Stefan Semken und sein Einsatz für die Völkerverständigung
Einzelne Menschen sind nicht machtlos. Sie können unendlich viel auf die Beine stellen, wenn sie von einem Anliegen beseelt sind. Der Bremer Stefan Semken hat Unfassbares für die deutsch-russischen Beziehungen getan. Am 19. Juli starb er überraschend im Alter von 60 Jahren.
von Leo Ensel
Mit Anfang 40 befindet sich ein Mann an einem Wendepunkt seines Lebens. Bei dem Bremer Druckvorlagenhersteller Stefan Semken wird der schon vor zwanzig Jahren diagnostizierte Morbus Bechterew virulent. Zeitgleich geht es auch noch mit seiner Branche bergab. Im Jahre 2001 schließt er seinen Laden. Gerade noch rechtzeitig, wie er über ein Jahrzehnt später in einem Interview erzählen wird. Ein tiefer Einschnitt muss her.
Sibirien statt Jakobsweg
In einer Lebenssituation, in der Andere vielleicht in Indien einen Ashram besuchen, in einem japanischen Zen-Kloster abtauchen oder Hunderte von Kilometern auf dem Jakobsweg pilgern würden, entschließt sich Semken im Jahre 2003 für einen dreiwöchigen Extremurlaub in Russland. Also nicht Moskau oder St. Petersburg, sondern – was sonst? – Sibirien! Aber für Russland braucht man ein Visum und dafür eine Einladung. Kein Problem, Russen sind bekanntlich clever. Im Internet verkauft jemand Einladungen in sein Land. Auch eine Möglichkeit, ‚Business zu machen‘, sprich: in diesem krisengeschüttelten Land irgendwie zu überleben. Da die Internetseite nur auf Englisch und Französisch gehalten ist, bietet Semken dem Betreiber an, sie auch ins Deutsche zu übersetzen. Und als dieser erfährt, dass Semken nach Sibirien will, lädt der Russe ihn zu sich nach Jekaterinburg ein. Ist ja schließlich schon fast in Sibirien, dem – so heißt das nämlich wörtlich – ‚schlafenden Land‘.
Und dann kommt es, wie es kommen muss.
Semken fühlt sich dort unter der russischen Bevölkerung pudelwohl. Nach zehn Tagen lernt er eine Russin kennen und bleibt nicht drei Wochen, sondern gleich sechs. Anderthalb Jahre später heiraten die beiden. Und da weder Stefan noch Olga ihren Freundeskreis aufgeben wollen, einigen sie sich auf einen naheliegenden Kompromiss: Das Winterhalbjahr leben sie in Bremen und die wärmere Jahreshälfte im Ural. Im Jahr 2007 kauft sich das Ehepaar ein Bauernhaus, 80 Kilometer nördlich von Jekaterinburg und rund 1.500 Kilometer östlich von Moskau. Bingi heißt das Dreitausendseelendorf im Swerdlowsker Oblast, das nun für die kommenden Jahre Semkens zweite Heimat sein wird.
„D-Ru-schba“
Und weil Semken zum Frührentner nicht taugt und seine russische Ehefrau Olga ebenfalls sehr rührig ist, initiiert das Paar gleich ein ganzes Bündel an deutsch-russischen Aktivitäten, vor allem in den Bereichen „Charity“ und „Kultur“. Semken, das sieht man ihm schon äußerlich an, ist ein Mann der Tat, ein Macher. „D-Ru-schba“ tauft er sinnigerweise das Projekt, das er und Olga 2004 ins Leben rufen und „Nicht reden – handeln!“ lautet – wen wundert‘s? – das Motto.
