„In einem Punkt muss man vor Merkel den Hut ziehen“

„Ohne Merkel würde es kein Normandie-Format und keinen Minsker Friedensprozess geben“

Ein Gastbeitrag von Alexander Rahr


Zweifelsohne hat sich Angela Merkel in ihren zwölf Regierungsjahren von den Prinzipien der Russlandpolitik ihrer Vorgänger – Helmut Schmidt, Helmut Kohl, Gerhard Schröder – entfernt. Alle vorangegangenen Bundeskanzler respektierten die Sowjetunion (später Russland) als europäische Großmacht und suchten – auch im Kalten Krieg – nach einem strategischen Ausgleich mit Moskau in Europa.

Der OSZE-Prozess war dafür ein Beispiel. Für alle Bundeskanzler vor 2005 war klar, dass ein gesamteuropäischer Frieden nur mit und nicht gegen Moskau erreicht werden konnte. Eine historische Aussöhnung mit Russland nach dem Ende des Kalten Krieges galt als Axiom deutscher Russlandpolitik.

Es gibt objektive und subjektive Gründe, warum sich Merkel von der Leitlinie ihrer Vorgänger entfernte. Manche vermuten, schuld daran sei ihre ostdeutsche Biographie. Aber sie ging nicht so weit wie Ex-Bundespräsident Joachim Gauck, der von Russland dieselbe Art von Buße für die Verbrechen des Kommunismus forderte, wie von Deutschland für die Gräuel des Nationalsozialismus. Vermutlich wurde Merkel in einer anderen Zeit Kanzlerin, als es keine deutsche – sondern nur noch eine europäische Russlandpolitik geben konnte.

Der Beginn ihrer Kanzlerschaft fiel genau in die Zeit größter institutioneller Veränderungen in Europa: die ehemaligen Warschauer Pakt Staaten Mittelosteuropas und die drei Baltischen Länder traten den Führungsgremien von EU und NATO bei. Die Eliten dieser Länder, anti-russisch geprägt, übertrugen ihre Sichtweise auf die alten Mitglieder des westlichen Bündnisses.

Rache statt Versöhnung

Statt einer von Westeuropa gewollten Versöhnung mit Russland, wollten sie Rache nehmen für die 45-jährige sowjetische Okkupation. Der Beginn ihrer Kanzlerschaft fiel ebenfalls in die Zeit, wo zwischen den USA und Russland ein neuer geopolitischer Konflikt um die Stationierung von amerikanischer Raketenabwehr in Mittelosteuropa Streit entfachte.

Um den deutschen Führungsanspruch in der EU und NATO nicht aufs Spiel zu setzen, entschied die Kanzlerin, in der Russlandpolitik die kritische Sichtweise der neuen NATO/EU-Mitgliedsstaaten zu übernehmen, um die immer schwieriger werdende Konsenssuche in außenpolitischen Fragen im Bündnis nicht zu gefährden. Den Amerikaner erlaubte sie, trotz gegenteiligem Bundestagsbeschluss, ihre atomaren Kurzstreckenraketen auf deutschem Boden weiter zu stationieren.

Merkel sprach sich mit ihrem Machtantritt für eine hundertprozentige Loyalität und Gefolgschaft gegenüber den USA aus. Die verheerende Situation wie während des Irak-Krieges, als sich Deutschland und Frankreich mit Russland gegen die USA stellten, durfte sich niemals wiederholen; eine erneute Spaltung des Westens in einer sicherheitspolitischen Frage wollte Merkel um jeden Preis vermeiden.

Politik unter Donald Trump

Heute, wo die transatlantischen Beziehungen wegen der Politik des neuen US-Präsidenten Donald Trump immer brühiger werden, wird sich Merkel nun selbst von der obersten westlichen Führungsmacht und ihrem früheren Versprechen, für immer an der Seite Amerikas zu stehen „egal was komme“, emanzipieren müssen.

Kritische Leser werden einwenden, es sei nicht Merkels Schuld, dass unter ihrer Kanzlerschaft Russland sich vom Freund zum Gegner entwickelte. Tatsächlich begann Merkels Kanzlerschaft mit einer Verschlechterung der russisch-ukrainischen Gegensätze. Der Gaskonflikt berührte auch die EU. Merkels Vorgänger Schröder hätte diplomatische Wege gefunden, den Energiekonflikt zwischen Moskau und Kiew zu schlichten.

