Plädoyer für eine neue Eurasienpolitik

Westeuropa benötigt eine neue Eurasienpolitik

In Deutschland ist eine Generation aufgewachsen in dem Bewusstsein, die westlich-liberale Ordnung sei der Zielpunkt allen Fortschritts. Noch immer fällt es vielen schwer, diesen Traum zu begraben. Dass in der Türkei, in Polen, Ungarn, Russland und woanders autoritäre Tendenzen um sich greifen, dass weithin gerade die junge Generation diese neue Richtung trägt, wird mit verständnislosem Kopfschütteln quittiert.

Wie kann es sein, dass eine Gesellschaft die “westlichen Werte” ablehnt: die Segnungen der Toleranz und der Emanzipation, der Selbstverwirklichung und der Gleichheit. Dabei ist es keine vier Jahrzehnte her, da stand der Begriff westliche Werte für etwas völlig anderes: Familie, Eigentum, Freizügigkeit und christliche Tradition.

Mit Zähnen und Klauen wurden diese Werte gegen den kommunistischen Osten verteidigt. Ironie der Geschichte: Es ist der Osten, der uns heute an die eigene Vergangenheit erinnert. Und keine Einigung ist in Sicht, auch nicht die Konvergenz, an die man zwanzig Jahre lang geglaubt hat.

Mittelmeer- und Balkangrenzen

Spätestens seit 2016 sind die deutschen Eliten sich der neuen Lage bewusst. Einen Roll-out der westlichen Gesellschaftsordnung wird es nicht geben. Unsere Nachkommen können froh sein, wenn niemand anderer seine gesellschaftliche Ordnung importiert, die Scharia etwa.

Derweil bewegt Europa sich auf völlig neue Herausforderungen zu. Die Mittelmeergrenze wird zur Verteidigungslinie gegen Migrationsdruck und islamische Reconquista. Bis 2050 verdoppelt sich die Bevölkerung in Afrika; in jedem einzelnen Monat kommen über 3 Millionen Menschen hinzu. Noch eine Generation, und die Mittelmeer- und Balkangrenzen werden zum zentralen sicherheitspolitischen Thema des Kontinents.

Globale Neuausrichtung

Nur an der Ostflanke ist das meerumspülte Europa an die eurasische Landmasse angebunden: im Nordosten und Osten an Russland sowie im Südosten über die Meerengen des Bosporus an die Türkei. Der Kontinent, der noch vor 100 Jahren unangefochten die Welt beherrschte, hat die Wahl: die Isolation riskieren oder anerkennen, dass auch die Nachbarn das Recht auf eigene Wege besitzen.

Die Entscheidung wird umso dringlicher, da die USA sich im Windschatten der auf dem Rückzug – demographisch, politisch, wirtschaftlich – befindlichen Europäer global neu ausrichten. Die Hinwendung zum pazifischen Raum wird unter Donald Trump nur besonders thematisiert. Als Resultat objektiver Machtverschiebungen war sie lange vor ihm angelegt. Auch Trumps Nachfolger werden an dem Kurs in der Substanz nichts ändern.

Neue Seidenstraße

Gleichzeitig zielt China mit der Neuen Seidenstraße auf wirtschaftliche Hegemonie bis über die Mitte Eurasiens hinaus. Europa braucht daher einen Plan, der mehr umfasst als die Selbstbeschreibungen der Vergangenheit: Friede, Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Wohlstand, soziale Gerechtigkeit und Humanität.

Im Westen auf sich allein gestellt, von Süden her unter wachsendem Migrationsdruck (der auch zu innenpolitischen Verwerfungen führen wird), muss dem europäischen Kontinent an einer stabilen Anbindung an das wie immer geartete Machtgefüge im Osten gelegen sein.

Am europäisch-russischen Verhältnis als Schlüsselthema der Zukunft führt kein Weg vorbei. Hinzu kommt: Wenn die tiefgreifende Ablehnung des in vielerlei Hinsicht nicht-europäischen Russlands durch die “reinen” Europäer anhalten sollte, wird Russland schon gegen Jahrhundertmitte zum chinesischen Vasall.

Feinde des 20. Jahrhunderts

In der Summe ergeben sich zwei Zielvorgaben. Zum einen der effektive Zusammenhalt der Westeuropäer, zum anderen die Entente mit dem russisch-europäisch geprägten Teil Eurasiens, derzeit in Gestalt der Eurasischen Union aus Russland, Weißrussland, Armenien und dem Norden Zentralasiens. Das wiederum setzt den Abschied von liebgewonnenen Feindbildern des 20. Jahrhunderts voraus: Konfrontation im Osten, expansives Russland.

Im Übrigen auch den Abschied von der Idee, im 21. Jahrhundert gebe es keine Einflusszonen mehr. Russland wird seine auch künftig geltend machen: auf dem europäischen Kontinent die ostslawischen Länder Belarus und Ukraine, bedingt Moldawien und in engen Grenzen die orthodoxen Balkanstaaten.

Moralisch geprägte Außenpolitik

Erforderlich ist zudem die Abkehr von der maßgeblich moralisch geprägten Außenpolitik. Was nicht bedeutet, dass Realpolitik wertfrei sein muss. Die eingeforderten Werte sollten jedoch im Verhältnis zum Politikziel stehen, in Europa etwa: die Pflicht zu gutnachbarlichen Beziehungen; die Autonomierechte der Völker; die Wahrung der Interessen kleinerer Länder; die Grenzen der Einmischung.

Konkret: Als Einstieg in die neue Eurasienpolitik bietet sich geradezu ideal die Zusammenarbeit zwischen der Europäischen Union und der Eurasischen Wirtschaftsunion an. Sie birgt den Vorteil, dass in der Wirtschaft eine große Zahl potentieller Unterstützer bereitsteht. Auch werden die westlichen Falken in Politik und Militär nicht gleich am ersten Tag alarmiert. Und der Fokus auf einträgliche Geschäfte führt dazu, dass die meisten, wenn nicht alle EU-Staaten, dem Projekt positiv begegnen.

Titelbild
[toggle title=”Foto” open=”yes”]Gebirge in Kirgistan