Russische Wirtschaft: Steigende Wachstumsprognosen trotz neuer Coronawelle

Die EBRD erwartet 2021 jetzt 3,3%, das VEB-Institut 4,3% Wachstum

Viele Wachstumsprognosen für Russlands Wirtschaft wurden in den letzten Wochen  angehoben, obwohl die neue Welle von Corona-Infektionen ein Unsicherheitsfaktor für die Konjunktur ist. Oft wird in den Prognosen auch auf dieses Risiko verwiesen. Mit einem neuen „Lockdown“ mit weitreichenden Beschränkungen der Produktionsaktivitäten der Wirtschaft wird aber nicht gerechnet.

Ein Fragezeichen hinter die Nachhaltigkeit des laufenden Aufschwungs setzt auch die jüngste Eintrübung der Stimmung in den Unternehmen. Der Einkaufsmanagerindex im Verarbeienden Gewerbe sank deutlich. Die Prognosen für das diesjährige Wirtschaftswachstum klaffen noch weit auseinander. Sie reichen von 2,3 Prozent (Raiffeisen Bank International) bis 4,3 Prozent (Vnesheconombank).

Reuters-Umfrage: Das Wachstum erreicht 2021 3,8 Prozent

Als der Internationale Währungsfonds Anfang April im „World Econmic Outlook“ seine Prognose für das diesjährige Wachstum der russischen Wirtschaft überraschend stark auf 3,8 Prozent anhob, war er damit noch ziemlich „einsame Spitze“. Das hat sich in den letzten drei Monaten geändert. Anfang Juni erhöhte die Sberbank ihre Prognose für den Anstieg der gesamtwirtschaftlichen Produktion auch auf 3,8 Prozent.

Ende Juni wurde mit diesem Wachstum schließlich auch in einer Reuters-Umfrage bei 15 Teilnehmern im Durchschnitt gerechnet. Die Londoner Europäische Bank für Wiederaufbau und Entwicklung (EBRD) erhöhte ihre Wachstumsprognose in der letzten Woche auf 3,3 Prozent. Nach Bekanntgabe der Rosstat-Konjunkturdaten für Mai, hält es auch die Chef-Volkswirtin der Alfa Bank, Natalia Orlova für gerechtfertigt, im Jahr 2021 eine Wachstumsrate von 3,3 Prozent zu erwarten. Mit 3,4 Prozent Wachstum in Russland rechnet jetzt die in Osteuropa stark vertretene Mailänder Großbank Unicredit. Dmitry Dolgin, Chef-Volkswirt für Russland der Amsterdamer ING Bank, erhöhte seine Prognose auf 3,8 Prozent. Das Forschungsinstitut der staatlichen Vnesheconombank hält es in einer am Freitag veröffentlichten Studie sogar für möglich, dass ein Wachstum von 4,3 Prozent erreicht wird.

Wachstumsprognosen 2021 bis 2023

Veränderung des realen Bruttoinlandsprodukts gegenüber dem Vorjahr in Prozent

  202120222023
Vnesheconombank Institute02.07.214,3  
Commerzbank, Frankfurt02.07.213,72,5 
Helaba, Frankfurt02.07.213,02,0 
ING Bank, Amsterdam01.07.213,8  
Alfa Bank, Moskau01.07.213,3  
Reuters-Umfrage30.06.213,8  
Unicredit, Mailand30.06.213,42,6 
EBRD, London28.06.213,33,0 
Raiffeisen Bank International, Wien24.06.212,31,3 
ifW Kiel17.06.212,72,3 
DIW Berlin17.06.212,62,7 
Ifo Institut München16.06.214,23,5 
IWH Halle15.06.213,53,0 
Fitch Ratings16.06.213,72,72,0
Economist Intelligence Unit, London15.06.213,22,31,7
RF Akademie der Wissenschaften10.06.213,43,02,7
OPEC, Wien10.06.213,0  
Weltbank08.06.213,23,22,3
FocusEconomics Consensus08.06.213,22,62,3
DekaBank, Frankfurt08.06.213,52,0 
Zentralbank-Umfrage03.06.213,52,42,2
IHS Markit03.06.213,1  
Sberbank01.06.213,8  
Wirtschaftsministerium24.04.212,9 Urals 60,3 $/b3,2 Urals 56,2 $/b3,0 Urals 54,8 $/b
Russische Zentralbank23.04.213,0 bis 4,0 Urals 60 $/b2,5 bis 3,5 Urals 55 $/b2,0 bis 3,0 Urals 50 $/b
Internationaler Währungsfonds06.04.213,83,8 

Auch Russlands Regierung und Zentralbank wollen ihre Prognosen vom April revidieren. Wirtschaftsminister Reshetnikov kündigte an, in dieser Woche werde sein Ministerium seine bisherige Prognose (2,9 Prozent) anheben. Die Zentralbank will anlässlich ihrer nächsten Leitzinsentscheidung am 23 Juli ihre Wachstumsprognose (bisher 3 bis 4 Prozent) erhöhen. Mit Blick auf die kräftige Erholung der Wirtschaft kündigte Präsidentin Nabiullina auch bereits eine weitere deutliche Erhöhung des Leitzinses an.

