Russland: Berufstätigkeit schützt nicht vor Armut
Jeder sechste Berufstätige in Russland lebt unter der Armutsgrenze. Das berichtet die russische Wirtschaftszeitung Wedomosti unter Bezugnahme auf Regierungsdaten.
Aus den Daten der staatlichen Statistikbehörde Rosstat geht hervor, dass der Lohn von 22 Millionen Beschäftigten im ersten Quartal 2017 unter dem staatlich festgesetzten Existenzminimum von 10.329 Rubel (rund 152 Euro) liegt. Das sind 15 Prozent der Bevölkerung und zwei Millionen Menschen mehr als im Vorjahr.
Dem Rosstat-Analysten Wladimir Trubin zufolge sei ein Entkommen aus der Armut auch dann kaum möglich, wenn mehrere Familienmitglieder arbeiten. Um das Einkommen deutlich zu steigern, müsse ein neuer Beruf erlernt, das Bildungsniveau erhöht oder ein Umzug in Betracht gezogen werden. Der russische Arbeitsmarkt biete jedoch nicht genügend freie Stellen mit einem höheren Gehalt.
Frauen mit Kindern besonders stark betroffen
Die Mehrheit der armen Berufstätigen sind Personen mit Kindern. Nach Einschätzung von Rostislaw Kapeljuschniko, stellvertretender Direktor des Zentrums für Arbeitsstudien an der Higher School of Economics, sind die unter dem Existenzminimum lebenden Russen vor allem im Haushaltssektor zu finden. In diesem sind überwiegend Frauen, ältere Menschen und Personen mit geringerer Bildung tätig.
Der Anteil armer Arbeitnehmer im öffentlichen Sektor ist laut Rosstat viermal höher als im Privatsektor. Diese Kluft wachse: 2011 seien es nur doppelt so viele Personen in staatlicher Anstellung gewesen. Der russische Staat spare Löhne ein und deshalb sei damit zu rechnen, dass ihm in Zukunft ein Personalmangel drohe. Derzeit sind zwei Drittel der Beschäftigten bei privaten Unternehmen angestellt. Die Privatwirtschaft biete den Anreiz zusätzlicher schwarz gezahlter Gehälter.
Schwäche der russischen Mittelschicht
Lilia Owtscharowa, Direktorin des Instituts für Sozialpolitik an der Higher School of Economics, ist der Ansicht, dass eine so große Zahl von Armen auf eine Schwäche der russischen Mittelschicht hinweist: Hochqualifizierte Arbeitnehmer, die über Fachwissen verfügen, würden ihre Stellen zugunsten niedrig qualifizierter Tätigkeiten, für die keine besonderen Kenntnisse notwendig seien, aufgeben. Dies geht auch aus dem Jahresbericht 2015 der Beauftragten für Menschenrechte der Russischen Föderation hervor. Junge Facharbeiter wechselten in den Dienstleistungssektor, in dem sie mehr Geld für einfachere Arbeit bekämen. Niedrige Gehälter sorgten daher für einen Fachkräftemangel in bestimmten Branchen.
Laut Angaben der Unternehmensberatung Boston Consulting Group verdient ein Arzt in Russland durchschnittlich nur 20 Prozent mehr als ein Fahrer, während der Unterschied in den USA 261 Prozent, in Deutschland 172 Prozent und sogar in Brasilien 174 Prozent beträgt.
Mindestlohn liegt unter dem Existenzminimum
Der russische Mindestlohn liegt seit dem 1. Juli 2017 bei 7.800 Rubel (etwa 115 Euro). Das Existenzminimum beträgt jedoch 10.329 Rubel (rund 152 Euro). Das bedeutet, dass der Mindestlohnempfänger weniger Geld hat, als er eigentlich zum Leben bräuchte.
Seit 2002 ist im russischen Arbeitsgesetzbuch verankert, dass der Mindestlohn nicht unter dem Existenzminimum der erwerbsfähigen Bevölkerung liegen darf. Diese Vorgabe wird seit Jahren nicht erfüllt, obwohl der Mindestlohn seit 2002 mehrfach erhöht wurde.
Im September hat Präsident Putin angekündigt, den Mindestlohn mit dem Existenzminimum gleichzusetzen. Eine Woche später billigte die russische Regierung eine entsprechende Gesetzesvorlage: Ab dem 1. Januar 2018 wird der Mindestlohn auf 85 Prozent des Existenzminimums der Erwerbstätigen angehoben, ab dem 1. Januar 2019 auf 100 Prozent.
Wachstum der Schattenwirtschaft
Der Rosstat-Analyst Trubin ist überzeugt, dass eine Angleichung des Mindestlohns mit dem Existenzminimum das Problem der Armut nicht lösen wird: Der Mindestlohn werde mit Hilfe eines Korbs aus Waren und Dienstleistungen berechnet, der nicht dem „rationalen Verbrauch eines gesunden Menschen“ entspreche.
Der Analyst fügt hinzu, dass arme Menschen nicht die Motivation haben, ihre Arbeitsproduktivität zu steigern. Viele Arbeitnehmer würden in die Schwarzarbeit wechseln. Zudem seien Unternehmen angesichts günstiger Arbeitskräfte nicht daran interessiert, neue Technologien einzuführen und die Produktionstechnik zu verbessern.