Produktionsanstieg im März stärkt Konjunkturoptimismus in Russland

Trotz aller geopolitischen Risiken und der immer härteren Konfrontation zwischen Russland und dem Westen rechnen immer weniger Experten damit, dass Russlands Bruttoinlandsprodukt nach dem Rückgang um 2,1 Prozent im letzten Jahr auch 2023 deutlich sinkt. Immer mehr erwarten im Jahresdurchschnitt eine Stagnation oder ein schwaches Wachstum bis zu 1 Prozent.

Russlands gesamtwirtschaftliche Produktion ist im März gegenüber Februar nach ersten Schätzungen saison- und kalenderbereinigt um rund 1 Prozent gestiegen. Dabei nahm auch die Industrieproduktion um rund ein Prozent zu.

Russlands BIP ist im März um rund 1 Prozent gestiegen

Nach ersten Berechnungen des Forschungsinstituts der Wneschekonombank stieg Russlands gesamtwirtschaftliche Produktion im März 2023 saison-  und kalenderbereinigt um 0,9 Prozent gegenüber Februar. Die folgende Abbildung zeigt, dass das reale Bruttoinlandsprodukt damit fast wieder auf das bereits im November 2022 erreichte Niveau gestiegen ist.

Nach dem Beginn des Ukraine-Krieges war Russlands gesamtwirtschaftliche Produktion im Verlauf des ersten Halbjahres 2022 scharf gesunken. Davon erholte sie sich bis zum November 2022 zwar deutlich. Im Dezember sank sie jedoch erneut merklich. Im Januar und Februar stagnierte sie fast.

Im Vergleich zum März 2022 war das reale Bruttoinlandsprodukt laut dem VEB-Institut im März 2023 nur noch 1,2 Prozent niedriger. Im Februar 2023 hatte der Rückgang gegenüber dem Vorjahresmonat noch 3,1 Prozent betragen.

Index des realen Brutttoinlandsprodukts; saison- und kalenderbereinigt
(Januar 2014 = 100)

Forschungsinstitut der Wneschekonombank: World Economy and Markets Review, 05.05.23

Die Angaben  des russischen Wirtschaftsministeriums weichen von diesen Schätzungen des VEB-Instituts etwas ab: Den bereinigten Anstieg des BIP im März gegenüber Februar veranschlagt das Ministerium nicht auf 0,9 Prozent, sondern auf 1,0 Prozent. Den Rückgang des BIP im März im Vorjahresvergleich schätzt das Ministerium nicht auf 1,2 Prozent, sondern auf 1,1 Prozent (Februar 2023/Februar 2022: – 2,9 Prozent).

Im gesamten ersten Quartal war das BIP laut dem Ministerium um 2,2 Prozent niedriger als vor einem Jahr.

Industrieproduktion: Kräftige Erholung im Verarbeitenden Gewerbe

Russlands Industrieproduktion trug zum Rückgang des Bruttoinlandsprodukts im ersten Quartal im Vergleich mit dem Vorjahr bei. Insgesamt unterschritt die Industrieproduktion im ersten Quartal 2023 ihr Vorjahresniveau laut Rosstat aber nur noch um 0,9 Prozent. Dabei war die Produktion im Verarbeitenden Gewerbe sogar 1,1 Prozent höher als vor einem Jahr. Die Produktion im Bereich „Bergbau/Förderung von Rohstoffen war aber 3,3 Prozent niedriger als im ersten Quartal 2022.

Die Produktion im Bereich des Verarbeitenden Gewerbes hat seit der Jahresmitte 2022 gut zwei Drittel des tiefen Einbruchs in der ersten Jahreshälfte 2022 aufgeholt (siehe dunkelgrüne Linie in der folgenden Abbildung). Im März 2023 war die Produktion des Verarbeitenden Gewerbes 6,3 Prozent höher als ein Jahr zuvor. Gegenüber dem Vormonat Februar stieg sie im März nach Schätzung des VEB-Instituts um 2,3 Prozent.

Die Produktion im Bereich „Bergbau/Förderung von Rohstoffen“ (hellgrüne Linie) hatte sich bereits im Verlauf des zweiten Quartals 2022 deutlich erholt. Seitdem ist sie leicht gesunken. Im März 2023 war sie 3,6 Prozent niedriger als ein Jahr zuvor. Gegenüber Februar 2023 stagnierte sie im März saison- und kalenderbereinigt laut dem VEB-Institut.

Insgesamt ist die Industrieproduktion (schwarze Linie) im März gegenüber Februar 2023 saison- und kalenderbereinigt laut dem VEB-Institut um 1,0 Prozent gestiegen (laut Rosstat: + 1,3 Prozent).

Index der Industrieproduktion, saison- und kalenderbereinigt (Jan. 2014 = 100)

Forschungsinstitut der Wneschekonombank: World Economy and Markets Review, 27.04.23

Im Vergleich zum März 2022 war die Industrieproduktion im März 2023 insgesamt 1,2 Prozent höher.

