Interview: „Eine Beziehung im Stil des Kalten Krieges ist immer riskant“

Interview mit dem russischen Militärexperten Wassili Kaschin

Der russische Politologe und Sicherheitsexperte Wassili Kaschin unterstützt grundsätzlich den aktuell harten Kurs der russischen Regierung gegenüber dem Westen. Dennoch lehnt er weitere Eskalationen ab. Ostexperte.de hat mit dem in Moskau führenden Experten für strategische Problemstellungen an der Higher School of Economics gesprochen.


Ostexperte: In vielen deutschen Zeitungen lesen die Menschen täglich Artikel, dass Russland gerade im Begriff ist, eine Invasion in die Ukraine zu starten. Was würden Sie den Deutschen dazu sagen? Wie beurteilen Sie die aktuellen Ereignisse?

Kaschin: Ich denke, was momentan in Europa passiert beschränkt sich nicht nur auf die Ukraine. Es geht um den Kampf um eine neue Sicherheitsordnung für ganz Osteuropa. Dieser Kampf tobt zwischen den Vereinigten Staaten und Russland. Ein wichtiges Instrument des Kampfes ist die Ausübung gegenseitigen militärischen Drucks. Es äußert sich sowohl in der Konzentration russischer Truppen in seinen westlichen Regionen und teilweise Weißrussland als auch in zahlreichen Manövern und der Verlegung amerikanischer Truppen nach Osteuropa. Für beide Seiten besteht das Ziel darin, die eigene Position bei ihrer ernsthaften diplomatischen Arbeit, Verhandlungen die jetzt im Gange sind, zu stärken. Nachdem Russland die Frage der Sicherheitsgarantien aufgeworfen hat und die USA zugestimmt haben, darüber zu sprechen, hat sich die Situation weiterentwickelt. Die USA brauchen nun ein Sicherheitsabkommen in Europa, weil sie in Asien eine wachsende Bedrohung durch China spüren und im Wettrüsten dort ins Hintertreffen geraten. Russland braucht ein Sicherheitsabkommen in Europa, um seine eigene Position langfristig zu sichern und strategische Stabilität zu gewährleisten. Aber die Interessen sind doch sehr verschieden. Die USA würden einfach gerne ein Abkommen zu einer Sicherheitsordnung abschließen, das die Bedingungen widerspiegelt, die sich von selbst in den 1990er Jahren entwickelt haben, als sie tun konnten, was sie wollten. Es war möglich, die Ansichten und Interessen Russlands zu ignorieren. Wir sehen aktuell, dass sie jetzt schon bereit sind, Zugeständnisse zu machen. Nur sehr kleine Zugeständnisse, aber das ist eine wichtige Änderung. Russland wiederum versucht, bestehende Bedingungen zu revidieren. Die Ukraine wird eigentlich von keiner Seite gebraucht und ist gar nicht von so großem Interesse. Aber sie ist eine Konfliktzone.

„Eine Invasion der Ukraine wäre völlig dumm“

Eine Invasion der Ukraine wäre völlig dumm, da sie die gesamte diplomatische Strategie kaputt machen würde. Weder Russland noch die USA brauchen um die Ukraine einen großen Krieg. Es ist wichtig, dass Russland zeigt, dass es dauerhafte Sicherheitsprobleme für die Vereinigten Staaten in Europa schaffen kann. Es ist wichtig, dass wiederum die Vereinigten Staaten zeigen, dass sie trotz allem nicht nachgeben und sich behaupten. Das Problem der Ukraine ist eigentlich ein kleines und es hat keinen Sinn, sich darauf zu konzentrieren, ohne das große Problem zu lösen.  Es ist offensichtlich, dass Russland die ukrainische Armee sehr schnell zerstören könnte. Aber die dauerhafte Besetzung eines größeren Teils des ukrainischen Territoriums würde unglaubliche Ressourcen erfordern, die Russland nicht hat und auch nur schwer auftreiben kann. Die Ukraine ist das ärmste Land Europas mit einer zerstörten Infrastruktur, die nur zur Funktion im aktuellen Zustand jährlich Milliarden von US-Dollar an Hilfen aus der EU und den USA bekommt. Für den Fall, dass Russland einen bedeutenden Teil der Ukraine besetzt, würde diese Kosten noch steigen. Ich glaube nicht, dass das in irgendjemandes Interesse ist…