EBRD: Russland überstand 2020 trotz „Doppel-Schock“ relativ gut

Die EBRD hob am 28. Juni ihre Prognose für das Tempo der wirtschaftlichen Erholung in Russland im Jahr 2021 auf 3,3 Prozent an (bisher: +3,0 Prozent). Für 2022 erwartet sie nur eine leichte Abschwächung des Wachstums auf +3,0 Prozent (bisher: +2,8 Prozent).

In ihrem halbjährlichen Bericht „Regional Economic Prospects“ meint die EBRD, die russische Wirtschaft habe das Jahr 2020 trotz der „Doppelschocks“ durch sinkende Ölpreise und die COVID-19-Pandemie im internationalen Vergleich gut überstanden. Die gesamtwirtschaftliche Produktion sei nur „relativ moderat“ um 3 Prozent geschrumpft. Zum Teil habe dies strukturelle Ursachen. Der öffentliche Sektor sei in Russland relativ groß, der Dienstleistungssektor relativ klein. Der moderate Rückgang spiegele aber auch die starke makroökonomische Position des Landes zu Beginn der Krise. Als Reaktion auf die gegen Russland verhängten Sanktionen habe die Regierung zur Vorsorge erhebliche Finanz-Reserven gebildet.

Die Produktion der russischen Wirtschaft dürfte sich nach Einschätzung der EBRD im zweiten Quartal weiter „robust“ entwickelt haben. Die Ölproduktion erhole sich bei einer Lockerung der in der OPEC+ vereinbarten Produktionsquoten.

Allerdings habe der Anstieg der Inlandsnachfrage auch Befürchtungen vor einer „Überhitzung“ geweckt. Als Reaktion auf Preisteigerungsraten, die das Inflationsziel der Zentralbank deutlich überträfen, würden die Leithzinsen erhöht. Zur Fiskalpolitik Russlands meint die EBRD, die Regierung werde wahrscheinlich nicht von ihrem Plan abgehen, die fiskalischen Impulse für die Konjunktur abzubauen. Russlands Führung wolle sich als Schutz vor drohenden weiteren geopolitischen Risiken „finanzielle Puffer“ erhalten. Im Vorfeld der Wahlen im September dürften aber die kürzlich von der Regierung angekündigten Sozialleistungen und finanziellen Hilfen für Unternehmen für eine gewisse Unterstützung der Konjunktur sorgen.

Die EBRD betont, ihre Wachstumsprognosen von 3,3 Prozent für 2021 und 3,0 Prozent für 2022 seien zum Teil davon abhängig, dass sich das bisher relativ langsame Impftempo beschleunige. Nicht zuletzt gebe es weiterhin auch „geopolitische Risiken“, vor allem die Möglichkeit weiterer Sanktionen, sowie die Volatilität der Ölpreise.

Raiffeisen Bank International: Erstmals „sehr expansive“ Finanzpolitik

Gunter Deuber (Leiter Research der Raiffeisen Bank International, Wien) streicht in einem Beitrag der „Russland-Analysen“ heraus, die russische Regierung habe die COVID-19-Krise nicht zuletzt durch eine erstmals „sehr expansive“ Finanzpolitik „gut abgefedert“. Insgesamt habe die Regierung „Summen von 7 bis 9 Prozent des BIP“ zur Krisenbewältigung mobilisiert. So sei die Produktion der Wirtschaft in Russland mit einem Rückgang um 3 Prozent nur etwa halb so stark eingebrochen wie in Westeuropa. Zudem habe Russland die jüngste Verschärfung der US-Sanktionen an den Finanzmärkten „gut verdaut“. Die „Festung Russland“ sei gut vorbereitet gewesen.

Skeptische RBI-Prognose: Russlands Wachstum bleibt schwach

Die Wachstumsaussichten Russlands im laufenden Jahr veranschlagt Gunter Deuber in seinem Artikel aber trotzdem nur auf „2 bis 3 Prozent“. Nach 2021 werde sich das Wirtschaftswachstum wahrscheinlich wieder näher am Potenzialwachstum um 1,5 bis 2 Prozent einpendeln.

