Die zweite Rede des Wladimir Putin

15 Jahre nach der Münchner Sicherheitskonferenz 2007 

Der russische Angriffskrieg auf das Zentralterritorium der Ukraine ist völkerrechtswidrig und durch nichts zu rechtfertigen. Dieser Krieg hat allerdings eine jahrzehntelange Vorgeschichte. Ein Blick auf die Warnungen Wladimir Putins vor 15 Jahren. 

von Leo Ensel 

Die zweite große Rede, die der russische Präsident Wladimir Putin in Deutschland am 9. Februar 2007 auf der Münchner Sicherheitskonferenz hielt, fiel nicht nur im Inhalt, sondern auch im Ton deutlich anders aus, als seine erste Rede, die er kurz nach 9/11 am 25. September 2001, überwiegend in deutscher Sprache, in Berlin im Deutschen Bundestag gehalten hatte. Putins erste Rede war ein leidenschaftliches Angebot Russlands zur Kooperation mit dem Westen, insbesondere mit Deutschland, nach dem glücklichen Ende des Kalten Krieges gewesen. Wer ihm genauer zuhörte, konnte zwar bereits zu diesem Zeitpunkt ein gewisses Unbehagen über den Umgang des Westens mit seinem Land heraushören:  

„Wir leben weiterhin im alten Wertesystem. Wir sprechen von einer Partnerschaft. In Wirklichkeit haben wir aber immer noch nicht gelernt, einander zu vertrauen. Trotz der vielen süßen Reden leisten wir weiterhin heimlich Widerstand. Mal verlangen wir Loyalität zur NATO, mal streiten wir uns über die Zweckmäßigkeit ihrer Ausbreitung. Wir können uns zum Beispiel immer noch nicht über die Probleme im Zusammenhang mit dem Raketenabwehrsystem einigen.“  

Aber diese Bemerkungen blieben Inseln in einem wahren Liebeswerben um eine erfolgversprechende russisch-deutsche Zusammenarbeit auf den unterschiedlichsten Ebenen. 

Von Berlin (September 2001) bis München (Februar 2007)

 Knapp fünfeinhalb Jahre später hielt Putin im Münchner Hotel „Bayerischer Hof“ eine Rede, die in den westlichen Narrativ als „Brandrede“, gar als „Beginn eines neuen Kalten Krieges“ eingehen sollte. Schauen wir uns zunächst an, was sich in der Zwischenzeit im westlich-russischen Verhältnis geändert hatte: 

 Zweieinhalb Monate nach dem Angebot des russischen Präsidenten kündigten die USA – ohne von irgendeiner Seite dazu provoziert worden zu sein – am 13. Dezember 2001 einen der zentralsten Verträge der noch während des ersten Kalten Krieges mühevoll über Jahrzehnte mit der Sowjetunion ausgehandelten Rüstungskontrollarchitektur, den „Anti-Ballistic-Missiles-Treaty“ (ABM-Vertrag), der für beide Supermächte die Zahl der Raketenabwehrsysteme auf jeweils eine Stellung begrenzt hatte, um die wechselseitig gesicherte Zweitschlagskapazität offenzuhalten. Die USA wollten freie Fahrt für ihren spätestens seit Anfang 1999 in Planung befindlichen globalen Raketenabwehrschirm Aegis, der sich angeblich gegen Raketen aus „Schurkenstaaten“ wie dem Iran und Nordkorea richten sollte. Spätestens im Frühjahr 2005 begannen die USA mit konkreten Sondierungen für zwei Module in Polen und Tschechien, während Russland darüber lediglich informiert wurde. Am 20. März 2003 fielen die USA und Großbritannien mit ihrer „Koalition der Willigen“ auf der Basis gefälschter „Beweise“ in den Irak ein – ein völkerrechtswidriger Angriffskrieg, dem, Schätzungen zufolge, über 100.000 Zivilisten zum Opfer fielen.  

 Am 29. März 2004 traten im Rahmen der zweiten Osterweiterung sieben weitere Staaten – Estland, Lettland, Litauen, die Slowakei, Slowenien, Rumänien und Bulgarien – der NATO bei. Damit hatte sich das westliche Bündnis direkt an die Grenze Russlands ausgedehnt. War die erste NATO-Osterweiterung im März 1999 noch mit der NATO-Russland-Grundakte notdürftig abgefedert worden, wurde Russland dieses Mal nur noch vor vollendete Tatsachen gestellt. Der A-KSE-Vertrag, der die konventionellen Streitkräfte in Europa auf ein präzedenzlos niedriges Niveau begrenzte, wurde im Jahre 2004 von Russland, Belarus, der Ukraine und Kasachstan ratifiziert – allerdings nicht von den NATO-Staaten. Und auf dem EU-Russland-Gipfel im November 2006 scheiterte ein weiteres Partnerschaftsabkommen am Veto Polens. 

 Es hatte sich also im westlich-russischen Verhältnis bereits eine Menge aufgetürmt, als Präsident Putin am 9. Februar auf der Münchner Sicherheitskonferenz das Podium1 betrat. 

 Die unipolare Welt: „Niemand fühlt sich mehr sicher!“ 

 Der russische Präsident begann seine Rede2 durchaus moderat, fast entschuldigte er sich gar für die folgenden Ausführungen: 

 „Das Format der Konferenz gibt mir die Möglichkeit, der ‚übertriebenen Höflichkeit‘ zu entgehen, mit geschliffenen, angenehmen, aber leeren diplomatischen Worthülsen sprechen zu müssen. Es erlaubt, das zu sagen, was ich wirklich über die Probleme der internationalen Sicherheit denke. Und wenn meine Überlegungen meinen Kollegen allzu polemisch oder ungenau erscheinen, ärgern Sie sich bitte nicht über mich – es ist doch nur eine Konferenz.“ 

 Doch dann kam Putin zur Sache. Ausgehend von der zentralen Maxime der Charta von Paris, dem Prinzip der allumfassenden, unteilbaren Sicherheit, kritisierte er die monopolare Welt, die die USA nach dem Ende des Kalten Krieges de facto angestrebt hätten: 

 „Es ist die Welt eines einzigen Hausherren, eines Souveräns. Und das ist am Ende nicht nur tödlich für alle, die sich innerhalb dieses Systems befinden, sondern auch für den Souverän selbst, weil es ihn von innen zerstört. Das hat natürlich nichts mit Demokratie gemein. Nebenbei gesagt, lehrt man uns – Russland – ständig Demokratie. Nur die, die uns lehren, haben selbst, aus irgendeinem Grund, keine rechte Lust zu lernen.“ 

 Die Kriege, die lokalen und regionalen Konflikte seien nicht weniger geworden. Es stürben sogar bedeutend mehr Menschen als früher: 

 „Heute beobachten wir eine fast unbegrenzte, hypertrophe Anwendung von Gewalt – militärischer Gewalt – in den internationalen Beziehungen, einer Gewalt, welche eine Sturmflut aufeinander folgender Konflikte in der Welt auslöst. Im Ergebnis reichen dann nicht die Kräfte für eine komplexe Lösung wenigstens eines dieser Konflikte.“  

 Wer sich die bis heute katastrophalen Folgen des Irak-Krieges vor Augen führt, der unter anderem nichts weniger als den Islamischen Staat zur Konsequenz hatte oder die westliche Militärintervention in Afghanistan, die von der Talibanherrschaft zur Herrschaft der Taliban führte, wird dem russischen Präsidenten hier unschwer Recht geben. Aber Putin kritisierte auch die fortlaufenden Völkerrechtsbrüche durch die USA: 

 „Wir sehen eine immer stärkere Nichtbeachtung grundlegender Prinzipien des Völkerrechts. Mehr noch – bestimmte Normen, ja eigentlich fast das gesamte Rechtssystem eines Staates, vor allem, natürlich, der Vereinigten Staaten, hat seine Grenzen in allen Sphären überschritten: sowohl in der Wirtschaft, der Politik und im humanitären Bereich wird es anderen Staaten übergestülpt. Nun, wem gefällt das schon? Niemand fühlt sich mehr sicher!“  

 Dies wiederum verstärke den globalen Terrorismus und den Drang einer Reihe von Ländern nach dem Besitz von Massenvernichtungsmitteln, was Putin zu einer logischen Konsequenz führte, die heute – Mitte Februar 2022 – eine unüberbietbare Aktualität erlangt hat: 

 „Ich bin überzeugt, dass wir heute an einem Grenzpunkt angelangt sind, an dem wir ernsthaft über die gesamte Architektur der globalen Sicherheit nachdenken sollten.“ 

 Die Anwendung von Gewalt – dies eine indirekte, aber klare Anspielung auf die völkerrechtswidrigen Kriege des Westens gegen Jugoslawien, Afghanistan und den Irak – dürfe nur durch die Charta der UN legitimiert sein. Keinesfalls dürfe man etwa die UNO durch die NATO oder die EU ersetzen. 

„Abrüstungsstau“ und „asymmetrische Reaktionen“

 Im Anschluss daran kritisierte Putin den, wie er es nannte, „Abrüstungsstau“ in den internationalen Beziehungen und machte bereits erste Risse in dem 1987 zwischen Gorbatschow und Reagan abgeschlossenen INF-Vertrag aus, der den USA und der Sowjetunion den Besitz landgestützter Raketensysteme einer Reichweite zwischen 500 und 5.500 Kilometern untersagt hatte. Andere Staaten wie Nord- und Südkorea, Indien, Pakistan, der Iran und Israel würden dagegen bereits über solche Systeme verfügen. Und er beendete dieses Thema mit einem ominösen Satz: „Klar, dass wir unter solchen Bedingungen über die Gewährleistung unserer eigenen Sicherheit nachdenken müssen.“ 

 Putin warnte vor einer Militarisierung des Weltraums, der nichts weniger als den Beginn einer neuen Kernwaffenära zur Folge haben würde und dann wurde es richtig brisant:  

 „Uns beunruhigen auch Pläne zum Aufbau von Elementen eines Raketenabwehrsystems in Europa. Wer braucht eine neue Runde eines in diesem Falle unausweichlichen Wettrüstens? Ich zweifle zutiefst daran, dass es die Europäer selbst sind.“ 

 Staaten wie Nordkorea würden über Raketen einer Reichweite von 5.000 bis 8.000 Kilometern, die Europa gefährden könnten, gar nicht verfügen und der hypothetische Start einer nordkoreanischen Rakete in Richtung USA über Westeuropa hinweg, widerspreche allen Gesetzen der Ballistik. In der Diskussionsrunde nach seiner Rede führte Putin die Konsequenzen unmissverständlich aus: „Eine solche Politik ist ein Katalysator des Wettrüstens. Hypothetisch müssen wir annehmen, dass das Potenzial unserer Nuklearstreitkräfte durch den US-Raketenschirm neutralisiert werden wird, mit dem Ergebnis des Ende des Gleichgewichts.“ Russland bliebe nur die Wahl, entweder ebenfalls Milliarden in ein ballistisches Abwehrsystem zu investieren oder asymmetrisch zu reagieren, „weil wir dann Waffen haben werden, die ihm mit Leichtigkeit ausweichen werden. Und den Weg gehen wir, das ist billiger für uns.“ 

 Im Gegensatz zu Russland habe der Westen auch den A-KSE-Vertrag immer noch nicht ratifiziert. (Er machte es übrigens nie, worauf Russland den Vertrag im Dezember 2007 aussetzte und im März 2015 schließlich kündigte, nachdem die USA beschlossen hatten, für ein Manöver zeitweise 3.000 Soldaten ins Baltikum zu verlegen). Im Gegenteil: In Bulgarien und Rumänien entstünden sogenannte leichte amerikanische Vorposten-Basen mit jeweils 5.000 Mann. 

 „Das bedeutet, dass die NATO ihre Stoßkräfte immer dichter an unsere Staatsgrenzen heranbringt, und wir, die wir uns streng an den Vertrag halten, in keiner Weise auf dieses Vorgehen reagieren. Ich denke, es ist offensichtlich, dass der Prozess der NATO-Erweiterung ein provozierender Faktor ist, der das Niveau des gegenseitigen Vertrauens senkt. Gegen wen richtet sich diese Erweiterung? Und was ist aus jenen Versicherungen geworden, die uns die westlichen Partner nach dem Zerfall des Warschauer Vertrages gegeben haben?“ 

 Und Putin warnte vor neuen Mauern: „Jetzt versucht man, uns schon wieder neue Teilungslinien und Mauern aufzudrängen – wenn auch virtuelle, trotzdem trennende, die unseren gesamten Kontinent teilen. Soll es nun etwa wieder viele Jahre und Jahrzehnte dauern und den Wechsel von einigen Politiker-Generationen, um diese neuen Mauern zu ‚demontieren‘?“ 

 „Ein Hauch von Kaltem Krieg“ – Die Reaktion des Westens

 Als Putin seine Rede beendet hatte, herrschte im Auditorium zunächst konsterniertes Schweigen. Bis schließlich der Herausgeber der ZEIT, Josef Joffe, aufstand und in Richtung des russischen Präsidenten den vorwurfsvollen Satz schleuderte: „Sie sprechen die Sprache des Kalten Krieges!“ 

 Damit war der Grundton in den westlichen Medien bis auf den heutigen Tag gesetzt. In den Headlines der überregionalen deutschen Tageszeitungen war tags darauf nur noch vom „Hauch des Kalten Krieges“ die Rede, der das Auditorium des Bayerischen Hofs durchweht habe. Auf die Aussagen Putins inhaltlich genauer einzugehen, hielt niemand für nötig. Die Arroganz des Westens verhinderte es nicht nur, Putins Aussagen zu verstehen, nein: sie überhaupt verstehen zu wollen! 

 Unwillkürlich fragt man sich, wo wir heute stünden, hätte man die Brandrede des russischen Präsidenten damals ernst genommen und auf sie rechtzeitig reagiert. 

 Aber mit dem Scherbenhaufen und der unerbittlich folgenden neuen Aufrüstungsdynamik sind nun heute alle konfrontiert. 

Dieser Beitrag erschien zuerst bei RT Deutsch. Ostexperte.de bemüht sich um ein breites Meinungsspektrum. Debattenbeiträge und Kommentare müssen nicht die Sichtweise der Redaktion widerspiegeln.

Titelbild
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