Putin-Kritiker ziehen Bilanz: Journalisten führender Zeitungen sehen Russland im Krieg mit dem Westen
In der letzten Woche gaben wir in Ostexperte.de Hinweise zum neuen Buch der Politologin Professor Dr. Margareta Mommsen „Das Putin-Syndikat“. Auch etliche Journalisten haben in den letzten beiden Jahren Bücher zur politischen Entwicklung in Russland vorgelegt. Den Bestsellern von Gabriele Krone-Schmalz versuchen insbesondere Manfred Quiring (Die Welt), Markus Wehner (FAZ), und Boris Reitschuster (früherer Focus-Korrespondent und jetzt häufiger Autor der HuffPost), Konkurrenz zu machen.
Die Titel ihrer Bücher ähneln sich frappierend:
- Putins russische Welt: Wie der Kreml Europa spaltet (Quiring)
- Putins Kalter Krieg: Wie Russland den Westen vor sich hertreibt (Wehner)
- Putins verdeckter Krieg: Wie Moskau den Westen destabilisiert (Reitschuster)
Schon die Titelformulierungen lassen vermuten, dass für die Autoren offenbar Präsident Putin der Hauptverantwortliche für die Verschlechterung der Beziehungen zum Westen ist. Er spaltet Europa, er treibt den Westen vor sich her und er destabilisiert ihn – wenn man ihnen glauben will. Für Markus Wehner führt Putin einen „Kalten Krieg“, für Boris Reitschuster ist es ein „verdeckter Krieg“.
Welcher Eindruck mag bei Passanten entstehen, wenn vor der Präsidentenwahl deutsche Buchhandlungen bald diese Titel ins Schaufenster stellen? Nun, sie dürften dort nicht allein stehen. „Eiszeit“ mit dem Untertitel „Wie Russland dämonisiert wird und warum das so gefährlich ist“ und „Russland verstehen“ von Gabriele Krone-Schmalz dürften dort auch ihren Platz finden. In der Gunst der Leser stehen diese Titel offenbar ganz oben. In der Amazon-Bestsellerliste für „Politische Literatur“ zum Thema Russland liegen sie seit Wochen im Spitzenfeld.
Markus Wehner: „Putins Kalter Krieg“
Markus Wehner, Jahrgang 1963, ist seit Mitte 2017 Korrespondent der F.A.Z. in Berlin. Seit Herbst 2004 war er Korrespondent der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung in Berlin. Zuvor war er seit Herbst 1999 fünf Jahre FAZ-Korrespondent in Moskau.
Zu seinem Buch „Putins Kalter Krieg“ hat Prof. Dr. Hans-Joachim Schramm (Ostinstitut Wismar) eine ausführliche Rezension veröffentlicht. Nachstehend eine Zusammenfassung seiner Anmerkungen im Ost-Letter 2/2016 des Ostinstituts.
Putins Ziele und Geheimdienstmethoden
Die Ziele des russischen Präsidenten sieht Wehner so: Putin will Osteuropa und die Länder der ehemaligen Sowjetunion dominieren, die europäischen Demokratien wirtschaftlich und politisch abhängig machen und die Europäische Union spalten.
Putin wird von Markus Wehner als Mann des Geheimdienstes beschrieben, für den. „austricksen“ eine bevorzugte Arbeitsweise sei (S.10). Nach Putins Ansicht sei „die russische Welt“ größer als Russland. Die ethnische Zugehörigkeit rechtfertige Interventionen im Ausland (S.16).
Warum Wehner Russland im Krieg gegen den Westen sieht
Die ersten Sätze in Wehners Buch lauten „Russland ist im Krieg. Wladimir Putin hat ihn schon vor Jahren begonnen. Er geht gegen den Westen.“
Folgende Geschehnisse der jüngeren Vergangenheit rechtfertigen in der Interpretation Wehners die These, dass Russland Krieg gegen den Westen führt:
- Der Kampf des Kreml gegen die „farbigen Revolutionen“,
- die Annexion der Krim und der Krieg gegen die Ukraine,
- die Reform der russischen Streitkräfte und die Militarisierung des Landes,
- der Propagandakrieg Russlands,
- die gesteigerten Spionageaktivitäten Russlands und
- die Zusammenarbeit Russlands mit rechtsextremen Parteien in Europa.
Die Behauptung von „Russland-Verstehern“, die russische Politik sei lediglich eine Reaktion auf eine aggressive Politik des Westens, weist Wehner als Mythos zurück. Die NATO habe keine bindenden Versprechen gemacht, sich nicht auszudehnen (S.133).