Merkel überließ die Sache der EU-Kommission, die sich, unter dem Einfluss der neuen EU-Bürokraten aus den mittelosteuropäischen Ländern, rasch auf die Seite der Ukraine schlug. Nach dem Gasstreit folgten weitere Konflikte – mal ging es um polnisches Fleisch, mal um ein Kriegerdenkmal in Estland, dann wieder um den Militärkonflikt in Süd-Ossetien, die amerikanische Raketenabwehr, die Unabhängigkeit des Kosovo, „bunte Revolutionen“ im postsowjetischen Raum, den „arabischen Frühling“ und so weiter.

Neue liberale Weltordnung

Als in den USA der Demokrat Barack Obama mit einer neuen globalen Menschenrechtsagenda Präsident wurde, glaubte Merkel die Chance zu erkennen, gemeinsam mit ihm an einer neuen universalen liberalen Weltordnung zu bauen. Merkels Außen- und vor allem ihre Russlandpolitik orientierten sich stark an liberalen Werten.

Da Merkel für ihre zweite Amtsperiode eine Regierungskoalition mit den Grünen anpeilte (und ein grüner Politiker dann Außenminister geworden wäre), suchte sie mit den tugendmoralischen Positionen der Grünen den Schulterschluss. Einer von der SPD immer wieder angemahnten Neuauflage der Ost- und Friedenspolitik gegenüber Moskau erteilte sie eine stille Absage.

Deutschland kündigte sogar die Modernisierungspartnerschaft mit Russland, weil der Kreml sich anscheinend endgültig von liberalen Werteauffassungen des Westens verabschiedete. Merkel wollte künftig nur auf der Basis gemeinsamer Werte mit Russland kooperieren, die Grünen setzten gar auf einen Regime-change in Moskau.

Statt über einen schwierigen Dialog mit Russland nach dem Weg zu einer gemeinsamen europäischen Friedensordnung zu suchen, verinnerlichten die deutschen Eliten die Weltanschauungen der im Kommunismus gelitten habenden mittelosteuropäischer Staaten, nach denen Russland immer der eindeutige Aggressor und die Staaten zwischen Deutschland und Russland die ewigen Opfer des sowjetisch-russischen Imperialismus waren und ihnen deshalb eine Wiedergutmachung zustand.

Die deutschen Leitmedien und Think-Tanks schwenkten auf diese Position ein, während elder statesmen wie Egon Bahr und Hans-Dietrich Genscher vergeblich vor der Erschaffung eines künstlichen Feindbilds Russland warnten.

In einem Punkt muss man allerdings vor Merkel den Hut ziehen. Sie hat alles getan, um einen schweren Konflikt zwischen Westen und Russland zu vermeiden. Dieser hätte nicht in der Ostukraine, sondern schon sechs Jahre früher eintreten können. Auf dem NATO-Gipfel in Bukarest 2008 stellte sich die Bundeskanzlerin gegen eine NATO-Erweiterung auf die Ukraine und Georgien.

Als Wladimir Putin dem liberaleren Dmitrij Medwedew das Präsidentenamt überließ, versuchte sie mit ihm die lodernden territorialen Konflikte im postsowjetischen Raum durch den sogenannten Meseberg-Prozess zu lösen. Eine angedachte Stärkung der OSZE und die Schaffung neuer Konsultationsmechanismen zwischen Russland und dem Westen kamen aber nicht zustande, auch weil die übrigen europäischen Verbündeten Berlin hier nicht unterstützten.

Merkel zeigte sich auch reserviert gegenüber einer neuen „östlichen Partnerschaft“ der EU, die von Russland-kritischen Staaten wie Großbritannien, Schweden, Polen und den drei Baltischen Staaten erfunden wurde, um die Länder zwischen EU und Russland durch Assoziierungsverträge an den Westen zu binden und Russland nach Asien abzudrängen.

Beginn der Ukraine-Krise

Die fehlgeleitete „östlichen Partnerschaft“ endete 2013 in der Ukraine in einem Desaster. Russland und die EU standen sich plötzlich in der Ukraine als Kriegsparteien gegenüber. Merkel begriff die gefährliche Lage und übernahm mit Frankreich, ohne die Architekten der „östlichen Partnerschaft“ einzubinden, die Friedensregelung in der Ostukraine.

Ohne sie würde es kein Normandie-Format und keinen Minsker Friedensprozess geben. Sie verhinderte einen gesamteuropäischen Krieg, der viel verheerendere Auswirkungen gehabt hätte, als die Jugoslawien-Kriege der 1990er Jahre.

So solide Merkels Rolle als Krisenmanagerin war, umso irritierender ist ihr fehlgeleiteter Weitblick auf Russland. Statt mit aller Kraft am Projekt eines gemeinsamen Raumes von Lissabon bis Wladiwostok zu arbeiten, der ein gemeinsames Europa mit Russland erschließen würde, verfällt sie ständig in ihre moralisierende Werte-Litanei.