Ostexperte: Die russische Führung arbeitet gerade daran, den Westen mit militärischem Druck dazu zu bringen, seine eigenen Forderungen zu diskutieren, etwa den Verzicht auf eine weitere NATO-Osterweiterung. Aber oft werden hier nur konträre Positionen ausgetauscht. Ist das sinnvoll und warum geht man so vor?

Wassili Kaschin
Sicherheitsexperte Wassili Kaschin

Ja, wir nutzen Instrumente wie militärischen Druck, denn so können wir die Kosten für die USA steigern, wenn sie uns entgegentreten. Diese Strategie basiert auf Ausrichtung der Kräfte in der Welt. Wenn Sie sich etwa Asien ansehen, befindet man sich dort in einer beginnenden Phase, in der China zur dritten großen Atommacht wird. Unsere amerikanischen Freunde geben bereits zu, dass sich Chinas Nuklearstreitkräfte in den nächsten 10 Jahren verdoppelt oder vervierfachen können. Damit wird China neben Russland und den USA zur dritten nuklearen Supermacht. Die chinesische Flotte wächst sogar doppelt so schnell, wie die Amerikaner neue Schiffe bauen können. Zum Beispiel haben die Chinesen letztes Jahr 8 große Raketenzerstörer und Kreuzer gebaut. Das sind mehr, als die Amerikaner jemals in einem Jahr der letzten drei Jahrzehnte gebaut haben. Die Amerikaner versuchen deshalb, ihre Verpflichtungen in anderen Teilen der Welt zu reduzieren und ihre Operationen neu auszurichten, um sich auf China zu konzentrieren. Wir werden ihnen dies nicht gestatten, bis sie Bedingungen zustimmen, die unsere Sicherheit garantieren. Und wir sind bereit, den Druck so lange wie möglich fortzusetzen. Sie haben irgendwann keine andere Wahl, als unseren Bedingungen zuzustimmen. Denn wenn sie stattdessen beginnen, präventive Sanktionen zu verhängen, beginnt eine neue Runde der Eskalation. Und jede neue Sanktionsrunde verringert zudem die Abhängigkeit Russlands von den Vereinigten Staaten, die aber nicht in der Lage ist, die Stabilität des politischen Regimes in Russland zu untergraben oder die der Militärmacht. Wenn maximale Sanktionen verhängt werden, von denen gesprochen wird, dann verbleiben gar keine Instrumente, um russische Positionen noch zu beeinflussen.

„Es ist unser gemeinsames Interesse, uns zu einigen“

Russland könnte dann in Europa militärisch im Allgemeinen alles machen, bis zu den NATO-Grenzen oder sogar über sie hinweg. Sie wissen das gut und so ist es unser gemeinsames Interesse, uns zu einigen. Eine Invasion der Ukraine wäre völlig nutzlos, sie löst keines unserer Probleme. Unsere Probleme werden nur durch eine gegenseitige Beschränkung militärischer Aktivitäten in bestimmten Regionen Europas gelöst. Bestimmte Arten von Waffen sollten nicht erscheinen, Truppen sollten nicht präsent sein und alle müssen verstehen, dass die Ukraine, Moldawien und Georgien keine NATO-Mitglieder werden sollen, sondern die militärische Zusammenarbeit zwischen der USA und der Ukraine strengen Beschränkungen unterliegen soll.  Gleichzeitig braucht es das Verständnis, dass die Geschichte des sicherheitspolitischen Dialogs der letzten 30 Jahre für uns negativ war, die westlichen Freunde kein Vertrauen verdienen. Wenn wir eine Vereinbarung haben werden und sehen, dass sie verletzt wird, beginnt eine neue Eskalation. Das bedeutet, wir werden eine Vereinbarung bekommen aber uns trotzdem misstrauisch beobachten. Vielleicht können wir dennoch auf der Grundlage dieses Abkommens später die Zusammenarbeit in anderen Bereichen schrittweise wiederherstellen. Das ist auch in unserem Interesse denn wir wollen ein diversifiziertes System der Beziehungen, keines, in dem wir vollständig von China abhängig sind, aber das wäre erst die nächste Stufe. Doch auf diese Weise könnten wir wahrscheinlich zu einer Normalisierung der Beziehungen übergehen. Aber jetzt müssen wir unsere eigene Sicherheit garantieren. Die Ukraine ist nur ein kleiner Teil dieser Geschichte und nicht so interessant.