„Ich bezeichne die deutschen Lebensumstände“, schreibt Semken auf der Website, „im Vergleich zum Großteil der Welt als paradiesisch.“ Konsequenz: „Teilen wir doch etwas von unserem Glück!“ Und so unterstützt „D-Ru-schba“ zum Beispiel drei schwer erkrankte russische Kinder. Die Semkens lassen eine deutsche Physiotherapeutin nach Bingi einfliegen, die dort zwei Tage lang russische Therapeutinnen vor Ort im Bobath-Konzept schult. Zwischen 2014 und 2019 organisiert „D-Ru-schba“ gleich drei Hörgeräteaktionen, bei denen aus Deutschland Hörgeräte in den Ural verfrachtet, dort kostenlos verteilt und von deutschen Hörgeräteakustikern individuell angepasst werden. 2020, im, wie Semken auf seiner Website schreibt, „75. Friedensjahr nach dem II. Weltkrieg“, folgt eine vierte Aktion, dieses Mal nicht nur in Russland, sondern auch in Belarus und Kirgistan. Und im September 2017 kommt auf Einladung des Projektes die Hospiz-Clownin Miriam Brenner nach Jekaterinburg, die dortige lokale Künstler und Clowns in der Arbeit mit schwer erkrankten Kindern anleitet. Das Projekt SMILE entsteht. Es folgen Nachfolgeprojekte 2018 und 2020 in Nischnij Tagil.
Ein deutsch-russischer Hotspot im Ural
Aber Charity-Aktionen sind, wie gesagt, nur das eine Bein von „D-Ru-schba“. Genauso wichtig sind die zahlreichen kulturellen Aktivitäten, die die Semkens in der Grenzregion zwischen Europa und Sibirien anleiern. Da bemalen Künstler 2013 ein achtstöckiges Gebäude in der Stadt Magnitogorsk, da macht 2015 ein Mr. Thomas aus Italien die Stadt Nischnij Tagil im Ural etwas bunter, und dann wird 2019 in derselben Stadt ein freies Theater eröffnet und 2020 auch noch ein Puppentheater gegründet. Dazu lädt „D-Ru-schba“ im Laufe der Jahre zahlreiche Künstler aus Deutschland und dem Westen Russlands zu Konzerten in die Region Swertlowsk ein. Überflüssig zu betonen, dass die Semkens ihre Aktivitäten professionell dokumentieren lassen und die Filme ins Netz stellen.
Kurz: Mitten im Ural, rund 100 Kilometer nördlich von Jekaterinburg entwickelt sich ein höchst attraktiver Hotspot deutsch-russischer Kultur- und Charity-Aktivitäten!
Und damit nicht genug. Stefan und Olga bauen ihr Bauernhaus in Bingi zur Pension aus. Sie besorgen aus Ulan Ude jenseits des Baikalsees einige Jurten und fangen an, rund um ihr Haus, Touristen zu beherbergen. 2014 haben sie schon jährlich um die hundert Gäste, die meisten aus dem westlichen Ausland.
Und die Semkens setzen sich für den Umweltschutz ein. In Bingi gibt es Goldminen, die mit Cyanid erschlossen werden sollen. Den Reibach machen große Unternehmen aus Moskau, die Erde in Bingi dagegen bleibt auf ewig verseucht. Stefan Semken dazu in einem Interview, Ende 2014:
„Ich hab den Dorfjungs gezeigt, wie man Protest organisiert. Und das wird vom Staat ohne Weiteres geduldet. Ich habe auch ein paar Artikel darüber im Internet veröffentlicht, woraufhin uns die Minengesellschaft wegen Beleidigung vor Gericht gebracht hat. Die Verhandlung haben wir gewonnen. Ich habe das Gefühl, dass Russland viel mehr Rechtsstaat ist, als wir uns das in Deutschland vorstellen. Allerdings steckt bei den älteren Leuten noch viel vom alten Sowjet-Denken in den Köpfen. Ich setze große Hoffnungen auf die neue Generation. Die wollen einen anderen Takt. Die Mehrheit jedenfalls.“
Kooperation ist attraktiver als Konfrontation!