Statt die Möglichkeit zu ergreifen, mit Putin über globale Sicherheitsfragen, beispielsweise über eine Deeskalation im Informationskrieg und Kooperation im Cyber-Raum zu verhandeln, spricht sie von allen westlichen Regierungschefs am lautesten über Sanktionen und belehrt den Kremlchef über Menschenrechtsverletzungen in seinem Land. Putin fühlt sich vorgeführt, Merkel gewinnt den Applaus daheim – aber man kommt in den für Europas Sicherheit existenziellen strategischen Fragen nicht weiter.

Deutsche und russische Auffassungen können heute unterschiedlicher nicht sein. Merkel fordert von Russland die bedingungslose Rückkehr zu den liberalen Prinzipien der Pariser Charta. Oft bekommt man angesichts bestimmter Aussagen deutscher und amerikanischer Politik- und Medienvertreter den Eindruck, dass man Putin, angesichts der demokratischen Defizite in seinem Land, die Machtlegitimität abspricht und nur mit einem Russland zusammenarbeiten möchte, dass zur Außenpolitik Michail Gorbatschows und Boris Jelzins zurückkehrt.

Russland fordert, dass Deutschland sich von den USA emanzipiert und statt einem transatlantischen Europa auf ein Kontinentaleuropa setzt. Einem Kontinentaleuropa würde Russland mehr Sympathie entgegenbringen, als einem transatlantischen. Während Merkel immer noch auf ein einflussreiches Werte-Europa als Modell für die Welt setzt, hat sich für Putin die Weltordnung längst verändert. Nicht mehr die USA und die EU geben in ihr den Ton an, sondern die neuen Kraftzentren Asiens, mit denen Russland Bündnisse schmiedet.

Wertorientierung oder Interessenpolitik?

Nach den Bundestagswahlen wird Merkel vor einer außenpolitischen Zäsur stehen. Inzwischen sitzen ihre Gegner nicht allein in Moskau, sondern auch in Washington, Ankara und in so manch anderer europäischen Metropole. Trump wird, wenn er nicht gestürzt wird, den Westen verändern, weg von einer Wertorientierung – hin zu einer pragmatischen Interessenpolitik einzelner Staaten. Die beiden angelsächsischen Mächte USA und Großbritannien verlassen Europa, mit der Türkei kann es jederzeit zum offenen Bruch kommen.

Merkel hofft, dass der französische Präsident Emmanuel Macron ein neuer Obama werden kann, mit dem zusammen sie die westliche Wertegemeinschaft in eine bessere Zukunft hinüberretten kann. Ihr Wunsch, sich notgedrungen auch ohne die USA als Wirtschaftsmacht und sicherheitspolitischer Block zu behaupten, ist verständlich, doch kaum zu realisieren. Es werden sich zahlreiche EU-Länder finden, die eine militärische Führung Amerikas nicht durch eine deutsch-französische tauschen wollen.

Die Menschen in Europa wachen plötzlich in einer veränderten geopolitischen Lage auf. Die traditionelle Schutz- und Atommacht USA ist weg – die zweite globale Atommacht, Russland, immer noch da und einflussreicher als noch vor Paar Jahren. Darüber hinaus fürchtet sich Merkel, dass Trump und Putin über die Köpfe der Europäer einen Deal über globale Sicherheitsfragen, etwa den Kampf gegen den Terrorismus, bewerkstelligen könnten.

Dialog über Sicherheit in Europa

Das heißt, dass der EU nichts anderes übrigbleiben wird, als – zum ersten Mal seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges – einen von amerikanischen Interessen losgelösten, eigenständigen Dialog über die europäische Sicherheit mit Russland zu führen. Aus einer Position der Stärke wird ein solcher Dialog kaum funktionieren.

Merkel wird aller Wahrscheinlichkeit nach den Bundestagswahlen im September Bundeskanzlerin bleiben. Danach steht sie vor einer riesigen Baustelle. Ihre Außenpolitik wird mehrere Vektoren benötigen: (1) Einigung auf gemeinsame europäische Nenner in der Sicherheitspolitik, (2) Neuausrichtung der transatlantischen Beziehungen, (3) Aufbau einer internationalen Anti-Terrorallianz angesichts zunehmender islamistischer Anschläge, (4) Intensivierung der Wirtschaftsbeziehungen zu China als Asiens Großmacht, (5) Konzeption eines „Gemeinsamen Raums von Lissabon bis Wladiwostok“. Der letzte Punkt wäre der Schlüssel zum europäischen Frieden mit Russland.

Titelbild
Fotoquelle: Kuebi = Armin Kübelbeck, Angela Merkel 04, Size changed to 1040×585 px., CC BY-SA 3.0
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