Rüstungsausgaben treiben Produktion einiger Branchen

Olga Belenkaja, Chef-Volkswirtin der Börsengesellschaft FG Finam, stellt in einer ausführlichen Analyse der Konjunkturentwicklung der russischen Wirtschaft heraus, dass „rüstungsnahe“ Industriezweige im März 2023  (und im ersten Quartal 2023) besonders starke Steigerungen der Produktion gegenüber dem Vorjahr verzeichneten:

Eigene Darstellung

Auch die Metallurgie-Branche wuchs im Vorjahresvergleich kräftig (März 2023: + 8,0 %; Jan. – März 2023: + 2,0 %).

KFZ-Industrie tief im Minus, Bauproduktion und Landwirtschaft wachsen

Stark rückläufig ist hingegen weiterhin die Produktion der Kraftfahrzeugindustrie (einschl. Anhänger). Im März war sie noch 6,8 Prozent niedriger als vor einem Jahr. Im ersten Vierteljahr unterschritt sie ihr Vorjahresniveau sogar noch um 40,2 Prozent.

Verlangsamt hat sich auch der Rückgang der Produktion in den Bereichen „Holzverarbeitung“ und „ Arzneimittelproduktion“. Die Produktion der Chemischen Industrie war im gesamten ersten Quartal noch 3,6 Prozent niedriger als vor einem Jahr. Im März stieg sie im Vorjahresvergleich aber um 0,7 Prozent.

Die Produktion im Baugewerbe ist im März 2023 im Vorjahresvergleich weiter gestiegen (+ 6,0 Prozent). Gegenüber Februar sank sie laut Schätzung des VEB-Instituts um 2,6 Prozent.

Die Produktion der Landwirtschaft stieg im März im Vorjahresvergleich weiter um 3,3 Prozent.

Von der Haushaltspolitik kommen starke Wachstumsimpulse

Olga Belenkaja gibt zur Stützung der Erholung der Wirtschaft durch eine expansive  Haushaltspolitik der russischen Regierung folgende Hinweise:

Die Ausgaben des föderalen Haushaltes wurden im ersten Quartal im Vorjahresvergleich um 34 Prozent erhöht. Dieses starke Wachstum erklärte das Finanzministerium mit einer im Januar und Februar vorgenommenen „Vorfinanzierung“ von im späteren Jahresablauf geplanten Ausgaben.

Die Einnahmen sanken gleichzeitig um 21 Prozent, wobei die Einnahmen aus dem Öl und Gasbereich um 45 Prozent einbrachen.

Das Haushaltsdefizit betrug im ersten Quartal 2,4 Billionen Rubel.

Die expansive Haushaltspolitik der russischen Regierung wurde auch in der Eröffnungsdiskussion beim „Internationalen Finanzkongress“ (IFC) in Sankt Petersburg am 27. April angesprochen (Video; Teilnehmer: Alexei Vedev, Gaidar-Institut; Leonid Grigoriev, Professor an der  Higher School of Economics (HSE); Andrey Nechayev, Vorsitzender der “Civil Initiative Party”, Wirtschaftsminister 1992/1993).

Vedev unterstrich, dass sich die Fiskalpolitik der Regierung und die Geldpolitik der Zentralbank verglichen mit den Jahren 2019 und 2020 dramatisch geändert hätten. Während früher eine expansive Geldpolitik (“quantitative easing“) völlig abgelehnt worden sei, werde die Wirtschaftsentwicklung jetzt stimuliert. Die Endnachfrage werde ganz offensichtlich durch die Kreditpolitik mit niedrigen Zinsen und die staatliche Haushaltspolitik gestützt (siehe dp.ru: The apocalypse is canceled: the Russian economy avoided collapse und Finversia.ru).

Real verfügbare Einkommen kaum höher als vor einem Jahr

Die folgende Abbildung des VEB-Instituts zeigt die Entwicklung der von Quartal zu Quartal stark schwankenden real verfügbaren Einkommen der Bevölkerung. Im ersten Quartal 2023 waren sie 0,1 Prozent höher als vor einem Jahr. Im vierten Quartal 2022 hatten sie ihr Vorjahresniveau noch um 1,5 Prozent überstiegen.

Im Vergleich zum Vorquartal sanken die real verfügbaren Einkommen im ersten Quartal 2023 laut Schätzung des VEB-Instituts saison- und kalenderbereinigt um 3,1 Prozent.

Index der real verfügbaren Einkommen (4. Quartal 2013 = 100)

Forschungsinstitut der Wneschekonombank: World Economy and Markets Review, 05.05.23

Geringe Arbeitslosigkeit und sinkende Teuerung treiben Reallöhne nach oben

Die Arbeitslosenquote blieb im März mit 3,5  Prozent auf einem Rekordtief. Der Arbeitskräftemangel beschleunigte das Lohnwachstum.

Angaben zum Anstieg der Reallöhne liegen bisher nur für Februar 2023 vor.

Im Vergleich zum Februar 2022 waren die Reallöhne im Februar 2023 um 2,0 Prozent höher (graue obere Linie in der folgenden Abbildung des VEB-Instituts). Im Vergleich zum Januar sind die Reallöhne laut Schätzung des VEB-Instituts im Februar um 0,2 Prozent gestiegen.