Doch die meisten Aktivitäten von Stefan und Olga sind im allerbesten Sinne ‚unpolitisch‘. Will sagen: Sie sind natürlich hochpolitisch, weil sie in einer Zeit erneuter Spannungen durch Kennenlernen, Freundschaften, gemeinsame Projekte, kurz: durch die subversive Kraft der – sprechen wir das Wort ruhig aus! – Liebe, die Konstruktion neuer Feindbilder unterlaufen. Semken und seine Frau vermitteln Russen und Deutschen gleichermaßen, dass Kooperation attraktiver ist als Konfrontation. Und damit rennen sie offene Türen ein. Schließlich macht es ja auch den meisten Menschen aller Länder mehr Spass, neugierig aufeinander zu werden, sich zu beschnuppern, zusammen etwas auf die Beine zu stellen, sich anzufreunden, vielleicht gar zu heiraten – als sich gegenseitig totzuschießen und nebenbei auch noch einen verwüsteten Planeten zu hinterlassen!
Und so bleibt natürlich auch die Auseinandersetzung mit einem – dem einen – Thema nicht aus: dem deutschen Vernichtungskrieg in der Sowjetunion, der fast 27 Millionen Sowjetbürgern das Leben kostete. Semken rekonstruiert die Kriegsroute seines Großvaters, der als Wehrmachtssoldat in Witebsk fiel. Und dann deutet der Bremer den hanseatischen Wahlspruch „Seefahren muss man, leben nicht!“ für sich folgendermaßen um: „Versöhnen muss man, leben nicht!“ 2015 hat er in der Uralregion so viel Vertrauen erworben, dass er – nach einer Prüfung durch den FSB – am 9. Mai als einziger Deutscher öffentlich und landesweit auf gleich zwei Paraden zu den russischen Bürgern und Veteranen sprechen darf.
Und für den 9. Mai 2020, den 75. Jahrestag des Kriegsendes, des mit so gewaltigen Opfern bezahlten Sieges über Hitler-Deutschland lässt sich Stefan Semken eine ganz besondere Aktion einfallen: Er organisiert zusammen mit Freunden eine große Motorradfahrt zu sage und schreibe 45 Städten in Belarus, Russland und Kirgistan, wo, angelehnt an die russische Trauerkultur, an den Denkmälern für die Opfer des Großen Vaterländischen Krieges Kränze niedergelegt werden sollen. Die Kränze sollen mit Schleifen verziert sein, „auf denen“ – so heißt es in seinem Aufruf an mögliche Sponsoren – „sich Personen, Städte, Vereine oder Firmen der Täterfolgegeneration zum Frieden bekennen. Durch uns soll Ihnen die einmalige Möglichkeit gegeben werden, zum 9. Mai 2020 in 45 Städten Russlands und Weißrusslands der ansässigen Bevölkerung vor Ort Ihre Anteilnahme auszudrücken.“ Der Aufruf endet herzzerreißend: „Wir würden uns freuen, wenn Sie unsere Idee unterstützen. Im Gegenzug garantieren wir, daß die Tour professionell, unpolitisch [fettgedruckt!] und in Demut durchgeführt wird.“
Ein Parforcetrip: 21 Städte in 15 Tagen
Corona macht dieser Aktion einen Strich durch die Rechnung. Aber Semken lässt sich auch von dem Virus nicht unterkriegen. Ende Mai schafft er es auf abenteuerlichen Wegen von Bremen mit seinem Wagen ins coronaisolierte Russland, wo er in seinem Haus im zweitheimatlichen Ural erst einmal eine vierzehntägige Quarantäne absolvieren muss.
Und weil nun niemand mehr aus Deutschland raus und nach Russland rein kann, startet Semken seine Aktion eben auf eigene Faust. Am 18. Juni bricht er in seinem VW-Kleinbus von Bingi aus auf. Es ist ein Parforcetrip, der ihn innerhalb eines halben Monats in einem Riesenbogen in nicht weniger als 21 Städte – hauptsächlich im Westen – Russlands bringen wird. Jekaterinburg, Ufa, Samara, Saratow, Wolgograd, Woronesch, Kursk, Tula, Wladimir, Susdal, Nischnij Nowgorod, Kasan und Perm stehen unter anderem auf dem Programm. Überall legt Semken Kränze nieder, überall berichten die lokalen Medien über diese ungewöhnliche Aktion. Semken selbst beschreibt auf seiner Website ausführlich jede besuchte Stadt und postet Fotos von seinen Kranzniederlegungen. Rund 5.000 Kilometer legt er in 15 Tagen alleine zurück. Am 3. Juli ist er wieder zuhause in Bingi.
