Gemischtes Doppel #37: Haben Künstler ein Gehirn?

Kolumne: Gemischtes Doppel #37 – Haben Künstler ein Gehirn?


In den 1990ern lief im ukrainischen Fernsehen eine dämliche Kaugummi-Werbung, Parole: „Manchmal ist es besser zu kauen als zu reden.“ Auch Jahre später kommt mir dieser Spruch immer wieder in den Sinn – Anlässe gibt es genug.

Nehmen wir etwa populäre ukrainische Musiker. Man könnte meinen, sie besäßen ein Gespür für den Zustand ihres Landes. Schließlich verlangt doch jede künstlerische Tätigkeit ein gewisses Maß an Feingefühl. Aber wenn Stars öffentlich ihre Meinung kundtun, merkt man, dass das wohl ein Irrglaube ist.

Dazu zwei sehr aktuelle Beispiele.

Ivan Dorn, ein junger ukrainischer Funk-Disco-Rap-Sänger, populär in Moskau wie in Kiew, hat vor kurzem einem russischen Blogger ein Interview gegeben, in dem er den Krieg im Osten der Ukraine als „Streit“ bezeichnete. Das löste selbst beim Interviewer Erstaunen aus.

Dann bemühte Dorn das kulturmythologische Klischee, wonach Russen und Ukrainer Brüder seien, die Ukrainer natürlich die kleineren. Zu guter Letzt gestand der Sänger, dass er 2014 auf einem von Russen organisierten Festival in Lettland eine Kapuzenjacke mit dem ukrainischen Staatswappen nur deshalb getragen habe, damit die Ukrainer nicht „stinkig werden“.

Darf man so etwas sagen in einem Land, das von Russland militärisch angegriffen wurde? In dem im Krieg bereits mehr als zehntausend Menschen gestorben sind? Wahrscheinlich schon, klar. Aber man sollte sich dann nicht über die Reaktion wundern.

Der Shitstorm brach wie eine Lawine über ihn herein. Von der Hoffnung der ukrainischen Musikwelt mutierte Dorn innerhalb weniger Stunden zum Verräter. In den sozialen Netzwerken wurden überhitzte, zum Teil absurde Diskussionen geführt. Selbst der ukrainische Kulturminister mischte sich ein und bezeichnete Dorns Äußerungen als „unzulässig“.

Der zweite Kandidat ist Oleh Skypka, ein seit Jahrzehnten berühmter Rocker. In einem Gespräch mit Studenten sagte er Folgendes: „Menschen, die es nicht schaffen, Ukrainisch zu lernen, haben einen niedrigen IQ, sie sind schlicht Schwachsinnige. Man sollte sie ausgrenzen, weil sie sozial gefährlich sind, man sollte ein Ghetto für sie schaffen.

Wir würden ihnen helfen, wie man Behinderten hilft, wir würden für sie „Wladimirskij Zentral“ singen.“ (Anm.: „Dabei“ handelt es sich um DAS russische Gaunerlied schlechthin über ein Gefängnis in der Stadt Wladimir. Besonders beliebt ist das Lied bei Taxifahrern in postsowjetischen Ländern.)

Wer das ganze Gespräch mit Skrypka gelesen hat, merkt, dass Vieles darin überspitzt und provokant, oft sarkastisch gemeint war. So wohl auch die Ghetto-Bemerkung, für die sich Skrypka später entschuldigt hat. Eine faschistoide und ignorante Aussage bleibt es trotzdem. Darf man so etwas in einem Land sagen, in dem 29 Prozent der Gesamtbevölkerung russischsprachig sind? Wahrscheinlich schon, klar. Man sollte doch alles sagen dürfen. Aber: Sie wissen schon.

Es wäre dumm zu leugnen, dass Kultur und Politik miteinander verflochten sind. Konzertverbote für diverse Künstler gibt es schon seit zwei, drei Jahren sowohl in Russland als auch in der Ukraine. Es wäre auch naiv, dafür zu plädieren, die Kultur solle unabhängig vom gesellschaftlichen Kontext existieren. Das wird sie nie tun. Und doch frage ich mich angesichts dieser Vorfälle, warum wir eigentlich die Aussagen von Künstlern so ernst nehmen?

Weder Skrypka noch Dorn können darauf Einfluss haben, wie Russland und die Ukraine zueinander stehen und welche Sprache man wo spricht. Wie der Journalist Alexej Tarasov in seinem provokanten Text über Dorn mit dem Titel: „Künstler haben kein Gehirn. Findet Euch damit ab!“ formuliert hat: „Sie wollen nicht wissen, was diese Menschen über Politik und die Weltordnung denken, genau so, wie es für Sie uninteressant ist, was für eine Meinung Taxifahrer dazu haben.“

Und auch wenn mich persönlich die Meinungen von Taxifahrern sehr wohl interessieren, brauche ich es doch nicht, dass ein Kulturminister sie für mich kommentiert. Ein wenig Abregung in diesen digitalen Zeiten würde uns allen nicht schaden.


Im Gemischten Doppel geben Inga Pylypchuk (Ukraine) und Maxim Kireev (Russland) im wöchentlichen Wechsel persönliche (Ein)-Blicke auf ihre Heimatländer.

Das Gemischte Doppel ist Teil des Internationalen Presseclubs Stereoscope von n-ost. Für Abonnenten immer mittwochs als Newsletter und auf ostpol.

Wenn Sie das Gemischtes Doppel abonnieren wollen, schreiben Sie eine E-Mail.

Tipps, Feedback und Anregungen aller Art bei Facebook, Twitter und an stereoscope@n-ost.org.