Integrationsangebote des Westens hat Russland ausgeschlagen
Wehner räumt ein, dass der Westen das „postimperiale Trauma“ Russlands nach dem Ende der Sowjetunion unterschätzt habe. Seitdem habe der Westen aber eine Vielzahl von Angeboten zur Integration gemacht. Russland habe aber stattdessen die Selbstisolation gewählt.
Im letzten Kapitel unterstützt Wehner die Politik des Westens, solidarisch und standhaft auf die russische Herausforderung zu reagieren. Damit habe Putin nicht gerechnet. Er sei mit seinen Plänen, die Ukraine zum Teil eines von Moskau geführten Staatenbundes zu machen, gescheitert.
Was Wehner empfiehlt: Sanktionen beibehalten, aufrüsten und abwarten
Wehner befürwortet die Aufrechterhaltung der Sanktionen. Die Hoffnung, Russland könne sich in absehbarer Zeit modernisieren und demokratisieren, teilt er nicht.
Unter der Überschrift „Was tun?“ fordert Wehner unter anderem:
- Europa muss sich gegen mögliche russische Aggressionen schützen und bereit sein, militärisch zu antworten, wenn sein Gebiet betroffen ist.
- Die EU muss die Ukraine stützen. Eine NATO-Mitgliedschaft sollte aber auf absehbare Zeit ausgeschlossen sein.
- Der Westen sollte den Dialog suchen und dabei russische Sicherheitsbedenken nicht außer Acht lassen.
- Die EU muss gegenüber Moskau mit einer Stimme sprechen. Sie sollte dabei ihre eigene Politik formulieren, die nicht mit der Politik Washingtons übereinstimmen muss.
Professor Schramms Fazit zu „Putins Kalter Krieg“:
„Nach der alarmistischen Vorrede überraschen die dann doch eher gemäßigten Handlungsvorschläge.“
Gleichwohl, meint Schramm, ließen die Vorschläge Wehners den Leser etwas unbefriedigt zurück:
„Sie lassen eine Idee oder gar Vision vermissen, was denn konkret getan werden könnte, um aus dieser verfahrenen Situation wieder rauszukommen. Zu Ende gedacht läuft es auf ein ‚aufrüsten und abwarten’ hinaus.“
Weitere Rezension von „Putins Kalter Krieg“
Prof. Dr. Hannes Adomeit, Non-resident Fellow des Instituts für Sicherheitspolitik an der Universität Kiel, kommentiert Wehners Buch im „Portal für Politikwissenschaften“ der Kieler „Stiftung Wissenschaft und Demokratie“.
Adomeit, früher langjähriger Mitarbeiter der Berliner Stiftung Wissenschaft und Politik, betont unter anderem, dass für Wehner primär „innere Faktoren“ die scharfe Wende Russlands zu einer anti-westlichen, national-patriotischen Mobilisierungspolitik ausgelöst hätten. Machterhalt sei, so Wehner, das Hauptmotiv politischen Handelns im „System Putin“.
Russlands politische Führung habe aus Sorge über eine Erosion ihrer Macht nach Einschätzung von Wehner auf die Massendemonstrationen im Winter 2011/2012 „panisch“ reagiert. Sie habe im Inneren den repressiven Kurs verschärft und Konsequenzen für die Außen- und Militärpolitik gezogen:
„Sie beschloss, farbige Revolutionen mit dem Ziel eines Regimewechsels in für Russland strategisch wichtigen Ländern mit militärischen und anderen Mitteln zu verhindern und zum Gegenangriff überzugehen.“ (Seite 45)
Russlands Annexion der Krim und seine verdeckte Intervention in der Ost-Ukraine könnten als Teil dieser Gegenoffensive betrachtet werden.
Quelle: Hannes Adomeit: Altes Denken statt Neues Russland – Innenpolitische Bestimmungsfaktoren der Außenpolitik; Portal für Politikwissenschaften; 26.09.2017
Manfred Quiring: „Putins russische Welt – Wie der Kreml Europa spaltet“
Manfred Quiring, Jahrgang 1948, wuchs in der DDR auf. 1973 wurde er Redakteur der „Berliner Zeitung“. Zwischen 1982 und 2010 verbrachte er 22 Jahre als Korrespondent in Russland: 10 Jahre für die „Berliner Zeitung“ (1982 bis1987 und 1991 bis 1995), 12 Jahre für die „Die Welt“ (1998 bis 2010).