Im Statistik-Teil der Russland-Analysen werden die Wachstumsprognosen von Raiffeisen Research für die russische Wirtschaft mit dem „Konsens“ und Prognosen des IWF verglichen. Es zeigt sich, dass die Raiffeisen Research-Prognosen für das Wachstum im Jahr 2021 mit 2,3 Prozent und im Jahr 2022 mit 1,3 Prozent weit niedriger sind als die „Konsens-Prognosen“ und die IWF-Prognosen.

Wachstumsprognosen im Vergleich: Raiffeisen Research – Konsens – IWF

Quelle: Forschungsstelle Osteuropa an der Universität Bremen: Russland-Analysen Nr. 404: Statistik: Russlands Wirtschaft – COVID 19, Entwicklung und Prognosen; 24.06.2021

Seine skeptische Einschätzung der Wachstumsperspektiven Russlands begründet Deuber so: Die aktuellen „taktischen Erfolge“ der russischen Wirtschaftspolitik dürften nicht darüber hinwegtäuschen, dass wichtige Ursachen für die Stagnation der letzten Jahre auch in den kommenden Jahren wirksam sein werden. Die bisherigen staatlichen Investitionsprogramme hätten keine wachstumsfördernde Wirkung entfaltet. Substanzielle Strukturreformen seien auch mit dem „Nationalen Plan zur wirtschaftlichen Erholung“ nicht verbunden, auch wenn hier nicht nur auf Großunternehmen und staatliche Investitionsprogramme gesetzt werde.

Die „staatszentrierte, international zunehmend wenig integrierte und sanktionierte russische Wirtschaft“ stagniere seit Jahren, streicht Deuber heraus. Er verweist auf den Rückgang der Realeinkommen seit 2014, auch wenn 2021 eine leichte Trendwende eintreten könne (eine Abbildung zum Rückgang der Realeinkommen bietet die „Higher School of Economics“ imMacro-Monitor“; letztes Chart).

Pro-Kopf-BIP im Vergleich: Polen hängte Russland ab, Rumänien überholte es

Bei einem Vergleich des Pro-Kopf-BIP zu Kaufkraftparitäten erreichte Russland laut der folgenden Abbildung aus den „Russland-Analysen“ 2010 rund 62 Prozent des EU-Niveaus. 2019 waren es mit 63 Prozent kaum mehr.

Quelle: Forschungsstelle Osteuropa an der Universität Bremen: Russland-Analysen Nr. 404: Statistik: Russlands Wirtschaft – COVID 19, Entwicklung und Prognosen; 24.06.2021

In diesen neun Jahren steigerte Polen sein Pro-Kopf-BIP von rund 62 Prozent auf rund 71 Prozent des EU-Niveaus. Das Pro-Kopf-BIP Rumäniens stieg gleichzeitig von 51 Prozent auf 64 Prozent des EU-Niveaus. Polen hängte Russland also deutlich ab. Rumänien schloss zu Russland auf und überholte es knapp.

Unicredit erhöht Wachstumsprognose um 0,5 Prozentpunkte auf 3,4 Prozent

Die Mailänder Unicredit sieht die Wachstumsperspektiven Russlands für 2021 und 2022 deutlich positiver als die Wiener Raiffeisen Bank. Unicredit nimmt aktuell im Prognosespektrum eine mittlere Position ein. Die Bank hob in ihrem am Freitag erschienenen Quartalsbericht „CEE Quarterly“ für die Länder Mittel- und Osteuropas ihre Wachstumsprognose für Russland im Jahr 2021 von 2,9 Prozent auf 3,4 Prozent an. 2022 dürfte das Wachstum laut Unicredit mit 2,6 Prozent doppelt so hoch sein wie die von RBI erwartete Wachstumsrate.

Unicredit: CEE Quarterly – 3nd Quarter 2021; Page 63, 02.07.2021

2020 war der Rückgang der gesamtwirtschaftlichen Produktion um 3,0 Prozent (siehe rote Linie in der folgenden Unicredit-Abbildung) vor allem durch den niedrigeren privaten Verbrauch (grauer Säulenabschnitt) und die niedrigeren Investitionen (schwarzer Säulenabschnitt) verursacht worden.

Gestützt wurde die Konjunktur im letzten Jahr vor allem durch die außenwirtschaftliche Entwicklung. Der Wachstumsbeitrag der Nettoexporte (rosa Säulenabschnitt) war positiv, weil die Importe viel stärker verringert wurden als die Exporte sanken. Auch Gunter Deuber (RBI) weist darauf hin, dass die Exporte 2020 im Jahresvergleich nur um 5,1 Prozent sanken, während die Importe gleichzeitig um 13,7 Prozent einbrachen. Der Netto-Export habe mit +1,4 Prozentpunkten die gesamtwirtschaftliche Produktion gestützt. Russlands Rohstoffexporte hätten sich zudem schnell erholt. Einbußen beim Öl- und Gasexport hätten durch steigende Gold- und Weizenlieferungen kompensiert werden können.

