Warum Armenien auf Russland angewiesen ist

Warum Armenien ohne Russland nicht auskommen wird

Armenien befindet sich inmitten von mehrwöchigen Protesten gegen die Republikanische Partei Armeniens. Die Demonstrationen haben bereits zum Rücktritt von Ministerpräsident Sersch Sargsjan geführt und verleihen der Regierung eine völlig neue Nuance. Bisher ist unklar, wie sich die Situation entwickeln wird. Doch es gibt eine Vielzahl von grundlegenden geopolitischen Motiven, die eine wichtige Rolle im Land spielen. 

Ein Gastkommentar von Emil Avdaliani, Experte für Geschichte und Internationale Beziehungen in Tiflis, in einer leicht gekürzten Fassung für Ostexperte.de.


Im Vergleich zu seinen Nachbarländern wird Armenien deutlich stärker von externen Umständen beeinflusst. Dies liegt unter anderem an der Armut und der militärischen Schwäche des Landes. Jerewan ist eng verknüpft mit Moskau, die Russen kontrollieren einen großen Teil der strategischen Infrastruktur Armeniens. Proteste im Inland, die außer Kontrolle geraten, könnten die Position des Kremls gefährden. Zudem besteht die Gefahr vor einer Eskalation durch ein Aneinandergeraten von Armenien und Aserbaidschan im Bergkarabachkonflikt.

Entgegen seiner Neutralitätsbeteuerungen scheute Oppositionsführer Nikol Paschinjan bisher keine Mühe, um die Wichtigkeit Russlands als Schlüsselpartner für Armenien in Wirtschafts- und Energiefragen zu betonen. Als er letzte Woche mit früheren kritischen Aussagen zur von Moskau angeführten Eurasischen Wirtschaftsunion (EAWU) konfrontiert wurde, ruderte Paschinjan zurück und erklärte diplomatisch, dass er diese Ansicht als Premierminister aus einer anderen Perspektive betrachten würde.

Doch der entscheidende Punkt ist der militärische Aspekt der armenisch-russischen Kooperation. Russland verkauft seine Waffen sowohl an Armenien als auch an Aserbaidschan. Dieses zweiseitige Spiel verursachte bei den Armeniern nicht nur Unzufriedenheit, sondern stellte in der Vergangenheit häufig die Effektivität der Allianz mit Moskau infrage. Dies wurde vor allem 2016 im Zuge einer Eskalation des Bergkarabachkonfliktes deutlich, da Aserbaidschan seine militärischen Kapazitäten aufgrund von Waffenlieferungen aus Russland erheblich verbessern konnte.

Eingeklemmt zwischen Türkei und Aserbaidschan

Trotzdem fällt es Jerewan schwierig, auf Distanz zu Russland zu gehen, weil Armenien zwischen zwei Feinden eingeklemmt ist: Türkei und Aserbaidschan. Ohne militärische Hilfe und diplomatische Unterstützung aus Russland wäre es schwierig für Armenien, den Status quo in den besetzen Territorien zu bewahren. Baku würde sein Einschreiten kaum hinauszögern und auch wenn die Türkei ihren Bündnispartner Aserbaidschan nicht militärisch unterstützt, so würde Ankara bestimmt mit anderen Mitteln aushelfen.

Daher ist die russische Präsenz in Armenien von einem höheren geopolitischen Standpunkt aus betrachtet wichtig für die Sicherheit des Landes, und jede neu gewählte Regierung hätte keine andere Wahl, als dies zu berücksichtigen. Hypothetisch kann es nur ein Szenario geben, in dem Armenien keine russische Hilfe mehr benötigt: Eine Lösung des Bergkarabachkonfliktes zugunsten von Aserbaidschan und ein Rückzug von armenischen Streitkräften aus den besetzten Gebieten.

Moskau fürchtet Einflussverlust in Armenien

Russland hat nach wie vor eine starke Position in Armenien. Aber für den Kreml zeigen die aktuellen Proteste, dass sein Einflussbereich reduziert werden könnte. Demonstrationen, die zu Revolutionen führen, haben in der Vergangenheit den russischen Einfluss in Georgien, Moldawien und der Ukraine erheblich erschüttert.

Die Russen haben zurecht Angst vor der aktuellen Situation in Armenien, auch wenn dies in zahlreichen offiziellen Äußerungen bisher nicht deutlich zum Ausdruck gebracht wurde.