Ostexperte: Der Westen, insbesondere Russlands Nachbarn, fühlen sich durch russische Truppen an der Grenze massiv bedroht. Warum erkennt der Westen nicht, dass Russland auch in der NATO eine Bedrohung sieht?

Kaschin: Das Bewusstsein fehlt. Wenn wir von der breiten Gesellschaft sprechen, gibt es natürlich viel Propaganda auf beiden Seiten und es ist sinnlos darüber zu sprechen, was die Bevölkerung in westlichen Ländern allgemein über Russland aktuell denkt. Ihnen fehlen hier Informationen. Nicht, weil diese geheim sind, sondern weil sie einfach zu faul sind, sich für sie zu interessieren. Aber jeder, der an wichtigen Entscheidungen beteiligt ist oder an strategischer Planung versteht das reale System. Wir betrachten uns gegenseitig als Quelle der Bedrohung und das war schon immer so, außer in einer Phase wo Russland extrem geschwächt war. Diese dauerte etwas mehr als 10 Jahre, von den frühen 90ern bis zu den frühen 00er Jahren. Als diese Zeit anbrach, entschieden viele Politiker im Westen, dass das für immer so bleiben würde und Russland sich auflösen werde. Ich denke, allgemein waren die Stimmung und Hoffnungen in den USA und Europa, dass Russland von selbst verschwindet und wie die Sowjetunion implodiert und man sich dann über nichts mehr Sorgen machen müsste. Es kam anders und nun sollten die Erwartungen an die Realität angepasst werden.

„Man kann nicht Jahr für Jahr weitermachen und denken, es passiert schon nichts“

Ostexperte: Wie groß sehen Sie das Risiko eines militärischen Konflikts aufgrund eines Missverständnisses oder einer Fehlinterpretation einer der beiden Seiten?

Kaschin: So eine Gefahr gibt es und wir haben dafür ein gutes Beispiel: Den Konflikt zwischen Russland und Georgien im Jahr 2008. Wie wir wissen, waren 2008 weder Russland noch die USA an der Entstehung eines bewaffneten Konflikts im Südkaukasus interessiert. Genau da rief jedoch der georgische Präsident Saakaschwili jemanden in Washington an, einen nicht wirklich hohen Beamten. Der sagte etwas, was Saakaschwili missverstand und dieser befahl seinen Truppen den Einmarsch in Ossetien. Das Ergebnis war eine russische Militäraktion und alles nahm seinen Lauf. Georgien verlor dadurch einen bedeutenden Teil seines Territoriums, der Krieg veränderte die Welt. Eine Beziehung im Stil des Kalten Krieges, wie wir sie jetzt mit den USA und einigen ihrer Verbündeten haben, ist immer riskant. Man kann nicht Jahr für Jahr immer so weitermachen und denken, es passiert schon nichts. Es kann jederzeit zu einem bewaffneten Konflikt kommen, der zu einer unkontrollierten Eskalation wird. Das ist ein Risiko, aber wir haben keine andere Wahl, wir müssen unsere Sicherheitsinteressen wahren und werden diese so auf die eine oder andere Weise gewährleisten.

Ostexperte: Gibt es Themen zwischen der NATO und Russland, in der Vereinbarungen getroffen werden können, um Spannungen abzubauen?