Olga Belenkaja erwartet, dass sich der jährliche Anstieg der Reallöhne im März und April wegen des starken Rückgangs der jährlichen Inflationsrate vorübergehend zweistelligen Raten nähern wird. Im März sank der jährliche Anstieg der Verbraucherpreise auf 3,5 Prozent.

Der Einzelhandel hat noch viel Aufholbedarf, anders als die Dienstleistungen

Die Abbildung zeigt, dass sich der reale Umsatz der Dienstleistungsunternehmen (dunkelgrüne Linie) seit der „Corona-Rezession“ im Jahr 2020 viel besser entwickelt hat als der reale Umsatz im Einzelhandel (schwarze Linie). Von einem leichten Rückgang im ersten Halbjahr 2022 hat sich der Dienstleistungsbereich schnell erholt. Im Einzelhandel ist der tiefe Einbruch des realen Umsatzes im Jahr 2022 erst knapp zur Hälfte wettgemacht.

Reallöhne und privater Verbrauch (Januar 2014 = 100)

Indizes der saison- und kalenderbereinigten Entwicklung von Reallöhnen, realem Einzelhandelsumsatz und realem Dienstleistungsumsatz

Forschungsinstitut der Wneschekonombank: World Economy and Markets Review, 05.05.23

Im März 2023 war der reale Dienstleistungsumsatz 4,2 Prozent höher als ein Jahr zuvor.

Der reale Einzelhandelsumsatz war gleichzeitig noch 5,1 Prozent niedriger als im März 2022.

Im Vergleich zum Vormonat ist der reale Einzelhandelsumsatz im März allerdings saison- und kalenderbereinigt laut VEB-Institut um 1,0 Prozent gestiegen. Der reale Dienstleistungsumsatz sank gleichzeitig gegenüber Februar um 0,4 Prozent.

Finam hebt BIP-Prognose 2023 auf + 0,1 Prozent an

Angesichts der Entwicklung der russischen Wirtschaft im ersten Vierteljahr 2023 erwartet  Olga Belenkaja in der neuen Finam-Prognose jetzt für das Jahr 2023 nicht mehr einen Rückgang des realen Bruttoinlandsprodukts um 1,5 Prozent, sondern einen Anstieg um 0,1 Prozent. Die neue Prognose berücksichtigt höhere Schätzungen des Wachstums des privaten Verbrauchs, der Investitionen (auch durch Wiederaufstockung der Lager) und der Importe. 2024 erwartet FG Finam eine Beschleunigung des Wachstums auf 1,3 bis 1,5 Prozent.

Gleichzeitig betont Belenkaja, dass die Perspektiven der russischen Wirtschaft trotz der unerwartet günstigen Entwicklung der Wirtschaft im ersten Quartal und der verbesserten Stimmung von Unternehmen und Verbrauchern höchst ungewiss blieben. Einige Faktoren, die die Wirtschaftsaktivität zu Beginn des Jahres angetrieben hätten, könnten sich bis zum Jahresende abschwächen. So dürfte die stimulierende Wirkung der staatlichen Nachfrage nach den Rekordausgaben und einem Defizit am Jahresbeginn im Verlauf des Jahres 2023 wohl zurückgehen. Hinzu komme, dass sich die „geopolitischen Spannungen“ und die aktuelle Lage der Weltwirtschaft auf die Entwicklung der Aus- und Einfuhren der russischen Wirtschaft negativ auswirken dürften. Die immer härtere Konfrontation zwischen Russland und dem Westen könne die Verfügbarkeit von Arbeitskräften sowie die Entwicklung von Verbrauch und Investitionen beeinträchtigen.

Mit einer weiteren deutlichen Rezession rechnen immer weniger Experten

Trotz hoher Risiken wird inzwischen aber für 2023 von den meisten Experten eine Stagnation oder ein geringes Wachstum der russischen Wirtschaft erwartet.

Ein Anstieg des realen Bruttoinlandsprodukts um 0,1 Prozent im Jahr 2023 wurde als durchschnittliche Prognose auch bei der Anfang Mai veröffentlichten Analysten-Umfrage des Moskauer Büros der Nachrichtenagentur Reuters ermittelt. Ende März hatten die Analysten noch mit einem Rückgang um 0,9 Prozent gerechnet. Das Moskauer Zentrum für makroökonomische Analysen und kurzfristige Prognosen (CMASF) hob seine Prognose vom März Anfang Mai ebenfalls um rund einen Prozentpunkt an. Es erwartet jetzt für 2023 ein Wirtschaftswachstum von 0,5 bis 1,0 Prozent.

BIP-Prognosen 2023 und 2024

Veränderung des realen Bruttoinlandsprodukts gegenüber dem Vorjahr in Prozent

Ostexperte.de-Artikel zu Konjunktur und Wirtschaftspolitik in Russland von Klaus Dormann:

Weitere Lesetipps und Quellen im PDF-Dokument, unter anderem zu:

Titelbild
Panksvatouny / Shutterstock.com