Warum die russische Nationalmannschaft ein Sorgenkind ist

Kurz vor der Fußball-WM 2018 bleibt Russlands Nationalmannschaft ein Sorgenkind

Die FIFA Fußball-WM 2018 in Russland steht kurz vor der Tür. Wir haben uns gefragt, wie gut die russische Nationalmannschaft auf die Weltmeisterschaft vorbereitet ist. Ostexperte.de-Autor Nikolai Boll hat mit dem russischen Fußball-Experten und TV-Moderator Pawel Zanozin über die Vorbereitung der „Sbornaja“ gesprochen.

Es kommt mir vor, als sei es gestern gewesen: EM 2008, Russland beendet die Vorrunde als Gruppenzweiter und steht im Viertelfinale gegen die Niederlande. Die Sbornaja geht in der 50. Minute durch Pawljutschenko in Führung, doch der Gegner gleicht kurz vor Schluss aus. Es folgt eine hart umkämpfte Verlängerung, in der den Russen das 3:1 gelingt. Andrei Arschawin spielt auf Weltklasse-Niveau, bereitet das 2:1 vor und erzielt das letzte Tor des Abends selbst.

Das Stadion und der russische Kommentator stehen Kopf. Niemand hat damit gerechnet. Niemand hat dieser Mannschaft einen Sieg gegen ein Team von Superstars zugetraut. Robin van Persie, Edwin van der Sar, Dirk Kuijt, Ruud van Nistelrooy: Allesamt am 21. Juni 2008 gegen Russland ausgeschieden. Im Halbfinale gab es dann zwar noch das 0:3 gegen den späteren Europameister Spanien, doch das war Nebensache. Was zählte, war der Sieg gegen den damaligen Weltranglistendritten. Auch heute bekomme ich noch Gänsehaut, wenn ich mir die Highlights dieses Spiels anschaue.

Glorreiche Zukunft nach der EM 2008?

Nach der EM 2008 wurde der russischen Fußballnationalmannschaft eine glorreiche Zukunft prophezeit. Doch die Realität sah anders aus. 2010 verpasste das Team die Teilnahme bei der WM und bei allen kommenden Turnieren (EM 2012, WM 2014 und EM 2016) schied die Mannschaft bereits in der Vorrunde gegen vergleichsweise schwache Gegner kläglich aus.

Seit 2008 gab es vier verschiedene Trainer und auch der Nachzug junger Spieler lässt zu wünschen übrig. Bei den letzten Turnieren, an denen Russland teilgenommen hat, zählte die Sbornaja stets zu den ältesten Teams. Kurzum: Die russische Nationalmannschaft spielt seit Jahren schlechten Fußball. Aber warum ist das so?

Der Deutsche Fußball-Bund im Vergleich

Nehmen wir doch die deutsche Nationalmannschaft, beziehungsweise den DFB als Vergleich oder vielmehr als Paradebeispiel für ein gelungenes Konzept. Seit Jahren wird in die Jugendförderung investiert und zwar im großen Stil. Vereine sind verpflichtet, ihre eigenen Leistungszentren, Sportinternate und Jugendmannschaften in allen Altersklassen aufzubauen.

Seit mehr als zehn Jahren gilt zudem das sogenannte Stützpunktprinzip. Dabei hat der DFB in ganz Deutschland verteilt verschiedene Stützpunkte, wodurch so gut wie jedes Talent gesichtet wird. Somit sind auch die Jugendnationalmannschaften erfolgreich. Aus diesen steigen dann junge Spieler in die A-Nationalelf auf und es herrscht nicht wie in Russland ein Mangel, sondern eher ein Überfluss an jungen und talentierten Fußballern.

DFB Zentrale
Der DFB kann als Vorbild dienen.

Natürlich gibt es auch in Russland gewisse Regeln, was die Jugendförderung angeht, aber „diese Regeln sind sehr ineffizient und kontraproduktiv“, erklärt mir Pawel Zanozin. Der 26-Jährige ist Kommentator und Moderator beim russischen Sportsender MatchTV.

An einem Donnerstagabend treffe ich ihn in einem Restaurant direkt neben dem Moskauer Fernsehturm. „Die Regel lautet 6+5. Es dürfen nur sechs ausländische Spieler auf dem Platz stehen, der Rest muss einen russischen Pass haben“, erklärt Zanozin. Somit sei den meisten russischen Spieler klar, dass sie, ganz unabhängig von ihrem Niveau, so oder so aufgrund des Legionärslimits spielen würden. Dadurch entstehe kein Konkurrenzkampf zwischen Spielern. Konkurrenz sei aber das Wichtigste im Sport.

