainieren. Ob Wechselstuben, Kioske, Reisebüros und Telefon-Hotlines – bei ihren Mitarbeitern scheint ganz oben im Dienstplan zu stehen, dass sie so lange wie möglich “aus technischen Gründen” ihren Arbeitsplatz zu verlassen haben – wobei der “technische Grund” oft in einer Rauchpause oder einem dringend notwendigen Plausch mit der Verkäuferin aus dem Nachbarladen zu bestehen scheint.

In den ersten Monaten oder gar Jahren ärgern sich viele ignorante Ausländer über derartiges Ungemach. Mit der Zeit lernen sie die Kehrseite der Medaille kennen – und schätzen. Wo sonst auf der Welt würde sich ein hochrangiger Regierungsbeamter Zeit für ein ausschweifendes Mittagessen mit einem Ausländer nehmen? Wo kann man mal nach Herzenslust bei Rot über die Ampel fahren, weil der Verkehrspolizist gerade eine “technische Pause” macht? Wo kann man sich wochenlang mit der Bezahlung einer Rechnung Zeit lassen und sich dann herausreden, dass man telefonisch niemanden erreicht hat?

Die hohe Kunst des Russland-Verstehens ist es, die etwas andere Arbeitsmoral nicht als Ärgernis, sondern als Bereicherung aufzufassen. Während die Deutschen leben, um zu arbeiten, arbeiten die Russen, um zu leben, meint der Fotograf Igor hämisch: “Ich würde mich zwar nie in ein russisches Auto setzen, viel lieber in ein deutsches. Aber auf ein Bier hocke ich mich viel lieber mit Russen zusammen als mit Deutschen. Wir bauen die schlechteren Wagen, aber wir sind dafür weniger spröde, phantasievoller und witziger.” Das Dumme ist nur, dass nur die wenigsten so wie Igor die “Rosinen”aus beiden Systemen herauspicken können.

Über den Autor:

Boris Reitschuster ist geborener Augsburger und gelernter Russe. Nach dem Abitur zog er mit zwei Koffern nach Moskau und schlug sich als Deutschlehrer und Dollmetscher durch. Er volontierte bei der Augsburger Allgemeinen, schrieb für dpa und AFP und übernahm 1999 die Leitung des Moskauer Focus-Büros. 2008 wurde er mit der Theodor-Heuss-Medaille ausgezeichnet. Seine hochgelobten politischen Sachbücher “Putins Demokratur” (2006) und die Medwedew-Biographie “Der neue Herr im Kreml?” (2008) erschienen bei Econ. Sein neuestes Buch heißt  „Russki Extrem – Wie ich lernte, Moskau zu lieben“ und ist im Ullstein Verlag unter der ISBN 978-3-550-08766-0 erschienen.

Autor: Boris Reitschuster | Leiter des Moskauer Büros des FOCUS-Magazins,  für Ostexperte – Das Fachmagazin zum Russlandgeschäft | Expertentipps für Ihr Russlandgeschäft.

Dieser Text ist ein Auszug aus Boris Reitschusters “Russki Extrem – Wie ich lernte, Moskau zu lieben” von 2009. Nähere Informationen finden Sie hier: