Welche Rolle die Regionalmächte in dem Konflikt spielen
Der Südkaukasus wird in Berlin und Brüssel über einen Moskau-Blickwinkel betrachtet, wobei die Rolle der anderen Mächte vernachlässigt wird. Was Iran, Türkei und Israel für die Region in Aserbaidschan vorsehen – und wie das Russland beeinflusst.
Seit 1991 sind die südkaukasischen Länder Armenien und Aserbaidschan nach der Auflösung der UdSSR unabhängig. Während Armenien seine Unabhängigkeit am 21. September feiert, wird dieser bedeutende Tag in Aserbaidschan einen Monat später, am 18. Oktober, begangen. Aufgrund der Besatzung der Region Bergkarabach und der umliegenden sieben Provinzen wurde dennoch Aserbaidschans Souveränität verletzt. Der Krieg, der seit dem 27. September 2020 herrscht, kann als Kampf um die aserbaidschanische Souveränität eingestuft werden. Ob Aserbaidschan bis zum 18. Oktober diese Souveränität wiederherstellen wird, ist noch nicht abschätzbar.
Um die aktuellen Ereignisse besser verstehen zu können, sollte vorab die Rolle der regionalen Mächte bewertet werden. In der Südkaukasusregion spielen die Regionalmächte Russland, Iran, die Türkei und – paradoxerweise – auch Israel eine bedeutende Rolle. Leider wird der Südkaukasus in Berlin und Brüssel über einen Moskau-Blickwinkel betrachtet, wobei die Rolle der anderen Mächte aus mangelndem Wissen vernachlässigt wird.
Seit über 200 Jahren ist Russland entscheidender Spieler in der Region
Der aktuelle Krieg zwischen Armenien und Aserbaidschan betrifft unmittelbar die Interessen des Kremls. Russland und die europäischen Länder waren sich nach der Auflösung der UdSSR einig, dass der Südkaukasus zur russischen Einflusszone gehört. Die drei südkaukasischen Länder waren politisch sehr an Moskau gebunden. Georgiens Versuch, sich von der Abhängigkeit von Moskau zu lösen, hatte den Verlust von Südossetien und Abchasien zur Folge und deren Integration zu Russland. Die „Samtene Revolution“, die in Moskau oft als eine vom US-Milliardär George Soros finanzierte Kampagne bezeichnet wird, führte zum Machtwechsel in Jerewan, wobei der neue armenische Ministerpräsident Nikol Paschinjan einen prowestlichen politischen Kurs proklamierte. Die Realität sah aber komplett anders aus, denn wirtschaftlich und militärisch ist und bleibt Armenien von Russland weiterhin abhängig. Trotz dieser Abhängigkeit ließ Paschinjan einige prorussische Politiker, u. a. den ehemaligen armenischen Präsidenten Robert Kotscharjan, festnehmen. Es wurde außerdem ein Gesetz zur Einschränkung der ausländischen Fernsehsender angenommen, was sich auch auf viele russische TV-Sender negativ auswirkt. Andererseits versuchte Paschinjan mit seiner ungeschickten Diplomatie und durch militärische Provokation im Juli dieses Jahres in Richtung Tovuz (Aserbaidschan), Russland in den Konflikt einzubeziehen. Moskau und die Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit (kurz: OVKS) reagierten auf den Appell Armeniens zur militärischen Unterstützung gleichgültig. Die aktuelle erfolgreiche militärische Operation der aserbaidschanischen Armee in der Region Karabach sowie die Zerstörung der armenischen Militärtechnik bringen die derzeitige Regierung Armeniens in Zugzwang.
Bei den aktuellen Ereignissen verfolgt Moskau zwei Ziele:
1. Einerseits möchte Russland den Konflikt um die Region Bergkarabach und die umliegenden Provinzen endgültig lösen.
2. Andererseits möchte Russland aber Paschinjan mithilfe des gleichen Volkes, das sich noch vor zwei Jahren für den Ministerpräsidenten entschied, loswerden.
Somit hat Russland zwei wichtige Aufgaben im Südkaukasus. Die Entwicklung der Ereignisse in dieser Richtung ermöglicht Russland, weiterhin gute Beziehungen mit beiden Südkaukasusrepubliken zu pflegen, denn Armenien bleibt – unabhängig von dem Machtwechsel in Jerewan – weiterhin mit Russland verbunden. Die aserbaidschanische Regierung versteht die Rolle, die Russland in der Region einnimmt, daher wird Baku die guten Beziehungen mit Moskau nicht aufs Spiel setzen. Das erste Telefonat zwischen Ilham Aliyev und Wladimir Putin im Zuge der jüngsten Ereignisse fand am 07. Oktober statt, wobei der aserbaidschanische Präsident dabei seinem russischen Kollegen zum Geburtstag gratulierte. Inzwischen hat Paschinjan Putin mehrmals angerufen und um Hilfe gebeten, wobei die Reaktion aus Moskau weiterhin passiv war.
Comeback der Türkei in der Region
Seit der Etablierung der Sowjetunion war die Türkei als Spieler aus der kaukasischen Region ausgeschlossen. Nach dem Zerfall der UdSSR kam die Türkei erneut in die Region, wobei sich die Rolle der Türkei in der Region in den letzten Jahren verstärkt hat. Das war aufgrund diverser Projekte in Georgien und Aserbaidschan möglich, darunter die energetischen Projekte Baku-Tbilisi-Ceyhan (Ölpipeline), Baku-Tbilisi-Erzurum (Gaspipeline) und die Eisenbahnlinie Baku-Tbilisi-Kars. Die wirtschaftlichen Beziehungen stimulierten das politische Verhältnis, indem sich Aserbaidschan mehr an der Türkei orientierte und seine Militärtechnik durch türkisches Know-how modernisieren ließ. Historisch betrachtet erleben Baku und Ankara aktuell den Höchststand ihrer Beziehungen. Seit dem 16. Jahrhundert kämpften zwei türkischstämmige Reiche miteinander – das osmanische und das safawidische Reich. Nach der Auflösung des safawidischen Reiches kamen andere türkischstämmige Dynastien, die Afschariden und Kadscharen, die auch mit dem osmanischen und russischen Reich um den Kaukasus kämpften. Nachdem Russland das Kadscharenreich nach dem zweiten russisch-persischen Krieg besiegen konnte, etablierte sich Russland in Transkaukasien, während zwischen dem osmanischen-russischen Reich die Kämpfe um den westlichen Teil des Kaukasus weiter stattfanden. Nach dem Friedensvertrag von Brest-Litowsk vom 03. März 1918 kam das osmanische Reich erneut in den Kaukasus. Die osmanischen Truppen blieben nicht lang. Sie retteten aber dennoch Aserbaidschaner vor einem Massaker, das von armenischen Daschnaken und Bolschewiki im März verübt wurde. Ob sich bei dem aktuellen Krieg eine erneute Rettung Aserbaidschans durch die Türkei ergibt, ist schwierig zu beurteilen, da die Türkei Aserbaidschan eher politisch und diplomatisch unterstützt, wobei eine türkische Militärpräsenz nach der möglichen russischen Einmischung auch nicht ganz ausgeschlossen ist.
Iran bietet einen Friedensplan an
Obwohl Teheran offiziell die territoriale Integrität Aserbaidschans anerkennt, pflegt die Hauptstadt des Irans dennoch sehr gute Beziehungen zu Jerewan – zum Missfallen der Aserbaidschaner. Nach den Kämpfen im Juli des laufenden Jahres wurde bekannt, dass Russland über das Kaspische Meer und das iranische Territorium Militärtechnik nach Armenien transportiert hat. Das führte am 16. August zu einem Telefonat zwischen Aliyev und Putin, in dem der aserbaidschanische Präsident seine Besorgnis äußerte. Kurz nach dem Ausbruch des September-Krieges wurde in den aserbaidschanischen Nachrichten erneut verbreitet, dass über den Iran wieder russische Militärtechnik nach Armenien geliefert wird. Das Problem lag daran, dass der Transport über von Aserbaidschanern dicht besiedelte Gebiete im Norden des Irans stattfand. Diese Tatsache führte zur Empörung der im Iran lebenden Aserbaidschaner. Obwohl die offizielle iranische Statistik 20 % der Bevölkerung den Aserbaidschanern zuordnet, gibt es auch nicht bestätigte Informationen, die die Zahl der aserbaidschanischen Minderheit im Iran bis auf 35 Mio. schätzen. Diesmal fanden die Proteste nicht wie üblich im südaserbaidschanischen Zentrum Irans, in der Stadt Täbris, statt, sondern interessanterweise in der Hauptstadt Teheran, wo viele Aserbaidschaner die persische Kultur übernommen haben. Es ist davon auszugehen, dass die Proteste im Iran eine Auswirkung auf die iranische Regierung hatten. Um die Demonstranten zu beruhigen, wurden aus den unterschiedlichen Regierungskreisen Mitteillungen verbreitet, in denen Teheran darüber informierte, dass die territoriale Integrität Aserbaidschans offiziell zu respektieren sei und im Zuge dessen Armenien zur Befolgung der UN-Resolutionen aufrief. Um seine Macht in der Region hervorzuheben, schlug der Iran den beiden Konfliktparteien noch einen Friedensplan vor. Die Details dieses Plans wurden jedoch nicht bekanntgegeben.
Israel ist wesentlich präsenter als EU und USA
Dank der israelisch-aserbaidschanischen Zusammenarbeit ist Israel auch ein wichtiger Spieler in der Region. Viele europäische Experten vernachlässigen jedoch die Rolle Israels. Die israelische Waffenlieferung an Aserbaidschan verfolgt einige Sicherheitsinteressen beider Staaten:
- Sicherheit Aserbaidschans in der Region verstärken, um hier weiterhin Spieler zu sein
- eine Art der Reaktion auf die Mitstreiter Russland, den Iran sowie die Türkei, die sich an den Operationen im Nahen Osten aktiv beteiligen
In diesem Zusammenhang ergibt sich eine interessante Konstellation: das muslimische Aserbaidschan pflegt gute Beziehungen mit der Türkei und Israel, während das christliche Armenien mit Russland und dem Iran kooperiert.
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