Wie Russland über seine Wirtschaftspolitik diskutiert

Russische Wirtschaftspolitik in der Diskussion: Mehr Markt für mehr Wachstum?

Russland verharrt voraussichtlich auch 2016 in der Rezession. Davon geht sogar die russische Regierung aus. 2017 wird zwar von fast allen Beobachtern die Wende zum Wachstum erwartet. Die russische Wirtschaft dürfte sich vom Rückschlag der Jahre 2015 und 2016 aber gemessen an früher erreichten Wachstumsraten nur sehr langsam erholen.

Wie weit Reformen gehen müssen, um stetiges kräftiges Wachstum zu erreichen, ist umstritten. Nachstehend einige Hinweise auf von der Regierung geplante Maßnahmen und kritische Kommentare von Analysten und Wissenschaftlern zur russischen Wirtschaftspolitik.

Priorität der Regierung: Stabile Finanzen ohne Steuererhöhungen bis 2018

Ministerpräsident Medwedew erwähnte in der Duma am 19. April bei seinem Jahresbericht 2015 zwar die Notwendigkeit tiefgreifender struktureller Reformen. Sie dürften aber nicht überstürzt erfolgen und auf Kosten des Volkes gehen. Bis 2018 werde es keine Steuererhöhungen geben (was angesichts der bevorstehenden Parlamentswahlen auch überrascht hätte).

Russische Wirtschaftspolitik in der Diskussion
Das russische Finanzministerium in Moskau.

Um neue Geldquellen für den Haushalt zu erschließen, hatte Medwedew einen Tag zuvor allerdings verfügt, dass Staatsunternehmen künftig mindestens 50 Prozent ihres Gewinns als Dividende ausschütten müssen (bisher 25 Prozent). Die Regierung erhofft sich davon Mehreinnahmen von 100 Milliarden Rubel (1,3 Milliarden Euro). Zur Finanzierung großer Infrastrukturprojekte sollen Mittel aus dem Wohlfahrtsfonds genutzt werden.

Medwedew betonte, das Budgetdefizit werde weiterhin auf einem „sicheren Niveau“ gehalten. 2015 hatte es auf 2,4 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) begrenzt werden können. Auch Finanzminister Siluanow bestätigte am Mittwoch als sein zentrales Ziel, das Haushaltsdefizit bei drei Prozent des BIP zu stabilisieren.

Ob dies gelingt, wird hauptsächlich von der Entwicklung des Ölpreises abhängen. Der ehemalige Finanzminister Kudrin meinte in dieser Woche, das Defizit werde sich selbst bei einem Anstieg des Ölpreises auf 50 Dollar auf 4,5 bis 5 Prozent des BIP verdoppeln.

Kritik von Analysten und Wissenschaftlern

Analysten wie Nadia Kazakova von der Saxo-Bank gewinnen inzwischen aber den Eindruck, die Regierung gehe wegen der Erholung der Ölpreise auf über 40 Dollar wohl davon aus, das Schlimmste sei vorüber. „Business as usual“ sei wieder angesagt, ein „Plan B“ für einen erneuten Einbruch der Ölpreise sei nicht erforderlich.

Noch deutlich kritischer äußerten sich russische Ökonomen auf einer Veranstaltung der österreichischen Industriellenvereinigung am 7. April in Wien. Wladislaw Inosemzew von der staatlichen Moskauer Lomonossow Universität meinte: “Die Regierung hat bisher praktisch nichts gegen die Krise getan.“ Sie konzentriere sich vor allem auf die Hoffnung, dass sich der Ölpreis erholt.

Allerdings sei die Regierung in der Lage, bei einem Ölpreis von rund 40 Dollar noch einige Jahre durchzuhalten, denn seine Einnahmen erziele der Staat vor allem in US-Dollar, die Ausgaben würden hingegen mit Rubel bezahlt. Mit sozialen Unruhen in nächster Zeit rechne er nicht. “Die russische Bevölkerung kann auch unter schwierigeren Bedingungen überleben. Die Menschen können zu billigeren Produkten greifen, auf Urlaube verzichten oder Zweitjobs annehmen.”

Der Chef-Volkswirt der Ratingagentur RusRating, Anton Tabakh, meinte in Wien: “Diese Krise ist kein Nebenprodukt der geopolitischen Sanktionen oder des niedrigen Ölpreises”. Beides habe die Krise zwar verstärkt, ihre eigentliche Ursache sei aber, dass sich das bisherige Wirtschaftsmodell erschöpft habe.

