Gemischtes Doppel #46: Die Stalinfalle

Kolumne: Gemischtes Doppel #46 – Die Stalinfalle

Von Maxim Kireev, n-ost


Lieber Leserinnen und Leser,

falls Sie es noch nicht mitbekommen haben: In Russland herrscht mal wieder Stalinalarm. Den Auslöser lieferte diesmal eine Umfrage des angesehenen Lewada-Instituts, derzufolge der schnauzbärtige Tyrann von etwa 38 Prozent der Russen als „herausragendste Person aller Zeiten“ bezeichnet wird.

Damit landet der Diktator auf Platz eins vor Putin und dem russischen Nationaldichter Alexander Puschkin, die mit jeweils 34 Prozent die Plätze zwei und drei belegen. Nun könnte man an dieser Stelle laut auflachen und sich fragen, welchen Sinn solche Umfragen überhaupt ergeben? Ja, Sie haben richtig verstanden: Jeweils ein Drittel der Russen hält entweder Putin, Stalin oder Puschkin für die bedeutendste und herausragendste Person, die je auf Erden gewandelt ist.

Haben die Menschen sich wirklich Gedanken dazu gemacht, oder einfach nur irgendwas geantwortet? Wie viele Leute haben die Soziologen einfach an der Tür stehen lassen, weil sie gerade wichtigeres zu tun hatten?Andererseits könnte man sich blöd stellen und sagen: Was Stalin angeht, so war er ja wirklich eine herausragende und wichtige Persönlichkeit.

Natürlich wäre das alles sehr witzig, wie die Russen sagen, wenn es nicht so traurig wäre. Denn tatsächlich herrscht in Russland ein gestörtes Verhältnis zur Stalinzeit. Josif Wissarionowitsch, wie manche ihn noch immer respektvoll nennen, ist unzertrennlich vereint mit dem Kult um den Sieg über Hitlerdeutschland 1945. Wer Stalin dämonisiert, der greift damit die Sowjetunion, den von einigen beinahe religiös verehrten Sieg und somit auch Russland an. Diese Sichtweise hatte kürzlich Wladimir Putin in seinen Interviews mit dem Regisseur Oliver Stone zum Ausdruck gebracht.

Gleichzeitig hat kein anderer Herrscher so viele Russen auf dem Gewissen wie Stalin. Kein Wunder, dass russische Nationalisten sich eigentlich als Anti-Stalinisten begreifen, ähnlich wie es auch die Nationalisten in der Ukraine tun. Während sich die Ukraine jedoch als Opfer des Holodomors ohne Phantomschmerzen vom totalitären Erbe der Stalinverehrung befreit hat, haben die Russen sich dieser Chance beraubt. Kein Wunder, dass die Russen den Holodomor meist als Schuldzuweisung gegen sich selbst wahrnehmen. Dabei starben an den Folgen der Kollektivierung in den 30er Jahren auch hunderttausende Russen und Angehörige anderer Sowjetvölker.

Der Weg zu einem demokratischen Nationalbewusstsein hätte dieses Problem wie in vielen Ländern Osteuropas heilen könnten. Doch eine entsprechende Bewegung in Russland konnte sich nie recht vom Chauvinismus des Kremls distanzieren.

Spätestens seit der Ukraine-Krise ist die Idee des russischen Nationalismus’ völlig diskreditiert, während deren Vordenker in intellektuell flachere Gewässer des Krim-Nasch abgebogen sind. Der seit der Perestroika unternommene Versuch, die Stalinverehrung mittels Aufklärung zu vertreiben, hat eine Niederlage erlitten. Ausgerechnet zum Ende der 90er Jahre wurde Stalin wieder populärer.

1999 hatten in der gleichen Umfrage 35 Prozent Stalin als die wichtigste Person der Geschichte genannt, 22 Prozent mehr als 1989 und nur drei Prozent weniger als heute. Und das gänzlich ohne die aktuell unternommene Reinwaschung der Geschichte und die Propaganda eines starken und zentralistischen Russlands. Deswegen sollte sich Wladimir Putin auch nicht allzu sehr freuen über Stalins gute Umfragewerte und sie schon gar nicht auf sich selbst übertragen.

Wer weiß, ob nicht ausgerechnet Putins System der Ungleichheit und der Korruption die Sehnsucht nach vermeintlicher Gerechtigkeit unter Stalin erst richtig wachsen lässt.


Im Gemischten Doppel geben Inga Pylypchuk (Ukraine) und Maxim Kireev (Russland) im wöchentlichen Wechsel persönliche (Ein)-Blicke auf ihre Heimatländer.

Das Gemischte Doppel ist Teil des Internationalen Presseclubs Stereoscope von n-ost. Für Abonnenten immer mittwochs als Newsletter und auf ostpol.

Wenn Sie das Gemischtes Doppel abonnieren wollen, schreiben Sie eine E-Mail.

Tipps, Feedback und Anregungen aller Art bei Facebook, Twitter und an stereoscope@n-ost.org.