Ein Anruf im Januar und eine Entdeckung im Juli
Persönlich habe ich Stefan Semken leider nicht kennengelernt. Aber wir hatten seit Anfang des Jahres ganz sporadischen Kontakt. Am 25. Januar, einem Samstagvormittag, rief er mich von Bremen aus an. Ich weiß nicht mehr, wie er auf mich aufmerksam geworden war. Er erzählte mir von seiner geplanten Friedensfahrt zum 9. Mai und ich war sofort begeistert. Keine Frage, dass ich auch ein Sponsoring für diese Tour übernahm.
Mitte Mai erhielt ich dann eine Mail von ihm mit einer Einladung, in Jekaterinburg regelmäßig journalistische Workshops durchzuführen – eine Einladung, die ich sehr gerne annahm. Umgekehrt schickte ich ihm immer wieder Links zu meinen Veröffentlichungen, die sich ja fast alle um die deutsch-russischen Beziehungen drehen.
So auch zuletzt am 24. Juli via Facebook-Messenger. Wenige Minuten später sah ich, dass die Nachricht geöffnet worden war. Einen Tag danach, vorletzten Samstag, geriet ich morgens aus Zufall – wohin ich mich normalerweise fast nie verirre – auf die Startseite von Facebook, dort, wo man sehen kann, was alle FB-Freunde gerade gepostet haben. Und traute meinen Augen nicht! Ein Foto von einer – wie ich erst sehr langsam verstand – Trauerfeier im Jekateriner Krematorium. In der Mitte das trauerumflorte Porträt von Stefan Semken.
Stefan Semken war am 19. Juli in der Intensivstation eines Jekateriner Krankenhauses verstorben. Wie ich nach einigen Recherchen im Netz erfuhr, war bei ihm acht Tage zuvor Darmkrebs diagnostiziert worden.
Der Schock saß tief. Mehrere Tage lang musste ich mit den Tränen kämpfen. Vor allem, nachdem ich – shame on me!! – bei dieser Gelegenheit erstmals im Netz die zahlreichen Aktivitäten Semkens genauer studiert hatte und mir bewusst geworden war, welch ein Juwel damit von uns gegangen ist.
Wenn sich die Liebe zwischen zwei Menschen zur Liebe zwischen den Völkern weitet …
Stefan Semken ist tot. Er starb zwei Wochen nach seiner 5.000-Kilometer-Tour, in der er so eindringlich um Versöhnung und Freundschaft zwischen Russen und Deutschen geworben hatte. Die Anteilnahme in Russland war groß. Die lokalen Medien berichteten noch am selben Tage und ausführlich über ihren, wie sie ihn liebevoll nennen, „Uraldeutschen“.
Menschen wie er gehen immer zu früh. Aber dass dies schon mit 60 Jahren geschehen musste und ausgerechnet in dieser Zeit erneuter geopolitischer Spannungen, wo nichts wichtiger ist, als wenigstens noch die direkten menschlichen Kontakte zwischen Russen und Deutschen zu halten, nein: auszubauen – das ist bitter!
Der Deutsche Stefan Semken und seine russische Frau Olga haben exemplarisch gezeigt, was einzelne Menschen auf die Beine stellen können, wenn sie ihre persönliche Liebe zueinander zur Liebe zwischen beiden Völkern weiten. Wir brauchen so viele dieser Menschen! Jetzt in dieser neuen Eiszeit, wo wieder aufgerüstet wird, wo führende Politikerinnen uns weismachen wollen, Russland verstehe nur die „Sprache der Stärke“, wo 75 Jahre nach Hiroshima Atomwaffen wieder salonfähig werden.
Ich bedauere es unendlich, Stefan Semken nicht persönlich kennengelernt zu haben. Nun liegt es an uns, gute Erben zu sein.
^*^Dieser Text erschien zuerst bei RT Deutsch.