Das stellte auch die Chef-Volkswirtin der Alfa Bank, Natalia Orlova, in einem Interview mit Ben Aris (bne Intellinews) Ende März heraus. Ähnlich wie der frühere stellvertretende Handelsminister Mikhail Dmitriev in seiner „Russia Lecture“ im Chatham-Institut in London sieht sie die Wachstumsperspektiven der russischen Wirtschaft sehr skeptisch. Sie befürchtet, dass Russland für mindestens vier Jahre vor einer Phase stehe, in der höchstens Wachstumsraten zwischen 0,5 und 1 Prozent erreichbar seien. Eigentlicher Grund dafür sei das überholte staatsorientierte Wirtschaftsmodell. Präsident Putin bevorzuge, wenn die Wirtschaft durch staatliche Unternehmen kontrolliert werde. Er werde nicht das Risiko struktureller Reformen eingehen und sich nicht auf die „unsichtbare Hand des Marktes“ verlassen.

Doing Business-Bericht
Die Rangliste aus dem Doing Business-Bericht 2016: Russland auf dem 51. Platz.

Der „Wirtschaftsblock“, der von den großen staatlichen Unternehmen dominiert werde, sei mit dem Status quo recht zufrieden, meint Orlova: „Sie lieben Stabilität, sie lieben die Kontrolle über ihre Unternehmen; und – noch wichtiger – sie lieben die Tatsache, dass die Hauptquelle für Russlands Einnahmen durch ihre Konten fließt, da sich dies direkt in politische Macht umsetzen läßt.“

Verbesserung der Rahmenbedingungen, aber kaum weniger Staat

Medwedew unterstrich in seiner Duma-Rede hingegen, die russische Wirtschaft habe angesichts der innerhalb von nur sechs Monaten fast halbierten Ölpreise, der Verhängung westlicher Sanktionen und der instabilen Weltmärkte ihre Anpassungsfähigkeit bewiesen. Ihre Diversifikation sei im Gange. Knapp 60 Prozent der staatlichen Einnahmen stammten inzwischen aus Quellen außerhalb der Öl- und Gaswirtschaft.

Ein Schwerpunkt seiner Regierung sei zudem die Verbesserung der Rahmenbedingungen für Unternehmen und die Förderung kleiner und mittlerer Unternehmen. Dabei habe Russland stetige Fortschritte erreicht. So sei es im „Doing Business-Ranking“ der Weltbank innerhalb weniger Jahre vom 120. Platz auf Position 51 vorgerückt.

Einschneidende strukturelle Reformen plant die Regierung aber nicht. Privatisierungen soll es geben, die Mehrheit großer staatlicher Unternehmen wie Rosneft oder Gazprom aber in Händen des Staates bleiben. Hinsichtlich der wirtschaftspolitischen Diskussion in Russland darf zudem nicht übersehen werden, dass es nicht nur Kritik von marktwirtschaftlich orientierten Ökonomen gibt, sondern auch Forderungen, zu mehr Planwirtschaft zurückzukehren und mehr Gewicht auf den Schutz heimischer Produzenten zu legen.

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Titelbild: Kremlin.ru (CC 3.0)

Bild der Zentralbank: Simon Schütt


Nadia Kazakova (Saxo Bank): Now oil’s at $40/b, Russia fragments over plan A; 20.04.2016

Dmitry Medvedev: Government report on its performance in 2015; 19.04.2016

Reuters: Russia Won’t Rush With Structural Reforms-PM; 19.04.2016

dpa/Europe Online: Russia’s Medvedev: No plans to raise taxes before 2018; 19.04.2016

Die Presse: Russland: Staat nimmt seine Konzerne aus; 19.04.2016

Benjamin Triebe: Sowjetische Reformvorschläge: Mit Volldampf in Russlands Vergangenheit; NZZ, 19.04.16

World Public Forum-Studie: Strategic Management of Russian Economic Development …; 12.04.16

John Lloyd (University of Oxford): When will Russia break? blogs.reuters.com; 14.04.2016

Mikhail Dmitriev (New Economic Growth Consulting Group): Russian Society and the Economic Turning Point, 13.04.2016; Chatham Annual Russia Lecture; Video; Questions & Answers

Industriemagazin.at: Russlands Wirtschaft im Notbetrieb – ganz unabhängig von Sanktionen; 11.04.2016

Anton Tabakh (RusRating Agency): Impact of oil price collaps on Russian Economy; ICEUR; 07.04.2015

Eduard Steiner: Sergej Guriev: “Selbst ohne Sanktionen hat Putin ein Problem”; Welt-Interview, 01.04.16

Ulrich Heyden: “Moskauer Wirtschaftsforum” nimmt Regierung in die Mangel; Telepolis, 29.03.2016

Eduard Steiner: Wie Putins verzweifelte Privatisierungen scheitern; Die Welt, 29.03.2016

Ben Aris: Putin’s visible hand – Russia economy doomed to 4 years of stagnation; 29.03.2016

Benjamin Bidder: Putins Chefreformer Kudrin: Der treueste Revolutionär des Kreml; Spiegel, 21.04.2016

Kirill Rogov: Putin’s Economist: Why Kudrin Tapped to Write New Reforms Plan; Moscow Times, 20.04.2016

Handelsblatt-Gespräch mit Wirtschaftsminister Uljukajew: „Reformen statt Hoffen auf hohen Ölpreis“; 20.04.2016[/su_spoiler]