Alles Plastik: von Polyethylenterephthalat und Polypropylen in Russland

Der Kunststoffsektor in Russland verbreitet für 2011 Optimismus

Der Sommer 2010 wird in Russland noch lange in Erinnerung bleiben. Unerträgliche Hitze, Smog und Waldbrände versetzten viele Regionen Russlands in einen Ausnahmezustand. Doch einen Gewinner – so absurd das klingen mag – hatte die Dauerhitze: Polyethylenterephthalat, besser bekannt als PET. Denn aufgrund der hohen Temperaturen stieg in Russland der Konsum an kalten Getränken rapide. Und so auch die Nachfrage nach Polyethylenterephthalat, dem Kunstoff zur Herstellung der Plastikflaschen. Um satte 14% vergrößerte sich das Marktvolumen 2010 in diesem Segment. Doch ist dies auch Indiz dafür, dass sich die Kunstoffbranche in Russland nach der Wirtschaftskrise und enormen Auftragseinbrüchen wieder im Aufschwung befindet?

Branchenkenner sprechen bereits von einer deutlich spürbaren Dynamik, die auch die Auftragsbücher deutscher Produzenten füllt. Um 41% stiegen die Maschinenexporte für Kunststoffherstellung aus der Bundesrepublik allein im dritten Quartal 2010. Diesen Trend spiegelte jüngst die große Teilnehmeranzahl deutscher Firmen auf der Messe Interplastica 2011 in Moskau wider. Mit neuen Aufträgen kehrte auch die Extrunet GmbH aus Kremsmünster zurück. „Viele Kontakte sind auf der Interplastica entstanden“, so Michael Mühlgrabner, Geschäftsführer der Firma. Obgleich sich der Kunstoffmarkt in Russland merklich mühsamer als in den Schwellenländern Indien und Brasilien zurück auf das Vorkrisenniveau arbeitet, verbreitet die Branche Optimismus.

Große Potentiale seien besonders in der Folienproduktion zu identifizieren. Besonders lineares Polyethen geringer Dichte, geeignet für die Verpackung von Lebensmitteln, hat in den letzten Jahren einen Aufschwung erfahren. Die vom russischen Präsidenten Medvedev vorangetriebene Modernisierung und der Nachholbedarf im Bereich Energieeffizienz haben zudem den PVC-Sektor stimuliert. Diverse Gesetzesinitiativen in diesem Bereich, beispielsweise die Etablierung von Standards für die Dämmung von Fenstern, könnten noch weitere Impulse verleihen. Kritisch bleibt jedoch zu beobachten, inwiefern dieser Trend auch von privater Nachfrage gestützt wird.

Dass die Wachstumschancen des Kunststoffmarktes in Russland als positiv angesehen werden, ist an sich keine Neuigkeit. Denn: Durch seinen Ressourcenreichtum kann Russland viele Zwischenprodukte zur Kunststoffherstellung – besonders von Standard-Kunststoffe wie Polyethylen, PVC oder Polypropylen – preiswert herstellen. Dieser internationale Wettbewerbsvorteil resultiert aber nicht in einem zunehmenden Export. Im Gegenteil: Nicht einmal der Eigenbedarf des russischen Marktes kann bedient werden. In der PET-Herstellung beispielsweise wird fast die Hälfte der russischen Nachfrage durch Importe bedient. Die russischen Firmen Sibur-PET, Polyef, SNP Senesch und Alko-Nafta kommen für die andere Hälfte auf. Kleinere Plastikweiterverarbeiter existieren kaum und haben sonst große Probleme die Rohstoffe für die Produktion zu normalen Konditionen zu erhalten, weshalb die Importquote weiter zunimmt.

Doch die Situation könnte sich schon bald ändern. In den nächsten vier Jahren sollen große Fabrik-Projekte von Lukoil und Gazpromneft dafür sorgen, dass bis 2015 erstmals mehr produziert werden könnte, als inländische Nachfrage bestehe. Sibur PET plant zudem mit Gazpromneft ein Joint Venture im Bereich PET-Herstellung, das weitere Engpässe beheben könnte. Es herrscht also viel Bewegung auf dem russischen Kunststoffmarkt.

Was Marktchancen für deutsche Unternehmen angeht, bietet der Kunstoffsektor in Russland generell zwei beliebte Optionen: den Vertrieb von Hightech-Kunststoffen „made in Germany“ oder den Export von Maschinen zur Kunstoffherstellung- und Weiterverarbeitung. Den ersten Weg hat die Lanxess AG eingeschlagen, die primär mit Premiumkunststoffen den Markt in Russland bedienen möchte und hier große Marktchancen sieht. Einen weitaus größeren Anteil am deutschen Russlandgeschäft hat jedoch der traditionell starke Maschinenbau. Firmen wie die Wittmann Battenfeld GmbH liefern ihre Maschinen in die russischen Regionen, um dort beim überfälligen Modernisierungsprozess vieler Fabriken ein zuverlässiger Partner zu sein. Geschäftsführer Georg Tinschert betont, dass es hierbei besonders auf das Know-How ankommt: „Wir haben ein neues Kontrollsystem entwickelt mit dem unsere Kunden rund um die Uhr Unterstützung in russischer Sprache anfordern können, falls die Maschinen nicht funktionieren.“ Im Kunstoffsektor ist eine Präsenz in den Regionen ohnehin von ungemeiner Bedeutung: Das Wolgagebiet und die Uralgegend sind Zentren der Kunststoffindustrie, ebenso wie Nischnij Nowgorod und die Tobolsk Region. Oder auch die Stawropol-Region im Süden Russlands: Hier soll bald ein neues Kunstoff-Cluster entstehen.

Der Kunststoff- und Gummisektor in Russland stabilisiert sich langsam. Neben der Sparte „Verpackung“ werden zunehmen auch die Sektoren Automobil/Mobilität und Konsumgüter interessant. Dies unterstreichen folgende Beispiele: Die Bayer MaterialScience hat erst kürzlich ihre Aktivität in Russland signifikant verstärkt und Freudenberg Politex will 2012 seine Kapazitäten erweitern. Dennoch: Auf einen Sommer mit Dauerhitze hofft in der Branche niemand.

 

Autor: Niels Reinhard | RUFIL CONSULTING | Buchhaltung & Geschäftsaufbau in Russland für Ostexperte – Business in Russland | Expertentipps für Ihr Russlandgeschäft.

Dieser Artikel wurde im Mitgliedermagazin “Impuls” der AHK Russland, Ausgabe 02/2011, veröffentlicht.

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