Historisch gesehen war eine der Grundlagen des russischen Einflusses auf der eurasischen Landmasse die Fähigkeit, Russland als Quelle des wirtschaftlichen und politischen Fortschritts zu positionieren. Selbst der Kommunismus mit all seinen fundamentalen Misserfolgen war für viele Nationen in Eurasien immer noch politisch attraktiv.

Egal wie die Auseinandersetzung in Armenien endet, das Land wird in Zukunft ständig mit internen Konflikten zu kämpfen haben, weil die Armenier ihren russischen Verbündeten zunehmend als Problem betrachten. Doch obwohl die Unzufriedenheit zunimmt, hängt letztlich alles von den geopolitischen Interessen des Landes ab: Ohne russische Hilfe wird Jerewan dem Druck der Türkei und Aserbaidschans nicht standhalten können.

Auch Moskau hat ein großes Interesse, seinen Einfluss in Armenien zu bewahren. Das Land dient als Vorposten des militärischen und wirtschaftlichen Einflusses Russlands im Südkaukasus und als Instrument zur Beeinflussung der türkischen und iranischen Politik in der Region. Zudem unterhält Russland eine wichtige Militärbasis in Armenien.

Russische Militärpräsenz in Südkaukasus

Die russische Langzeitstrategie ist ziemlich simpel: Es geht darum, möglichst viele Militärstützpunkte in der Region zu entwickeln. Die Militärbasis in Armenien gilt als entscheidend zur Vorbeugung einer westlichen Militärpräsenz im Südkaukasus, insbesondere in Georgien. In der Tat zeigt ein kurzer Blick auf die Karte des Südkaukasus, dass die russische Gjumri-Basis gemeinsam mit den Militärbasen in Südossetien sowie Abchasien Tiflis umringen. Diese Information ist wichtig, wenn wir über eine mögliche Erweiterung der NATO im Südkaukasus diskutieren, weil dies eine direkte militärische Konfrontation zwischen dem Westen und Russland verursachen könnte.

Armenien ohne Russland würde ein militärisch weniger zögerliches Aserbaidschan hervorbringen, was den Beginn neuer Feindseligkeiten um Berg-Karabach signalisieren würde. In diesem Szenario würde Jerewan wahrscheinlich Schwierigkeiten haben, seine Positionen zu verteidigen.

Eine unterminierte russische Position in Armenien würde sich direkt auf die Fähigkeit Russlands auswirken, Aserbaidschan zu beeinflussen. Aserbaidschan hätte aufgrund seiner strategischen Lage am Kaspischen Meer und seiner Lage zwischen Russland und dem Iran, die eine große Exportmöglichkeit für Gas und Öl bietet, mehr außenpolitische Möglichkeiten, falls Russland seinen Einfluss auf den Berg-Karabach-Prozess abschwächen würde.

Gespräche über transkaspische Pipeline

Es würde fast dem Domino-Prinzip folgen. Ein stärkeres Aserbaidschan würde auch die Gespräche über die transkaspische Pipeline beleben – obwohl dieser Prozess freilich auch von anderen Faktoren wie der russischen Militärpräsenz beeinflusst wird, die Angelegenheiten am Kaspischen Meer bestimmen kann. Auch Georgien würde in seinen prowestlichen Bestrebungen weniger Angst haben und immer lauter werden. Ein insgesamt schwächeres Russland im Südkaukasus würde auch die Position der Türkei in der Region stärken und das wichtige trilaterale Format Türkei-Georgien-Aserbaidschan verbessern.

Daher ist es im Moment sehr unwahrscheinlich, dass Armeniens Außenpolitik in Frage gestellt wird. Selbst Protestführer Paschinjan erklärte auf zahlreichen Pressekonferenzen, dass von Armenien keine großen geopolitischen Veränderungen zu erwarten seien.

Die Russen werden sehr daran interessiert sein, Armenien in ihren Reihen zu bewahren. Darüber hinaus verstehen viele, wenn nicht sogar die Mehrheit der Armenier allzu deutlich, dass es für ihr kleines Land äußerst schwierig sein würde, einem zweigleisigen Bündnis zwischen der Türkei und Aserbaidschan zu widerstehen. Die Sicherheit Armeniens hängt von der Stärke der russischen Truppen in Gjumri ab.


Emil Avdaliani lehrt Geschichte und internationale Beziehungen an der Staatlichen Universität Tbilisi und der Ilia State University. Er hat für verschiedene internationale Beratungsunternehmen gearbeitet und veröffentlicht derzeit Publikationen über militärische und politische Entwicklungen auf dem eurasischen Kontinent. Dieser Beitrag erschien zuerst bei bne IntelliNews.

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