Die Unicredit-Abbildung zeigt auch, dass die Erhöhung des staatlichen Verbrauchs (grauer Säulenabschnitt) 2020 das Wachstum stütze. Zudem wurden die Lagerbestände erhöht (dunkelroter Säulenabschnitt).

Entwicklung des Bruttoinlandsprodukts nach Verwendungsbereichen

Veränderungen gegenüber Vorjahr in Prozent

Unicredit: CEE Quarterly – 3nd Quarter 2021; Page 63, 02.07.2021

2021 und 2022 wird nach Einschätzung der Unicredit das Wachstum der russischen Wirtschaft vor allem vom privaten Verbrauch getragen. Es zeichne sich ab, dass der reale Einzelhandelsumsatz im zweiten Quartal 2021 über das Vorkrisenniveau gestiegen sei. Der Corona-bedingte Rückgang von Auslandsreisen sorge für zusätzliche Nachfrage im Inland, insbesondere nach dauerhaften Gebrauchsgütern. Die Sparquote sei stark gesunken und die Kreditaufnahme der Verbraucher steige. Obwohl die Reallöhne stiegen, seien die real verfügbaren Einkommen im Jahresvergleich derzeit allerdings noch rückläufig.

Der außenwirtschaftliche Beitrag zum Wachstum wird laut Unicredit jetzt jedoch negativ, weil die Einfuhren im Aufschwung stärker steigen als die Ausfuhren. Das bremst 2021 und 2022 das gesamtwirtschaftliche Wachstum.

Vnesheconombank-Wachstumsprognose 2021: + 4,3 Prozent

An den oberen Rand des Prognosespektrums rückte am Freitag das Forschungsinstitut der staatlichen Vnesheconombank. Das VEB-Institut hält es jetzt für möglich, dass Russlands Bruttoinlandsprodukt in diesem Jahr um 4,3 Prozent wächst. In einer Studie zu kurzfristigen Entwicklungstrends der russischen Wirtschaft, schreibt das Institut, nach seinen Berechnungen sei das Bruttoinlandsprodukt im Zeitraum Januar bis Mai 2021 voraussichtlich 4,8 Prozent höher als im Vorjahreszeitraum gewesen (während das russische Wirtschaftsministerium diesen Anstieg auf seiner Internet-Seite lediglich auf 3,7 Prozent veranschlagt). Bei einer Fortsetzung der gegenwärtigen Trends sei es möglich, so das VEB-Institut, im Gesamtjahr 2021 eine Wachstumsrate von 4,3 Prozent gegenüber dem Vorjahr zu erreichen. Das gelte auch wenn man angesichts der neuen Infektionswelle einen Rückgang der Wirtschaftsaktivität in den Sommermonaten berücksichtige. Dazu veröffentlichte das VEB-Institut folgende Abbildung zur saisonbereinigten Entwicklung des realen Bruttoinlandsprodukts:

Index des realen Bruttoinlandsprodukts, saisonbereinigt (2010=100)

Vnesheconombank-Institute: Short-term trends in the development of the Russian economy; 02.07.2021

Optimismus mit Vorbehalt

Das VEB-Institut schätzt, dass das saisonbereinigte Bruttoinlandsprodukt im zweiten Quartal 2021 gegenüber dem Vorquartal um 2 Prozent gestiegen ist. Im dritten Quartal werde es gegenüber dem Vorquartal voraussichtlich um 1 Prozent sinken, im vierten Quartal leicht um 0,4 Prozent steigen.

Im Vergleich mit dem Vorjahresquartal ist das BIP nach Schätzungen des Instituts im zweiten Quartal um 11,3 Prozent gestiegen. Im dritten Quartal verde es voraussichtlich um 4,1 Prozent und im vierten Quartal um 3,0 Prozent höher sein als ein Jahr zuvor. Im ersten Quartal 2021 war es noch 0,7 Prozent niedriger als im Vorjahresquartal.

Das Institut betont aber gleichzeitig, dass sich eine „signifikante Verschlechterung der epidemiologischen Lage“ auf die Prognosen negativ auswirken könne.

Neben der gesamtwirtschaftlichen Produktion analysiert die VEB-Studie auch die Entwicklung der realen Umsätze im Einzelhandel und im Dienstleistungsbereich sowie die Entwicklung des Ölpreises und des Wechselkurses.

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