Der Ch.Links-Verlag schreibt, Quiring unterziehe das Regime Putin einer „radikalen Kritik“. Daniel Brössler meint in seiner Rezension in der Süddeutschen Zeitung, Quiring fordere, das Regime in Moskau „realistisch“ zu betrachten. Er vermittele mit seinem Buch ein „hässliches“ Bild von „Putins russischer Welt“. Es zeige Putin als Herrscher eines Geheimdienststaates, in dem Macht und Mafia unentwirrbar verstrickt seien.
Quiring beschreibt die russische Regierung in seinem Buch als ein „korruptes, kleptokratisches System“, in dem die Rolle des „Militärisch-industriellen Komplexes (MIK)“ und der Geheimdienste besondere Aufmerksamkeit verdiene (Leseprobe).
Ein „autoritärer Staat“ mit „zunehmend aggressiver Politik nach außen“
Quiring schreibt, den Vertretern des „Militärisch-industriellen Komplexes“ gehe es vornehmlich um Wiedergewinnung verlorener Macht:
„In Russland ist in den Jahren der Putin-Regentschaft ein autoritärer Staat entstanden, dessen repressive Politik nach innen von einer zunehmend aggressiven Politik nach außen begleitet wird. “…
„Präsident Putins vorrangiges strategisches Ziel ist der Machterhalt seiner Clique in Russland, vervollständigt durch ein möglichst großes, von Moskau dominiertes Vorfeld abhängiger Staaten entlang der Grenzen. Der Rückzug aus Osteuropa in den 1990er Jahren schmerzt bis heute. Nach einer »Peredyschka«, einer Atempause, scheint jetzt die Chance zu einem »Rollback« gekommen.“
Russlands Eliten wollen keine Annäherung an den Westen
Der „Militärisch-industrielle Komplex“ ist nach Meinung Quirings auch dafür verantwortlich, dass eine Annäherung Russlands an den Westen gescheitert sei. Das auch in Deutschland weit verbreitete Bild vom „in die Ecke getriebenen“ Putin werde den russischen Eliten um den Mann im Kreml nicht gerecht. Sie fällten ihre Entscheidungen aus eigenen, inneren Interessen heraus.
„Die Vertreter des MIK haben sich nie für die Integration erwärmen können. Ihnen ging es vornehmlich um Wiedergewinnung verlorener Macht und verlorenen Einflusses.“
„Das gegenwärtige Regime in Moskau sieht sich durch westliche Ideen und Einflüsse gefährdet, und das zu Recht. Denn echte Demokratie heißt Gewaltenteilung und öffentliche Kontrolle dessen, was „die da oben“ so tun. Genau das würde das korrupte, kleptokratische System in seiner Existenz gefährden. Es braucht diesen äußeren Feind, um oppositionelle Bewegungen im Lande niederzuhalten und innere Stabilität durch die Förderung einer Festungsmentalität zu erreichen.“
Putins Clique führt „hybriden Krieg“ zur Spaltung Europas
Die Idee eines geeinten Europas, das Russland einschließt, hält Quiring nach den Ereignissen auf der Krim und in der Ukraine für vorläufig gescheitert. Zudem unterstützte die Putin-Clique mit Mitteln der hybriden Kriegsführung Kräfte, die Europa spalten wollen.
„Mehr noch: Die Herrschaftsclique um Präsident Putin unternimmt im Rahmen ihrer hybriden Kriegsführung alles, um den Spaltpilz nach Europa zu tragen. Es werden jene unterstützt, die sich gegen den europäischen Gedanken, gegen Demokratie und gegen das transatlantische Bündnis wenden.“
Gegen Ende seines Buches geht Quiring auf diese Verbindungen des Kreml zu nationalistischen Parteien und separatistischen Gruppierungen in Europa ein.
Für das abschließende Kapitel „Wie weiter mit Russland?“ greift er auch auf Gespräche mit Experten zurück (Marieluise Beck, Bündnis 90/Die Grünen; Jan C. Behrends, Historiker; Falk Bomsdorf, langjähriger Leiter der Moskauer Vertretung der Friedrich-Naumann-Stiftung; Ruprecht Polenz, Präsident der Deutschen Gesellschaft für Osteuropakunde).
Weitgehende Einigkeit von Wehner und Quiring
Markus Wehner und Manfred Quiring sind sich somit in zentralen Fragen einig:
- Schon aufgrund der Herkunft Putins aus dem Geheimdienst hat dieser eine besonders große Bedeutung im „System Putin“.