Weitere Gründe für das schlechte Abschneiden

Und weitere Gründe für die Misere? In den 90er-Jahren befand sich Russland in Krisenzeiten, in Zeiten des Zusammenbruchs. In diesem Kontext sei auch das Leistungsförderungssystem im Sport zusammengebrochen. „Jetzt sehen wir also die Spieler, die in dieser Zeit aufgewachsen sind und nicht richtig gefördert wurden. Viele Talente wurden einfach übersehen.“

Der Sport-Kommentator bezeichnet das heutige System im russischen Fußball als nicht ausreichend. Regeln und Gesetze wie das Legionärslimit würden in Russland nicht helfen. Der russische Fußball müsse sich an Deutschland orientieren, Jugendzentren bauen und die Vereine dazu ermutigen, in ihre Jugendförderung zu investieren.

Zanozin sagt, dass die aktuelle Lage eine Katastrophe sei: „Gehen Sie mal an einem russischen Trainingsplatz vorbei. Sie werden den Trainer hören, wie er seine Spieler aggressiv beschimpft und demotiviert.“

Die Mannschaft enttäuscht nicht nur spielerisch, sondern auch menschlich. Das Vertrauen der Russen in ihr Team verringert sich von Spiel zu Spiel, von Skandal zu Skandal. Besonders bitter ist, dass die Russen doch als große Patrioten bekannt sind. Ein ganzes Land hofft auf dieses Team, bei dem man aber das Gefühl hat, es würde nicht für sein Land einstehen und kämpfen.

Russische Fans bei der EM 2008. Quelle: АкутагаваRussian supporters at Euro 2008, Size changed to 1040x585px., CC BY-SA 3.0.

Bestes Beispiel ist das Ausscheiden in der Vorrunde der EM 2016. Während im Land getrauert wurde, kauften russische Nationalspieler Alkohol im Wert von 250.000 US-Dollar (rund 215.000 Euro) und zwangen die Besucher eines Edelclubs, die russische Hymne zu singen. Ein durchschnittlicher russischer Bürger müsste circa 32 Jahre lang arbeiten, um diese Summe zu verdienen.

Klar, dass nach solchen Vorfällen keine Bindung zwischen Fans und Mannschaft mehr besteht. Das sieht Pawel Zanozin jedoch anders: „Die Spieler haben ihr eigenes Privatleben und dürfen im Urlaub machen, was sie wollen. Daraus einen Skandal zu machen, ist wieder der Versuch, irgendwelche Sündenböcke zu suchen.“

Wen trifft die Schuld?

Aber wer sind dann die Sündenböcke? Zanozin meint: „Im Grunde alle. Mannschaft, Trainer, Sportminister und der russische Verband.“ Seit 2008 sei die russische Nationalmannschaft von einer Reihe von Fehlentscheidungen begleitet. Der Fußball-Experte ist sich sicher, dass der Rausschmiss von Guus Hiddink und die Einstellung von Fabio Capello als Cheftrainer nicht richtig gewesen seien.

Nach dem Scheitern in der WM-Qualifikation 2009 und der dadurch verspielten Teilnahme bei der WM 2010 seien die falschen Konsequenzen gezogen worden. „Niemand konnte sich vorstellen, dass nach der Generation, die bei der EM 2008 so groß aufgespielt hat, ein derart riesiges Loch im russischen Fußball entsteht.“ Daher seien zu dem Zeitpunkt auch nicht die nötigen Maßnahmen getroffen worden.

Es bleibt wenig Hoffnung, dass die WM ein erfolgreiches Turnier für die Sbornaja wird. Vielleicht nutzt Russland wenigstens die Chance, ein guter Gastgeber zu sein und das Land von seiner besten Seite zu präsentieren. Doch Skandale über Ausbeutung von Gastarbeitern und unfertige Stadien zeichnen schon von vornherein ein schlechtes Bild des Gastgebers.

Fifa WM
Russland ist Gastgeber der Fußball-WM 2018. Quelle: kremlin.ru.

Nach all diesen Fakten stellt sich die Frage, warum man sich überhaupt für die WM beworben hat, wo doch eigentlich Eishockey der Nationalsport ist. Bei der aktuellen wirtschaftlichen Lage kann man sich dieses Event im Grunde auch gar nicht leisten. Das sei zwar richtig, erklärt Zanozin. Aber durch die WM werde einerseits die Infrastruktur verbessert und andererseits sei die Großveranstaltung für Leute wie ihn ein Traum. „Eine Fußball-WM in meiner Heimat Russland – unvorstellbar. Ein wahres Märchen“, schwärmt der Kommentator.

Wäre der Einzug ins Achtelfinale nicht ein riesiges Wunder? Pawel Zanozin ist da optimistischer: „Ich rechne fest damit, dass unsere Mannschaft ins Achtelfinale einziehen wird, auch das Viertelfinale wäre möglich.“ Auf meine Anmerkung hin, dass auch nur das Weiterkommen ein Erfolg wäre, antwortet er: „Stimmt. Aber das wird doch die Mehrheit des Volkes nicht verstehen.“

Titelbild
Quelle: SteindyAustria vs. Russia 20141115 (179), Size changed to 1040x603px., CC BY-SA 3.0.[/su_spoiler]