Kaschin: Ich denke, dass wir in den allermeisten Bereichen echt Chancen haben, Einigungen zu erzielen.Basierend auf den bisher veröffentlichten Materialien sind die Vereinigten Staaten bereit, viele Themen zu besprechen. Fragen des Einsatzes oder Nichteinsatzes von Waffen, Beschränkungen bestimmter militärischer Aktivitäten in Osteuropa. Es gibt Themen, bei denen es schwierig ist, einen Konsens zu erzielen. Etwa die Frage der NATO-Erweiterung. Aber wir wissen, dass in naher Zukunft niemand die Ukraine in die NATO aufnehmen will. Darüber hinaus kann die Frage der Aufnahme der NATO im juristischen Sprachgebrauch so gelöst werden, dass alle ihr Gesicht wahren. Alles kann sich beispielsweise auf die Umsetzung der Minsker Vereinbarung durch die Ukraine konzentrieren. Aber auch wenn sie umgesetzt ist, wird eine Mitgliedschaft der Ukraine in die NATO technisch weiter unmöglich sein. Etwa die gleiche Situation haben wir in Moldawien. Dort können Probleme aber auch so gelöst werden, dass einerseits die territoriale Integrität wiederhergestellt wird, andererseits eine NATO-Mitgliedschaft ausgeschlossen wird. Ich denke, mit genug Kreativität können wir uns einigen. Es ist eher eine Frage des politischen Willens, denn all diese Prinzipien sind abstrakt, bedeuten kaum etwas oder können umgangen werden.

Ostexperte: Wenn alle Verhandlungen scheitern, wie kann Russland dann auf mögliche Bedrohungen durch die NATO reagieren?

Kaschin: Es gibt bereits bestimmte Optionen: Eine militärtechnische Antwort, die Stationierung neuer Waffentypen und -klassen im Westen unseres Landes. Wahrscheinlich Mittelstreckenraketen, die aktuell entwickelt werden. Vielleicht gibt es Änderungen bei der Einsatzreihenfolge von Atomwaffen durch einige Arten von taktischen Nuklearwaffen. Die aktuellen militärischen Aktivitäten werden fortgesetzt, einschließlich aller Manöver und Truppenbewegungen. Die Gegenseite wird darauf reagieren müssen, egal wie sie unsere Ziele und Pläne bewertet. Sie wird Ressourcen von anderen Schauplätzen abziehen müssen, die für sie eigentlich wichtiger sind. Wir werden noch lange großen Druck auf die Amerikaner ausüben. Wir werden Hindernisse für ihre globale Strategie schaffen, die sich eigentlich auf den Kampf gegen China konzentriert.

Ostexperte: Gibt es Möglichkeiten, die von der NATO nicht schon wieder als neue russische Bedrohung empfunden werden?

Kaschin: Wir werden unsererseits militärische Spannungen dauerhaft erzeugen.

OstexperteAber das wird dort als russische Aggression gesehen.

Kaschin: Ja. Aber es ist wichtig zu verstehen, dass unser Dialogpartner nicht die NATO als Ganzes ist, sondern die Vereinigten Staaten. Der Punkt ist, dass es wichtig ist, alles was in Europa passiert, als Teil der Geopolitik der USA und der globalen Konfrontation zwischen Großmächten zu sehen. Es geht jetzt nicht nur um Europa, dieses ist Teil eines größeren, weltweiten Gefüges. Soweit ich es verstehe, die Handlungen unserer Regierung, besteht unsere Aufgabe darin, die Kosten einer Konfrontation mit uns für die USA so hoch zu halten, dass sie Kompromisse eingehen. Wenn nötig, können wir sie noch viele Jahre so unter Druck setzen. Letztendlich würden sie dann den Kampf mit China im Pazifik verlieren und auch den zweiten Kalten Krieg, der damit zu Ende ginge.

Die Fragen stellte Irina Scherbakowa.

Das Interview wurde auszugsweise erstmals veröffentlicht in der Co-Produktion von Ostexperte.de mit russland.TV: „Kommt der große Russlandkrieg“ mit Ariana Bathon. Link zum Video.

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