- Vorrangiges Ziel Putins ist der Machterhalt seiner Clique.
- Für die Wende Russlands zu einer anti-westlichen Politik sind primär innere Faktoren verantwortlich.
- Behauptungen von „Russland-Verstehern“, die russische Politik sei eine Reaktion auf eine aggressive Politik des Westens, sind unberechtigt. Die NATO hat keine bindenden Versprechen gemacht, auf eine Osterweiterung zu verzichten.
Im Buch des Publizisten Boris Reitschuster („Putins verdeckter Krieg: Wie Moskau den Westen destabilisiert“) nehmen Verbindungen zwischen kriminellen Strukturen, Staat und Geheimdiensten in Russland und die sogenannte „hybride Kriegsführung“ besonders breiten Raum ein. Dazu mehr in einem weiteren Beitrag.
Quellen und Lesetipps
Markus Wehner: Putins Kalter Krieg (Mai 2016)
Bezugsmöglichkeiten:
- Amazon: Markus Wehner: Putins Kalter Krieg: Wie Russland den Westen vor sich hertreibt; 02.05.2016
Verlagsinformationen, Droemer Knaur:
- Markus Wehner: Putins Kalter Krieg; mit Leseprobe
Rezensionen:
- Hans-Joachim Schramm (Ostinstitut Wismar): Rezension von: Markus Wehner: Putins kalter Krieg – Wie Russland den Westen vor sich hertreibt: in: Ost/Letter 2 2016; 21.07.2016
- Manfred Groß: Deutsch-russische Beziehungen: Zwischen Russland-Verstehern und Russland-Kritikern; Rezensionsessay; in: Hanns-Seidel-Stiftung, Politische Studien 476; Nov/Dez. 2017
- Hannes Adomeit: Altes Denken statt Neues Russland – Innenpolitische Bestimmungsfaktoren der Außenpolitik; Portal für Politikwissenschaften; 09.2017
- Matthias Friedrich: „Es ist längst wieder ein Kalter Krieg ausgebrochen“; Allgemeine Zeitung, 17.05.2016
Manfred Quiring: Putins russische Welt (März 2017)
Bezugsmöglichkeiten:
- Amazon: Manfred Quiring: Putins russische Welt: Wie der Kreml Europa spaltet
- Bundeszentrale für Politische Bildung, Schriftenreihe Band 10079: Manfred Quiring: Putins russische Welt: Wie der Kreml Europa spaltet; 264 S., 4,50 Euro, 12.09.2017
Verlagsinformationen:
Ch.Links Verlag: Manfred Quiring: Putins russische Welt
Leseprobe:
Schweitzer-online.de: Vorwort (Auszug); Inhaltsverzeichnis
Rezensionen:
- Robert Baag: Abrechnung mit der Politik des Kreml; Manfred Quiring rechnet in seinem Buch „Putins russische Welt“ mit der Politik des Kremls ab; DLF, 03.07.2017
- Daniel Brössler: Der Mythos von Russland als Opfer westlicher Expansion; SZ, 12.06.2017
- Ulrich Schmid: Putin im Sachbuch: Mit Angst lässt sich politisch arbeiten, FAZ, 02.04.2017
Weitere Ostexperte.de-Artikel zu Russland-Büchern und zur Russlandpolitik:
- „Das Putin-Syndikat“ – Eine Bilanz zu 18 Jahren Putin; Artikel zum Buch „Das Putin-Syndikat“ von Prof. Dr. Margareta Mommsen; 18.01.2018
- Gabriele Krone-Schmalz kämpft weiter für Tauwetter – Auch in „Eiszeit“ fordert sie „Wandel durch Annäherung“; Artikel zum Buch „Eiszeit – Wie Russland dämonisiert wird und warum das so gefährlich ist“; 05.01.2018
- Gauck oder Schröder – Wer versteht Russland? Artikel zum Buch „Fremde Freunde“ von Katja Gloger; 23.12.2017
- Irina Scherbakowa – die mutige Stimme von Memorial; Artikel zum Buch „Die Hände meines Vaters“ von Irina Scherbakowa; 15.12.2017
- Verschärfte Konkurrenz für „Russland-Versteher“; Artikel zur Gründung des Think Tanks „Zentrum Liberale Moderne“, 06.12.2017
- Rückblick auf Russland-Konferenzen; „Nachlese“ zum Petersburger Dialog, zum Gaidar-Naumann Forum, zur Russland-Konferenz der Körber-Stiftung und zu den Gesprächen des Ostinstituts Wismar; 01.12.2017